Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt, und die neunzehn oder zwanzig Monate, die ich dort verbrachte, haben ein soziales Wesen aus mir gemacht, die ich vorher in mich versponnen, abgeschottet, verklemmt und vielleicht auch unansprechbar geworden war. In Wien hatte ich Ticks, Symptome von Zwangsneurosen, die überwand ich in Theresienstadt, durch Kontakte, Freundschaften und Gespräche.
Ruth Klüger: "Weiter leben"
© Wallstein Verlag
Unbedingter Lebenswille
06:56 Minuten
Ruth Klüger, mit mp3-Hörbuch, gelesen von der Autorin
Weiter leben. Eine JugendWallstein Verlag, Göttingen 2008286 Seiten
14,90 Euro
Als Kind jüdischer Eltern überlebte Ruth Klüger Theresienstadt und Auschwitz. Ende der 1940er wanderte sie in die USA aus, wurde Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Ihre Erinnerungen sind eindrückliches Zeugnis unbedingten Lebenswillens.
Als dem Mädchen Ruth im Sommer 1944 in Auschwitz eine Häftlingsnummer auf den Arm tätowiert wird, hat es eine Eingebung. Es wird der Zwölfjährigen plötzlich bewusst, dass sie gerade etwas Außerordentliches erlebt, etwas, worüber sie vielleicht eines Tages ein Buch schreiben könnte mit dem Titel „Hundert Tage im KZ“.
Ihre Erinnerungen „Weiter leben. Eine Jugend“, die Ruth Klüger fast ein halbes Jahrhundert nach diesem Erlebnis tatsächlich notiert, zeugen nicht nur in dieser Szene von ihrem unbedingten Lebensdrang. Auch noch am seinerzeit wohl grauenhaftesten Ort der Welt siegt die Neugier über die Angst:
"Hier war etwas Neues, Verblüffendes, diese Nummer, die im Kind nicht so sehr Schrecken auslöste wie eine gesteigerte Verwunderung darüber, was es alles gab, zwischen uns und den Nazis. Und tatsächlich gelang es mir, in den Intervallen zwischen den Anfällen von Angstzuständen, am Massenmord zu zweifeln, einfach durch den Lebenswillen einer Halbwüchsigen. Ich würde hier nicht umkommen, ich bestimmt nicht."
“Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt“
Geboren 1931 in Wien, sind Ruth Klüger nur wenige Jahre einer halbwegs frohen Kindheit gegönnt. Schon das Lesen bringt sie sich mit judenfeindlichen Schildern bei und muss sich heimlich ins Kino schleichen, das sie offiziell nicht mehr betreten darf. Ihr Vater, ein renommierter Frauenarzt, flieht nach Frankreich, doch entgeht der Verfolgung nicht, er stirbt in den Gaskammern von Auschwitz.
Als eines der letzten jüdischen Kinder in Wien wird Ruth Klüger 1942 gemeinsam mit der Mutter erst ins Getto Theresienstadt und später ebenfalls nach Auschwitz abtransportiert.
Es liegt eine große Kraft in ihren Aufzeichnungen, dass die Schriftstellerin die gängigen Bilder des Grauens immer wieder bricht und statt der erwartbaren Opferhaltung eigensinnige und selbstbewusste Ansichten äußert. So beschreibt sie zwar die katastrophalen Zustände in Theresienstadt, bemerkt aber auch:
Der Wert der Freiheit
Dass es alles ganz anders hätte kommen können, ist Ruth Klüger zu jeder Zeit bewusst. Einmal schreibt sie, jeder Überlebende habe seinen ‚Zufall‘ und dass sie ihren Zufall einer jüdischen Schreiberin in Auschwitz zu verdanken habe. Die hatte sie auf einen Transport ins Arbeitslager Christianstadt geschmuggelt, obwohl sie mit dreizehn Jahren eigentlich zu jung dafür war.
Am Beispiel dieser mutigen Frau beschäftigt sich Ruth Klüger mit dem Wert der Freiheit, der weit höher ist als wir, die wir daran gewöhnt sind, glauben möchten:
"Und deshalb meine ich, es kann die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft und in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeiten auf fast null reduziert sind. In dem winzigen Spielraum, der dann noch bleibt, dort, kurz vor null, ist die Freiheit.“
“Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung“
Es ist sicher dem Abstand zwischen den Erlebnissen und der Niederschrift der Erinnerungen geschuldet, dass Ruth Klüger sehr reflektiert auf ihre Biografie schaut und zugleich die Jahrzehnte der mehr oder weniger geglückten Aufarbeitung des Holocaust kommentieren kann.
Wobei ihr ganz offensichtlich jedes Pathos und jede Musealisierung zuwider sind. Auch die Bemerkungen einiger Deutscher ihr gegenüber, sie könnten sich leider nicht in die Opfer des Holocaust hineinversetzen, hält sie für bequem und wendet sich direkt an ihre Leserinnen und Leser:
"Ihr müsst euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut; und wenn ich euch ‚artfremd‘ erscheine, so will ich auch das hinnehmen (aber ungern), und, falls ich euch durch den Gebrauch dieses bösen Wortes geärgert habe, mich dafür entschuldigen. Aber lasst euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das geht euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten, von euch im Voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abgegrenzten Rahmens an, ihr hättet ja schon die Fotografien mit den Leichenhaufen ausgestanden, und euer Pensum an Mitschuld und Mitleid absolviert. Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung."
Wertvolles Zeugnis der Zeit
Auf die Kapitel über ihre Wiener Kindheit und die Erlebnisse in Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt lässt Ruth Klüger Erinnerungen an die ersten Jahre in Freiheit folgen. Die verbringt sie in Bayern, später in New York, wo Mutter und Tochter sich an einem halbwegs normalen Leben versuchen.
Ende der 1980er-Jahre wird Ruth Klüger, die in den USA mittlerweile eine renommierte Germanistin geworden ist, eingeladen, an der Universität Göttingen zu unterrichten. Nach einem schweren Unfall, der, wie sie schreibt, ihre Gedanken herumgewirbelt hat, beginnt sie zu schreiben und widmet ihr Buch den neu gewonnenen deutschen Freunden.
1992 wird „Weiter leben. Eine Jugend“ ein Bestseller und macht die Autorin schlagartig bekannt. Doch auch dreißig Jahre später hat das berührende und aufrüttelnde Buch nichts von seiner Eindrücklichkeit verloren. Im Gegenteil, gerade im Zuge von aktuellen Diskussionen darüber, ob sich die Verbrechen der Nationalsozialisten mit anderen Formen des Völkermords vergleichen lassen, sind Ruth Klügers Erinnerungen ein wertvolles Zeugnis der Einzigartigkeit des Holocaust.