Ben Wilson: „Metropolen“

Laboratorien der Menschheit

06:05 Minuten
Cover des Buchs "Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten" von Ben Wilson. Auf einem Kreis sind Häuser und große Gebäude angeordnet.
© S. Fischer

Ben Wilson

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den StädtenS. Fischer, Frankfurt am Main 2022

592 Seiten

34,00 Euro

Von Wolfgang Schneider · 15.11.2022
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Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt inzwischen in Städten. Der Londoner Historiker Ben Wilson geht in seinem neuen Buch der Faszination des Urbanen auf den Grund und zeigt, wie fragil, aber auch zäh Städte und ihre Bewohner sein können.
Jeden Tag sind es rund 200.000 Menschen mehr, die sich für das Leben in Städten entscheiden oder von der schieren Not dorthin getrieben werden. Es ist die größte Migrationsbewegung der Geschichte. Im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Menschheit in Städten wohnen; vor 1800 waren es nur vier Prozent. Diese Verdichtung ist ein gewaltiges Experiment.
Der Londoner Historiker Ben Wilson hat dem „Homo urbanus“ nun eine ganze Weltgeschichte gewidmet, die von den Anfängen im mesopotamischen Uruk bis zu den Megacitys der nahen Zukunft führt. Geschickt verbindet er dabei die jeweils einer Stadt gewidmeten Kapitel mit übergreifenden Themen.
London erscheint im Licht der Geselligkeit, Manchester und Chicago firmieren als „Schockstädte“ der Industrialisierung. Paris ist in Wilsons Darstellung eine Touristenfalle und das Musterbeispiel für einen idealisierten Stadt-Mythos. Dank der thematischen Fokussierung vermeidet Wilson die Monotonie eines bloßen Städte-Readers.

Zwischen Sündenbabel und Jerusalem

Durch die Ballung von Arbeitskraft, Intelligenz, Kultur, Wettbewerb und Austausch jeder Art sind die Städte Katalysatoren der menschlichen Entwicklung. Bereits in der Bibel aber wird die Stadt verflucht – als Sündenbabel und Inbegriff menschlicher Hybris.
Es ist der Beginn jener Zivilisationskritik, die über Rousseau bis in die mit sich selbst hadernde Moderne reicht. Andererseits kennt auch die Bibel eine urbane Utopie: das himmlische Jerusalem, wo die ewige Seligkeit frei Haus geliefert wird. So werden die Städte seit je sowohl mit Sehnsucht als auch mit Hass betrachtet.
„Städte sind fragile Gebilde. Ohne konstante Investitionen und Instandsetzungen und ohne bürgerliches Engagement zerfallen sie außerordentlich schnell“, schreibt Wilson in Hinblick auf den Niedergang der Stadtkulturen im Römischen Reich.
Andererseits gibt es kaum etwas Zäheres als eine Stadt, die zum Überleben entschlossen ist und deren Bürger ein gemeinsames Wertefundament haben. Ein beeindruckendes Kapitel ist deshalb Warschau gewidmet. Nach fünf Jahren deutscher Besatzung war die Stadt die zerstörteste europäische Metropole. Und doch dauerte es nur sieben Jahre, bis der historische Kern von Warschau mitten im Nachkriegselend wiederaufgebaut war.

Chaos und Selbstorganisation 

Und die Zukunft der Stadt? Am Ende des Buches steht das nigerianische Lagos, das derzeit 20 Millionen Einwohner und große Slums, aber keine U-Bahn hat. 2100 wird es die größte Stadt der Erde sein. Lagos ist eine jener chaotischen Mega-Metropolen, die schneller wuchern, als irgendeine Stadtverwaltung Infrastruktur schaffen kann. Wilson zeigt aber, wie gerade solche Do-it-yourself-Städte Schauplätze von erstaunlicher Kreativität, Selbstorganisation, blühender Schattenwirtschaft und Lebensfreude sind.
Ein Gegenbild ist das Modell der hypermodernen, grünen und klimaneutralen Stadt. Hier gehe es darum, die „autogerechte“ Stadt zurückzubauen, die einstige Visionäre der Stadtplanung verschuldet haben. Da erklingt bei Wilson viel Zukunftsmusik, die mit der Realität in den meisten heutigen Städten wenig zu tun hat.
Ben Wilson erzählt fesselnd, klug und anschaulich; er füllt die Seiten nicht mit trockenem Handbuchwissen. Auch wenn über die meisten dieser Städte bereits viel geschrieben wurde, gelingt es ihm doch immer wieder, ungewöhnliche Aspekte aufzuzeigen und interessante Bezüge herzustellen. Sein faszinierendes Buch zeigt die Städte als das, was sie immer waren und sein werden: „Laboratorien der Menschheit“ und „Treibhäuser der Geschichte“. 
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