Rolf Lindner: „In einer Welt von Fremden“
© Matthes & Seitz
Glanz und Elend der Anonymität
06:27 Minuten
Rolf Lindner
In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der StadtMatthes & Seitz Berlin, Berlin 2022290 Seiten
28,00 Euro
Vom öffentlichen Nahverkehr bis hin zum Nachtleben: Rolf Lindner geht der Faszination der Großstadt auf den Grund.
Schade eigentlich, dass auch dieses Jahr wieder kein Nobelpreis für Proximik vergeben wurde, handelt es sich doch um eine Wissenschaft von hoher Anwendungsdichte und nicht zu unterschätzender Alltagsrelevanz. Wer es, zumal in einer Stadt wie Berlin, versteht, sich ohne Zuhilfenahme seiner Ellenbogen durch einen vollbesetzen U-Bahn-Waggon zu manövrieren, ahnt vielleicht etwas von dem zivilisatorischen Kraftakt, den er da gerade vollbringt.
Wie viel Kultur tatsächlich in Verhaltensweisen steckt, die den meisten von uns zur zweiten Natur geworden sind, daran erinnert Rolf Lindner in seinem jüngsten Buch.
Es ist ja nicht nur die Lehre vom Abstand – lateinisch Proximik –, die der Großstadtmensch zu beherzigen hat, er muss auch seinen Blick unter Kontrolle haben. Das Anstarren begehrter Objekte gilt, ebenso wie offensives Ansprechen, als unschicklich, Meisterschaft in jenem scheinbar interesselosen Aneinandervorbeischauen, das den Metropolenbewohner auszeichnet, beweist, wer selbst im dichtesten Gedränge cool bleibt.
Altgedienten Stadthasen mag diese Form zwischenmenschlicher Etikette vertraut erscheinen, Lindner indes, emeritierter Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität, rückt die zahlreichen Regeln, Normen und Verheißungen des Urbanen noch einmal in ein neues Licht.
Eine Bühne für Performer
In neun locker aneinandergefügten Kapiteln leuchtet er in die dunkleren Ecken städtischen Treibens hinein, die Kelleretablissements und cruising areas, die Vergnügungsparks und Tingeltangels, die schon vor hundert Jahren zum „Amüsemang“ luden, und heute in Form von Coffee Shops, Clubs und Bars ein globales Publikum anlocken.
Genuin urban an ihnen ist das Flüchtige, Momentbezogene: Man trifft sich in einem passageren Raum, der Verbindlichkeit per se ausschließt. Was sich kulturkritisch als Anonymität oder „Entfremdung“ beklagen ließe, bietet aber auch Selbstdarstellern aller Art eine Bühne.
Großstadt, so die These, dient als living theatre zugleich der Verwandlung: Wer immer hier durchgespült wird, erhält die Chance, sich jenseits von Tradition und Herkunft neu zu entwerfen.
Lindner veranschaulicht seine Befunde an Beispielen aus New York, Chicago, Paris, vor allem aber Berlin, der Stadt, die einmal als Inbegriff der Moderne galt, später zur Insel wurde und womöglich eben dadurch zeitweise eine besonders hohe Dichte von Lebenskünstlern, Exzentrikern und anderen sogenannten Originalen hervorgebracht hat.
Man meint, eine Träne fallen zu hören, wenn von „Schrippenmutti“ die Rede ist, die das lokale Nachtleben mit Selbstgeschmiertem belieferte, oder von Lucie Leydicke, einst Betreiberin einer stadtbekannten Fruchtwein- und Likörstube.
In diesem romantischen Zug mag auch der Grund dafür liegen, dass asiatische Megacitys ausgespart bleiben, doch Vollständigkeit ist hier ohnehin kein Kriterium. Man liest Lindners Ausführungen mit dem größten Gewinn, wenn man sie als Quersumme eines Lebens im Dienst der Stadtforschung versteht.
Passagenwerk revisited
Unvermeidlicherweise kommen dabei auch die Klassiker der Disziplin zu Wort, Baudelaire mit seiner erotischen Flüchtigkeitslyrik, Walter Benjamins Flaneurstudien, Georg Simmels frühe Soziologie urbaner Blickregime, doch treten sie hier weniger als Säulenheilige auf denn als Bausteinlieferanten einer Theorie des Urbanen, die es in die Zukunft hinein fortzuschreiben gilt.
Mit einigem Recht lässt sich sogar behaupten, Lindners Schreiben habe selbst etwas Passageres: Es durchstreift das städtische Terrain ohne festgelegtes Ziel und erzielt gerade dadurch Ein- und Durchblicke. Sollte demnächst ein Preis für wissenschaftliche Ambulatorik vergeben werden, hier wäre ein würdiger Träger gefunden.