Sacha Naspini: "Nives"

Eine Frau und ihr Huhn

31:53 Minuten
Von Manuela Reichart · 25.11.2022
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Der Mann stirbt überraschend. Seine Witwe kann die Einsamkeit nicht ertragen und holt sich ihr Lieblingshuhn ins Haus. Das sorgt für Entspannung, bis es plötzlich vor dem Fernseher in eine seltsame Starre verfällt.
Das Leben des Bauern endet im Schweinetrog: „anstatt der Essensreste landete er selber drin, voll aufs Gesicht. Der Schlag hatte ihn getroffen.“ Die Tochter reist zum Begräbnis ihres Vaters an, will die Mutter danach unbedingt mitnehmen, sie nicht zurücklassen im einsamen Haus und weint sich die Augen aus.
Die frisch gebackene Witwe will den Hof jedoch nicht verlassen. Dass sie das Alleinsein nicht verträgt, wird ihr erst nach der Abreise der Verwandtschaft klar. Sie kann nicht mehr schlafen, hat keine Energie, vernachlässigt den Haushalt und wird seltsam. Das ändert sich erst, als sie ihr – durch einen Hundebiss behindertes - Lieblingshuhn ins Haus holtund den Käfig auf den Nachttisch stellt.

Ersetzer Ehemann

Plötzlich geht es ihr wieder gut. Das Gerede der Leute ist ihr ganz egal. „Kritische Momente gab es nur wenige. Insbesondere, wenn sie sich bei diesem Gedanken ertappte: Sie hatte Anteo durch ein lahmes Huhn ersetzt. Was sie beeindruckte, war Folgendes: Mit Giacomina an ihrer Seite vermisste sie nichts von ihrem Mann. Es befiel sie eine Niedergeschlagenheit, mit der sie nichts anzufangen wusste, und sie sagte sich: ‚Ich habe mein Leben für einen gegeben, den ich hätte durch ein Huhn ersetzen können.‘ Sie fühlte sich schmuddelig. Aber auch vergeudet.“ 

Telefonat über ein Leben

Diese Gedanken wischt die Bäuerin jedoch rasch beiseite, kümmert sich mit neuem Elan um Haus und Hof. Bis das Huhn beim gemeinsamen Fernsehabend plötzlich in eine katatonische Starre fällt. Sie ruft den Tierarzt an, obwohl es schon spät ist und obwohl sie weiß, dass der Trunkenbold um diese Zeit bereits im Bett liegt und seinen Beruf nicht mehr ausüben kann.
Bis zu diesem Moment erzählt der italienische Autor eine leichthändige skurrile Geschichte von einer einsamen Frau und einem komischen Huhn. Mit und in diesem Telefongespräch ändert sich jedoch alles. Plötzlich geht es nicht mehr allein um das starre Huhn auf dem Sofa, sondern um ein ganzes Leben, eine unglückliche Liebesgeschichte, um einen einst geplanten Ausbruch und anhaltenden Zorn.

Verpasste Chancen

In diesem Telefonat, das kein Ende finden will, wird die Vergangenheit zur Gegenwart und ausgesprochen, was seit Jahrzehnten verschwiegen wurde: „Die zärtlichen Gefühle, die sie all die Jahre lang begraben hatte, überkamen sie nun. Es ist merkwürdig, wenn eine alte Liebschaft sich in vorgerücktem Alter wieder bemerkbar macht.“
Die Bäuerin und der Tierarzt waren vor Jahrzehnten in eine Amour fou verstrickt. Sie wollten ihr Leben gemeinsam neu beginnen. Dass es dazu nicht kam, lag an ihm. Sie erinnern sich an diese eine entscheidende Nacht, machen einander Vorwürfe.

Glückliches Huhn

In diesem Dialog ist jedoch nichts, wie es scheint. Wenn man das Ausmaß von Lüge und Verrat staunend erkennt, dreht sich die Geschichte wieder. Das einzige große Abenteuer im Leben der Witwe wird jedenfalls zu einer hässlichen Anekdote, über deren Ausgang sie gleichwohl froh sein kann.
Dass sie ihren Mann jedoch niemals durch ein Huhn hätte ersetzen können, das begreift sie beglückt. Und dem Huhn geht es am Ende auch wieder gut.
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