Simon Strauß über seine "Römische Tage"

Fluchtpunkt Rom

10:28 Minuten
Simon Strauß im hellblauen Hemd schaut in die Ferne.
Der Autor Simon Strauß sagt, man kann sich mit Rom nicht beschäftigen, ohne an den Untergang zu denken. © Klett-Cotta / Musacchio / lanniello / Pasqualini
Simon Strauß im Gespräch mit Joachim Scholl · 12.07.2019
Audio herunterladen
In "Römische Tage" schreibt Simon Strauß über einen Mann auf der Flucht vor sich selbst, der in Rom seinen Sehnsuchtsort findet. Simon war zwei Monate in Rom und sagt, dass er das Buch nur schreiben konnte, weil er nicht in seinem deutschen Alltag war.
Joachim Scholl: "Römische Tage", so heißt das neue Buch von Simon Strauß. Dieser ist 31 Jahre alt, wir lesen seine journalistischen Texte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", da ist er nämlich der Mann für das Theater. Als Romancier hat er vor zwei Jahren mit seinem Debüt "Sieben Nächte" für Furore gesorgt, jetzt aber "Römische Tage".
Ein junger Mann aus Deutschland reist nach Rom, 231 Jahre und acht Monate nach Goethe und dessen berühmter Italienflucht anno 1786, das wird zu Beginn gleich exakt ausgerechnet. Da klingt natürlich schon der erste größte Kulturton an. Ist da ein Goethe-Nachfahr unterwegs?
Simon Strauß: Nein, absolut nicht, aber es ist natürlich einer, der weiß, auf welche Spuren er sich zwangsläufig begibt, wenn er in diese Stadt geht. Man kann das nicht ausklammern, man kann die Tradition der großen Rom-Überschreibungen – das sind ja immer alles Überschreibungen, Projektionen – nicht ausklammern, aber es geht in keiner Hinsicht darum, dass sich das Buch oder der Erzähler im weitesten Sinne mit Goethe einzieht oder mit Goethe beschäftigt. Es ist einfach nur die Referenz, die auch mit einem leichten zwinkernden Auge gemacht ist.

Ein Held auf der Flucht

Scholl: Wer ist denn dieser Held, wie würden Sie ihn selbst charakterisieren?
Strauß: Das ist schon einer, der flieht, das ist richtig. Der flieht vor sozusagen einer gewissen Schwere, die alle möglichen Themen und Ängste sozusagen belegt, da, wo er herkommt. Er flieht in diese Stadt und ist am Anfang sehr, sehr eingeengt, fühlt sich noch sehr eingeengt, und je länger er in dieser Stadt ist, desto weiter sozusagen wird alles, desto weiter wird sein Bewusstsein, desto sensibler und genauer ist er in der Wahrnehmung, und desto mutiger wird er auch in der Art und Weise wie er über die Fragen nachdenkt, die zu Hause sehr schwer sind – Tod, Liebe, Krankheit – die aber in der Stadt eine ganz gewisse Form von Leichtigkeit besitzen.
Scholl: Und eine Frau taucht irgendwann verheißungsvoll auf, oh Faustina, denkt der Goethe-Kenner, die schöne Römerin, die ihn damals richtig zum Mann gemacht hat, aber dieses Glück einer Faustina, die gönnen Sie Ihrem Helden nicht. Mehr als ein bisschen Halsküssen gibt es nicht. Da waren Sie streng.
Strauß: Na ja, aber es ist vielleicht auch das viel Schönere. Ich würde immer sagen, die Erotik ist ja immer das eigentlich Interessantere als der Vollzug. Das ist hier auch so. Diese Figur, diese Frau, die repräsentiert natürlich in einer gewissen Weise die Sehnsucht nach der Stadt, nach dem Italienischen, nach dem Südlichen, nach der Leidenschaft, aber immer wenn diese Sehnsucht erfüllt würde, dann wäre es am Ende ganz deutsch wieder.
Scholl: Aber Sie wissen auch, dass Goethe als ganz anderer Mann aus Rom zurückkehrte. Das hat die Weltliteratur beeinflusst. Sie waren natürlich auch für diesen Roman selbst da.
Hier sollte man auch den promovierten Historiker Simon Strauß ins Spiel bringen, Spezialgebiet römische Antike, im letzten Wintersemester haben Sie an der Tübinger Uni sogar ein Seminar zum Thema gegeben. Ich habe mir vorgestellt, wie geht denn ein Mann wie Sie durch dieses Rom von heute?
Strauß: Viel befreiter und sozusagen offener, glaube ich, als wenn man sich gar nicht mit der Geschichte wissenschaftlich mal beschäftigt hat, weil ich hatte das Gefühl, ich habe wirklich lange Zeit mich intensiv akademisch beschäftigt mit dem Thema der römischen Antike und hatte dann, als ich da war aber, also das erste Mal wirklich für längere Zeit in der Stadt mich aufgehalten hatte, gar nicht mehr das Bedürfnis, mich irgendwie wissenschaftlich oder gar intellektuell in so einem Sinne von kritischer nachweisender Betrachtung oder so mit der Stadt zu beschäftigen, sondern ich hatte eher dieses unglaubliche Gefühl der Freiheit und der Wahrnehmungsmöglichkeit, die es dort gab, und der Empfindungsmöglichkeit. Also das war für mich schon ein großes Gefühl der Freiheit.

