Simone Scharbert: „Rosa in Grau“
© Voland & Quist
Zarter Psychiatrieroman
06:01 Minuten
Simone Scharbert
Rosa in GrauEdition Azur, Dresden 2022184 Seiten
22,00 Euro
Eine junge Mutter wird in den 1950er-Jahren in die Psychiatrie eingewiesen – auf unbestimmte Zeit. Ähnlich wie der Romanfigur ergeht es vielen realen Frauen in der Nachkriegs-BRD. Was in den Anstalten passierte, ist bis heute ein dunkles Kapitel.
Die namenlose junge Frau ist sich nicht sicher: Handelt es sich bei dem kleinen Mädchen wirklich um ihre Tochter? Hat sie nicht mehr als ein Kind? Richtig erinnern kann sie sich nicht. Sie weiß aber: Rosa heißt die Kleine, die auch Teil ihres Nachkriegsalltags in der geschlossenen Psychiatrie ist. Schizophrenie lautet ihre Diagnose.
Für sie selbst bedeutet es vor allem, dass sich Realität und die eigene Wahrnehmung ineinander auflösen. So taucht Rosa immer wieder auf, – dabei ist sie keine Patientin der Psychiatrie und real nicht anwesend –, unterhält sich mit ihr, möchte, dass die Mutter Buchstaben und Dinge malt. Dann verschwindet sie wieder und überlässt die junge Frau sich selbst: „Ich male das Jetzt, das ist besonders schwer, weil es so flüchtig ist (…). Ich male mich, ein Loch, eine Lücke, eine Leerstelle.“
"Frau Inland" fasert aus
Für sich selbst hat die Frau keinen Namen mehr, gibt sich aber einen neuen: „Frau Inland“ nach dem Bild ihres Mitpatienten und Freund Eugen, der sie gemalt hat: „Ich entdecke mich selbst auf seinem Bild, weiß sofort, dass ich das bin, sehe mich als zähes Stück Fleisch, rosafarben, mein Entsetzen, wie ich aus dem Bild rausglotze, wie ich in Farbe ausfasere, vom Getupften ins Gewischte, wie ein Rauch aus meinem Hirn steigt.“
Bei diesem Eugen handelt es sich um den realen Künstler und Biologen Eugène Gabritschesvky, der ebenfalls als schizophren galt und den Großteil seines Lebens in der geschlossenen Psychiatrie verbrachte, bis er 1979 verstarb.
Nach historischen Vorlagen
Auch die „Anstalt“, wie „Frau Inland“ ihre neue Umgebung nennt, hat real-historische Vorlagen, wie die Psychiatrie Haar-Eglfing bei München. Unter den Nazis fungierte sie als sogenanntes Hungerhaus. Menschen, die nach nationalsozialistischer Ideologie als wertlos galten, wurden dort eingesperrt und verhungerten. Zurück gehen diese Häuser auf den Psychiater und Neurologen Hermann Pfannmüller, ein glühender Nazi und Sadist, Verfechter der Euthanasie bei Kindern wie Erwachsenen. In seinen Anstalten starben Hunderte Menschen.
Die Nazi-Zeit mag vorbei sein, frei sind die überwiegend weiblichen Patienten im Roman nicht. Therapien werden an ihnen ausprobiert, ohne ihr Einverständnis. Manchmal verschwindet eine von ihnen und kommt nicht wieder.
Kunst als Ausweg
Es ist ein inhaltlich harter und literarisch zarter Roman, den Simone Scharbert geschrieben hat. Ein sprachlich dichter Text, der es auf intensive Weise schafft, die verschwimmenden Vorstellungswelten dieser jungen Frau erfahrbar zu machen. Zugleich schafft die Autorin mit diesem Buch Sichtbarkeit für viele verschwundene und vergessene Menschen, die durch diese Anstalten durchgeschleust, gefoltert und ermordet wurden.
Wie Scharbert reale Orte und Biografien in ihren Roman verwebt, unterstreicht diese Sichtbarmachung sowie die Rolle der Kunst: Im Nachwort sowie im Anhang geht Simone Scharbert auf verschiedene Kunstwerke des Museums „Sammlung Prinzhorn“ für historische Werke aus psychiatrischen Anstalten in Heidelberg ein, die auch im Roman eine Rolle spielen. Sie zeigt, wie (überlebens-)wichtig Kunst für die Schaffenden und die Rezipierenden sein kann.
Denn Kunst berührt und bringt Schönheit an einen Ort, der so trostlos und grausam ist wie die „Anstalt“ von „Frau Inland“. Nicht zuletzt sind diese Werke auch Zeugnisse aus einem sehr dunklen Kapitel der BRD, das nach wie vor zu wenig aufgearbeitet ist. So ist auch dieser Roman selbst ein kunstfertiges Zeugnis gegen das Vergessen, gegen das Verdrängen und gibt Menschen eine Stimme, die keine haben sollten.