Sergej Gerassimow: "Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch"

Das Atmen des nahenden Krieges

06:09 Minuten
Sergei Gerassimows ukrainisches Kriegstagebuch "Feuerpanorama": Das Cover ist einer braunen Papiertüte nachempfunden. Darauf stehen Name und Titel des Buchs. Durch eine runde Aussparung ist das gemalte Bild einer teufelsartigen Gestalt zu sehen, die zwei Menschen verschlingt.
© Dtv

Sergej Gerassimow

Übersetzt von Andreas Breitenstein

Feuerpanorama. Ein ukrainisches KriegstagebuchDtv, München 2022

256 Seiten

22,00 Euro

Von Jörg Plath · 23.07.2022
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Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine beginnt Sergej Gerassimow auch sein Kriegstagebuch. Er berichtet von getöteten Kindern, von abgefrorenen Zehen und von der Nachbarin, die beim Anblick des nächtlichen Frontfeuers Heavy Metal hört.
Als Russland am 24. Februar um 5.07 Uhr den Krieg beginnt, wird Sergej Gerassimow im ukrainischen Charkiw wach. Ihn wecke „etwas Unheimliches“, „Böses“, schreibt er im ersten Eintrag seines Kriegstagebuchs „Feuerpanorama“. Auf der Straße vor seinem Haus ist nichts zu sehen, doch das „Atmen des nahenden Krieges“ sei zu hören: „Es besteht aus einfachen Klängen wie ‚Bum!‘ und ‚Bang!‘ und einem langen ‚Schhh…‘, die sich stetig wiederholen, verzerrt durch die Entfernung.“
Gerassimow weckt Lena, seine Frau. Er ist sich sicher und kann es zugleich nicht glauben: „Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit, ist wie ein schlechter Traum."

Vor dem Supermarkt steht man Tage an

Sergej Gerassimow, Lena und ihre Katzen wohnen im Süden der zweitgrößten ukrainischen Stadt. Die Grenze zu Russland ist 30 Kilometer entfernt. Der im russischen Kursk aufgewachsene Schriftsteller, Übersetzer und Psychologe beginnt auf Englisch ein Tagebuch für die Neue Zürcher Zeitung, das er bis zum 18. Mai führt. Die Buchausgabe „Feuerpanorama“ enthält die zweieinhalb bis dreieinhalb Seiten langen Einträge vom 24. Februar bis zum 18. April, als die Invasoren zur Grenze zurückgedrängt werden.
In den ersten Wochen entstehen oft zwei Einträge an einem Tag. Gerassimov beschränkt sich auf den zivilen Alltag – aber was heißt schon Alltag, wenn die russischen Truppen nach anfänglichem Erstaunen, dass sie nicht als Befreier empfangen werden, gezielt Wohnhäuser, Kliniken, Kindergärten und Schulen bombardieren?

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Bald sind Teile von Charkiw zur Hälfte zerstört. Auch in Gerassimows Wohnung im dritten Stock stehen Matratzen vor den Fenstern, damit die Fensterscheiben nach einer Explosion nicht wie Schrapnelle durch die Wohnung fliegen. Es gibt kein fließend Wasser, kein Brot, manchmal fällt der Strom aus. Aber Gerassimows haben Kartoffeln, ein „gewaltiges Ei“ liegt im Kühlschrank.
Die Menschenschlangen vor Supermärkten und Apotheken werden nach Stunden und Tagen gemessen. Meist gibt es nichts, doch bis man das weiß, sind manchem bei den grimmigen Temperaturen die Zehen abgefroren. Die nahe U-Bahnstation bleibt entgegen allen Versprechen geschlossen, und den Schutzraum im Keller scheuen die Gerassimows, obwohl sich die Explosionen mehren – ihre Katzen wehren sich. Die Nachbarin im zwölften Stock hört beim Blick auf das nächtliche Frontfeuer lauten Heavy Metal.

Die Literaturszene in Charkiw: Früher war der Ort im Nordosten der Ukraine eine Frontstadt, der Krieg im Donbass nah - inzwischen ist die ganze Ukraine Kriegsgebiet. Hören Sie hier Katrin Hillgrubers literarisches Städteporträt aus besseren Tagen, aus dem Jahr 2018 - eine Erinnerung an Verlorenes.

Die Texte sind schnell verfasst, knapp, konkret, detailliert. Sie beginnen unvermittelt und ziehen durch ihr Präsens in den Augenblick. Gerassimows Intelligenz zeigt sich in der Montage von Berichten, Beobachtungen, Anekdoten, Gedanken, Erzählungen anderer, Internetrecherchen, Erinnerungen an andere Zeiten, andere Russen.
Es fehlen Nachrichten von der Front, sieht man von jener erschreckenden ab, dass das Theater in Mariupol, in dem 150 Kinder Schutz suchten, gezielt bombardiert wurde. Ein einziges Mal wird eine Leiche erwähnt, einmal ein im Internet verfolgter Abschuss eines Bombers, oft zerstörte Wohnungen. Als die russische Armee zurückgedrängt wird, schreibt Gerassimow, es werde ruhiger in Charkiw.

Putins Propaganda wirkt

Die Kriegsbegründungen der Russen weist er zurück – die Ukraine sei nicht nazistisch, obwohl es in ihr natürlich Nazis gebe. Problematisch sei der bedenkenlose Flirt der Politik mit den Nationalisten gewesen. Gerassimow verteidigt selbst das als rechtsradikal bekannte Asow-Regiment und entwirft Grundzüge eines „inneren Patriotismus“, der die Verbundenheit zu einem Land, nicht zu einem Staat ausdrücke. Das liest sich als Teil eines Klärungsprozesses, den Putins Propaganda womöglich bei vielen Ukrainern angestoßen hat.
Unbelehrbare Putin-Freunde gibt es freilich weiterhin unter Bekannten in Russland und auch in der Charkiwer Nachbarschaft. Sie behaupten, die Ukrainer zerstörten die eigenen Städte.

Aus den Hähnen fließt kein Wasser

Gerassimows Tagebuch ist bemerkenswert diskret. Seine Tochter zieht mit ihrem Freund bei den Eltern ein. Doch nicht von ihnen erzählt der Schriftsteller, sondern wie er mit einem Taxi durch die zerstörte Stadt fährt, um die Rosen seiner Mutter zu gießen. Das Wasser hat er mitgebracht.
Aus den Hähnen fließt noch immer keines.
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