Die Sogkraft von Rom

Scholl: Im Buch mischen Sie aber so dieses ganz alte Verfallene der antiken Monumente und Trümmer so mit dem modernen Verfall auch von Touristenflut, dem allgegenwärtigen Müll auf den Straßen.War das auch so die Stimmung, wie Sie sie selbst erlebt haben?
Strauß: Ja, ich meine, man kann in dieser Stadt natürlich nicht sein ohne immer irgendwie an Untergang zu denken, das ist klar. Das ist in der Stadt drin diese Vorstellung davon, dass etwas zu Ende geht, und gleichzeitig gibt es immer die Dialektik, die Paradoxie, dass ja doch immer alles auch weiterlebt. Also Rom ist immer untergegangen und trotzdem lebt es immer noch weiter.
Auch heute noch hat es eine unglaubliche Sogkraft, und es ist auch nach wie vor ein tief inspirierender Ort. Ich würde sagen, es ist gerade heute interessant, weil es der Gegenort ist zu so etwas wie, sagen wir, dem Silicon Valley oder so, also der aktuellen reinen fortschrittsorientierten technologisch-ökonomischen Ausprägung von Stadt. Das ist Rom eben nicht.
Blick auf Rom mit Colosseum.
Eine Stadt mit großer Sogkraft: Rom.© imago images / Westend61
Scholl: Und es ist eine große EU-Stadt immer gewesen. Sie engagieren sich ja auch in dem Verein, den Sie mitbegründet haben, "Arbeit an Europa" nennt er sich, und momentan ist in Italien ja ein ganz scharfer antieuropäischer Kurs zu spüren, verkörpert auch durch diesen ultrakonservativen Innenminister Salvini. Hat Sie dieses Gefühl auch durch die Stadt begleitet?
Strauß: Unbedingt. Also sehr, sehr stark hat man das Gefühl, dass man an Europa arbeiten muss, wenn man in Italien und vor allem auch in Rom ist, die unglaubliche Zukunftsungleichheit, Ungerechtigkeit, die es gerade in meiner Generation in Europa gibt. Die vielen jungen Italienerinnen und Italiener, mit denen ich mich während meines Aufenthalts da getroffen habe, mit denen ich immer wieder geredet habe, auch über Europa, und gemerkt habe, dass sozusagen diese euphorisch, rein positiv besetzte Wahrnehmung, die ich von Europa habe als junger Deutscher, dort in schwere Fahrwasser geraten ist und sehr angezweifelt wird.
Aber gleichzeitig darf man trotz dieser zum Teil wirklich wahnsinnigen politischen Führungen nicht das Land und die Bürger dieses Landes gleich mit verabschieden, sondern da muss man wirklich drum kämpfen, und man muss sich wirklich vor allem – und dafür ist Rom der richtige Ort – über die kulturellen Dimensionen Europas unterhalten, weil die nämlich verbindender sein können als die politischen und ökonomischen.

