Orte, Häuser, Feiertage

Europa braucht Rituale

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Pro Europa-Großdemonstration des Bündnis "Ein Europa für Alle - Deine Stimme gegen Nationalismus" im Mai 2019 in Stuttgart in Baden-Württemberg
Das Bekenntnis zu Europa braucht Orte, Häuser, Liturgien. Man muss es anfassen, hören, fühlen, schmecken können, meint der Philosoph Matthias Gronemeyer. © imago images / Arnulf Hettrich
Ein Kommentar von Matthias Gronemeyer · 02.07.2019
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Am heutigen 2. Juli kommt das neu gewählte Europaparlament zum ersten Mal in Straßburg zusammen. Und doch bleibt Europa für viele eine abstrakte Idee. Es fehlen Rituale, meint der Philosoph Matthias Gronemeyer. Er hätte da ein paar Vorschläge.
Vorletzte Woche konnte man sie in den katholischen Gegenden Deutschlands beobachten: die Fronleichnams-Prozessionen, bei denen die Gläubigen hinter der vom Priester getragenen Monstranz durch das Dorf oder den Stadtteil ziehen und mit Pauken und Trompeten ihren Glauben an den Leib Christi im wahrsten Sinne des Wortes demonstrieren.
Die Christen, deren Religion sich allein auf das Bekenntnis stützt, ihr Gottessohn sei von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren; diese Gläubigen, die eine völlig unwahrscheinliche Geschichte und einen unsichtbaren Gott für wahr nehmen, schaffen es auf bemerkenswerte Weise, dem bloßen Bekenntnis einen Ort zu geben, es mit Symbolen, Gewändern und Ritualen auszustatten.
Der in den Himmel aufgefahrene Gott wird im Zeichen des Kreuzes auf der Erde festgehalten, nachgerade fixiert; beim heiligen Abendmahl wird sich der Gott sogar einverleibt. Es gibt tausende von massiven Gotteshäusern, in denen der Gott wohnt. Wäre es seinerzeit beim bloßen Bekenntnis zum völlig Unsichtbaren und Unfassbaren geblieben, das Christentum, so können wir vermuten, wäre nie über Status einer kleinen Sekte hinausgekommen.

Konstituierende Sitzung ohne Feierlichkeiten

Wenn sich heute in Straßburg das Europäische Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung nach der Europawahl zusammenfindet, dann geschieht dies auch im Namen eines Bekenntnisses, des Bekenntnisses zur europäischen Idee von Frieden, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Aber es geschieht ohne die Wähler, die bekennenden und die nicht-bekennenden, ohne Feierlichkeiten, außerhalb der Stadt im kühlen Parlamentsgebäude aus Glas und Stahl, mehr als Verwaltungs- denn als Festakt.
Man stelle sich einmal vor, der Katholizismus fände nur in Rom hinter den Mauern des Vatikans statt, trotzdem würde von zig Millionen Menschen gefordert, sich zur Kirche zu bekennen und Kirchensteuer zu zahlen. Dass sich viele mit dem Bekenntnis zu Europa schwertun, wundert mich daher nicht. Die größte einzelne Partei im neuen Parlament stellen denn auch mit 29 Abgeordneten die britischen Bekenntnisverweigerer. Glaube allein reicht eben nicht. Nicht einmal die elenden Aussichten der Ungläubigen am Tage des Austritts.

Europa ist immer fern und unsichtbar

Wenn man nicht gerade in Brüssel oder Straßburg lebt, ist Europa immer fern, immer unsichtbar. Ich kann da nicht einfach hingehen, nicht einmal in der Großstadt, in der ich lebe, gibt es ein Europahaus. Europa kommt auch nicht zu mir. Es gibt keine sonntäglichen Zusammenkünfte, niemanden in einem Europa-Ornat, der die Idee verkörperte, nicht einmal ein taugliches Symbol. Der Euro kann dem Kreuz der Christen nicht das Wasser reichen – und die meisten zahlen ja ohnehin mit Karte. Und was ist der völlig abgenudelte letzte Satz aus Beethovens neunter Sinfonie gegen die Fülle eines Gesangbuches? Es gibt gar nichts – nur das Bekenntnis.
So macht man es den Ungläubigen, den Nationalisten und den Völkischen zu leicht. Da braucht nur jemand sich zum Dorfprediger aufzuschwingen und die Heimaterde zum Heiligtum zu erklären, dann laufen ihm alle zu.
Nein, das Bekenntnis zu Europa braucht Orte, Häuser, Liturgien. Man muss es anfassen, hören, fühlen, schmecken können. Sonst bleibt es die Religion einer Minderheit von Intellektuellen, die nicht selten daraus ökonomischen Vorteil zieht. Für den Anfang, denke ich, sollte ein europäischer Feiertag her. Nicht irgendein Sonntag, an dem ohnehin frei ist, oder irgendein umgewandelter kirchlicher, sondern ein richtiger, zusätzlicher Feiertag. Vielleicht im September, nach den Sommerferien nochmal ein verlängertes Wochenende. Das Parlament könnte das gleich heute beschließen.

Matthias Gronemeyer ist promovierter Philosoph. Er lebt als freier Autor und Publizist ist Stuttgart. Zuletzt erschienen von ihm die vielbeachtete poetisch-philosophische Studie "vögeln – eine Philosophie vom Sex" und die Erzählung "Ein vernünftiges Gefühl" sowie sein Roman "Im leichten Sitz" über eine Jugend in den 1950er-Jahren.

© Iris Merkle
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