Marian Engel: "Bär"

Begehren zwischen Frau und Tier

06:40 Minuten
BAeR von Marian Engel
© btb Verlag

Marian Engel

Gabriele Brößke

Bärbtb, München 2022

208 Seiten

20,00 Euro

Von Manuela Reichart · 28.04.2022
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In der Einsamkeit der Natur entdeckt eine Frau ihre Liebe zu einem zahmen Bären. Und diese Liebe ist keineswegs platonisch. Die 1985 gestorbene kanadische Autorin Marian Engel erzählt von Begehren, Ausbeutung und Grenzen.
Aus beruflichen Gründen verschlägt es die Romanheldin auf eine abgelegene Flussinsel im Norden Kanadas. Sie soll dort den Nachlass eines Colonels aus dem 19. Jahrhundert sichten. Die Frau ist eine arbeitsame Archivarin, die ganz zufrieden zu sein scheint mit ihrem recht einsamen Leben, zu dem auch eine ziemlich trostlose sexuelle Beziehung mit dem Direktor ihres Museums gehört.

Ein einsamer Sommer in der Natur

Die Aussicht, allein in der Natur den Sommer zu verbringen, versetzt sie jedenfalls in Hochstimmung. Das abseits gelegene Haus, in das sie zieht, verspricht Entdeckungen. Dass zu ihren Aufgaben dort aber nicht nur die Sichtung von Büchern und Dokumenten, sondern auch die Betreuung eines alten zahmen Bären gehört, das erfährt sie erst vor Ort.
„Als sie sich hinsetzte, merkte sie, dass der Bär in seiner Türöffnung stand und sie anstarrte. Bär. Harren. Starren. Sie starrte zurück. Jeder muss sich irgendwann im Leben einmal entscheiden, ob er ein Platoniker ist, oder nicht, dachte sie. Ich bin eine Frau, sitze auf einer Treppenstufe und esse Brot mit Speck. Da drüben ist ein Bär. Kein Teddybär, nicht Pu der Bär, nicht der Koalabär aus der australischen Fluglinienwerbung. Ein echter Bär."

Neue, scheinbar grenzenlose Sexualität

Diese erste Begegnung, der die Frau sich furchtlos stellt, ist der Anfang einer besonderen Beziehung. Es geht hier nicht um eine gewöhnliche Mensch-Tier-Verbindung. Marian Engel erzählt in diesem Roman aus dem Jahr 1976 eine grenzüberschreitende, höchst provokante Geschichte.
Die Frau verliebt sich in den Bären – und dabei handelt es sich nicht um eine platonische Liebe. Der Bär jedoch ist und bleibt ein Bär. Es findet keine Vermenschlichung, keine romantische Überhöhung statt. Die Frau verliert sich in einer Sexualität, die ihr neu und grenzenlos scheint. Dass sie nach dieser Erfahrung nie wieder mit dem faden Museumsdirektor Sex auf dem Schreibtisch haben wird, versteht sich von selber.

Wiederentdeckte Autorin aus Kanada

Marian Engel – die 1985 im Alter von 52 Jahren gestorben ist – gelingt in dieser Geschichte etwas Unglaubliches: Sie schreibt in einem selbstverständlichen Ton von sexuellen Praktiken, die eigentlich nicht ausgesprochen, geschweige denn beschrieben werden können und von einer klugen Frau, die trotzdem nie vergisst, dass es sich bei dem Bären nicht um einen Mann-Ersatz handelt.
Es geht um die Erfahrung von Freiheit und um die Entdeckung eigener Wünsche und eigenen Begehrens – und dass dafür ein Bär im Zweifel besser sein kann als ein Mann. Eine märchenhafte Geschichte? Im Vorwort zu einem Band mit short stories schrieb die Autorin einmal, sie glaube nicht an Geister und Märchen, wohl aber an das Irrationale, an den Bereich, in dem alles möglich ist, wenn die Logik außer Kraft gesetzt sei.

Ausbeutung und Begehren

Am Schluss wird die Archivarin mit einem freundlichen Nachbarn schlafen, aber das hinterlässt keine Gefühlsspuren. Und der Bär wird am Ende des Sommers abgeholt, ohne dass er sich noch einmal nach ihr umdreht. Er ist ein Tier. Sie ist eine Frau.
Das vergisst auch die Autorin nicht, die eine Geschichte erzählt, die bis heute eine enorme Wucht und moralische Sprengkraft enthält: Wo verläuft die Grenze zwischen Tierliebe und Ausbeutung? Was ist Projektion? Aber vor allem: Welche Kraft ist nötig, um weibliches Begehren zu wecken?
Dass es darüber hinaus in diesem Roman auch wunderbare Naturbeschreibungen gibt, dass eine ungewöhnliche Heldin im Zentrum steht, eine Frau, die weder die Einsamkeit noch einen Bären fürchtet, auch das macht die Lektüre dieses großartigen alten Romans neu und aufregend. Schade ist nur, dass man in dem sehr subjektiv gehaltenen Nachwort nicht mehr Informationen über die bei uns unbekannte Autorin bekommt.

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