Der Glaube an die EU

Scholl: An einer Stelle hält er ein flammendes Plädoyer für Europa, kann man es schon nennen, und dann sagt er allerdings auch, Europa sei ein Sanatorium für betrogene Herzen. Sind Sie da auch Patient?
Strauß: Ja, ich meine, das Leiden auch an der Situation im Moment ist ja keine Frage, dass wir alle da in gewisser Weise Patienten sind. Nur auf der anderen Seite würde ich immer sagen, man darf nicht den Fehler machen, die Europäische Union, also die jetzt in die Krise geratene Institution, eins zu eins zu setzen mit den europäischen Gedanken. Ich würde eher sagen, die Europäische Union ist so etwas wie die Kirche des Glaubens, also es gibt ja den Glauben an die Kirche, und so gibt es die Europäische Union, und so gibt es Europa.
Man muss diese Institutionen auf jeden Fall stärken, und man muss hinter ihnen stehen, und trotzdem muss man wissen, dass das, worum es eigentlich geht, nämlich der europäische Gedanke und das europäische Zusammenhalten durchaus auch in anderer Weise zu beschreiben und zu besprechen ist und gerade durch eine Begegnung der kulturellen Vielfalt zu erlangen. Und in der Hinsicht Sanatorium für betrogene Herzen, weil man muss immer das Gefühl haben, dass man noch etwas dazulernen kann, dass man sich etwas stärken kann durch die Begegnungen in anderen Ländern und das Herz dadurch weiter macht.

Streit im Feuilleton

Scholl: Ich habe vorhin Ihren ersten Roman "Sieben Nächte" erwähnt und dass er schwer Furore gemacht hat, und ein Furor war es tatsächlich. Im deutschen Feuilleton haben die Kritiker die Klingen gekreuzt. Die eine Seite warf dem Text eine Art politisch reaktionäre Romantik vor, und Sie wurden dann so in die rechtskonservative Ecke gestellt, andere Kritiker sagten darauf, ja, geht es noch, habt ihr sie noch alle.
Ich habe jetzt dieses Buch auch durchaus mit diesem Hintergrund mitgelesen und habe mich gefragt, ob sich dieser Streit eigentlich bei Ihnen ausgewirkt hat auf dieses neue Buch, vielleicht so ein bisschen auf die Seele dieses neuen Textes gelegt hat?
Strauß: Ja, das kann durchaus sein. Das werden Sie besser beurteilen können als ich. Für mich, muss ich sagen, im Rückblick war das durchaus, wie soll ich sagen, eine herausfordernde Angelegenheit, wenn ich jetzt drauf zurückschaue. Da war natürlich viel Ressentiment und auch viel Bösartigkeit sicherlich dabei, aber es gab natürlich auch interessante Punkte bei den Kritiken daran, und natürlich habe ich mich auch in der Zeit, als ich in Rom war, noch mal intensiver beschäftigt mit, sagen wir mal, einem der Hauptvorwürfe, nämlich dem des pathetischen Schreibens, des neoromantischen Schreibens, dass das irgendwie eine Gefährlichkeit an sich habe, weil man abrutschen könnte in rechtes Gedankengut oder rechtes Fahrwasser. Also ganz ohne Herausforderung und auch ohne Gewinn war die Debatte für mich nicht.
Ich habe nur auf der anderen Seite ehrlicherweise schon das Gefühl, dass ich dieses Buch, also die "Römischen Tage" jetzt, schon nur deswegen schreiben konnte, weil ich auch nicht in Deutschland und nicht in meinem sonstigen Zusammenhang war. In dieser Hinsicht vielleicht in der Tat doch auch wieder dieses Fluchtmotiv in der Stadt Rom, wo ich alleine diese zwei Monate wirklich war, habe ich eine unglaubliche Freiheit und Zuneigung gespürt von dem, was da mich umgeben hat, und alles andere, was vorher war, war dann etwas in den Hintergrund geraten.

Rom als Heilanstalt

Scholl: Ihr Held begreift Rom direkt als Heilanstalt und fühlt sich auch geheilt nach seinem Besuch, und er weiß, er wird wiederkommen, immer wieder, immer wieder. Sie auch?
Strauß: Unbedingt. Das ist einfach eine der großartigsten Städte überhaupt, weil sie mehr ist als eine Stadt. Sie ist eine großartige Metapher, sie verkörpert das, was eigentlich das Interessanteste überhaupt ist im Leben, nämlich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es gibt nicht das eine Rom, es gibt nicht die Klarheit, es gibt nicht eine eindeutige Entwicklung, sondern es ist immer alles miteinander gemischt.
Wie Freud das mal gesagt hat: Diese Stadt ist ein Lebewesen, das immer alle Entwicklungsstufen gleichzeitig in sich trägt, ist immer junge Frau und alter Mann, hat immer Zahnschmerzen und ist dement. Das ist wahnsinnig eindrucksvoll, wenn man dort ist, und inspirierend, und die Fantasie, die man davon ableiten kann, ist einfach großartig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Simon Strauß: "Römische Tage"
Tropen Verlag, Stuttgart 2019
142 Seiten, 18 Euro

Mehr zum Thema