Roald Dahl

Stereotype werden überschätzt

04:50 Minuten
Schwarzweißfoto des Schriftstellers Roald Dahl im mittleren Lebensalter: Er trägt ein Poloshirt und einen Pulli über die Schulter geworfen und schaut nach rechts aus dem Bild, die Stirn in Falten geworfen.
"Hexen hexen", "Matilda", "Charlie und die Schokoladenfabrik": Roald Dahls weltbekannte Kinderbücher sind in einer umstrittenen neuen Fassung erschienen. © picture alliance / Everett Collection / CSU Archives/ Everett Collection
Ein Kommentar von Philipp Hübl · 26.02.2023
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Klischees raus, diskriminierende Wörter auch: Kinderbücher von Roald Dahl sind in einer Neuauflage stark angepasst worden. Doch die Ideen über die Wirkung von Stereotypen, die der Änderung zu Grunde liegen, seien fragwürdig, findet unser Kommentator.
Sogenannte Sensitivity Reader haben in Dahls Büchern alles gestrichen oder ersetzt, was auch nur entfernt mit den Themen Hautfarbe, Geschlecht, Gewalt, Körper und mentale Gesundheit zu tun hat. Figuren sind nicht mehr „dick“ oder „hässlich“. Ihre Gesichter werden nicht mehr „weiß“ vor Schreck. Selbst ein Regenwurm hat nicht mehr „rosafarbene“, sondern stattdessen „weiche“ Haut. Harmlose Alltagsphrasen wie „Du bist verrückt“ sind verschwunden, offenbar weil man sie als behindertenfeindlich deuten könnte. Eine Frau an der Supermarktkasse ist plötzlich „Spitzenforscherin“, und selbst „Handtaschen“ wurden zu genderneutralen „Taschen“.

Ganze Sendung vom 26.02.23 - Über Klimakrise, Roald Dahl und vergessene Texte

26.02.2023
39:22 Minuten
Podcast: Sein und Streit
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Die Änderungen haben heftige Reaktionen hervorgerufen, etwa vom PEN Amerika und von Salman Rushdie, die dem Verlag vorwerfen, Dahls künstlerisches Werk zu zerstören. Diese Kritik ist berechtigt, aber das eigentliche Problem liegt anderswo.

Falsche Annahmen über menschliche Kognition

Die Motivation der Sensitivity Reader beruht nämlich auf falschen Annahmen über die menschliche Kognition. An Stereotypen kann man das gut verdeutlichen. Hinter den Korrekturen stehen zwei unausgesprochene kausale Annahmen. Erstens, wer eine stereotype Darstellung etwa über einen Mann oder eine Frau liest, glaubt sofort, dass sie für alle Männer und Frauen gilt. Und zweitens, wer Stereotype kennt, wird von ihnen geprägt und handelt auch nach ihnen.

Was machen Sensitivity Reader? Aşkın-Hayat Doğan im Interview

22.02.2023
07:23 Minuten
Auf dem Logo der Sendung "Büchermarkt" ist ein stilisierter Bücherstapel zu sehen.
Auf dem Logo der Sendung "Büchermarkt" ist ein stilisierter Bücherstapel zu sehen.
Beide Annahmen sind fragwürdig. Stereotype sind immer falsch, wenn man sie als essenzielle Aussagen versteht, etwa „alle Männer sind gewalttätig“. Doch Stereotype sind oft wahr, wenn man sie als statistische Generalisierungen auffasst: Männer sind – im Mittel – gewalttätiger als Frauen, Frauen sind – im Durchschnitt – einfühlsamer als Männer.

Stereotype bestimmen selten unser Handeln

Jeder von uns kennt unzählige solcher Stereotype, aber sie bestimmen selten unser Handeln, wie schon der Alltag zeigt: In vielen Kinderbüchern sind Prestigeberufe wie Arzt oder Anwalt überwiegend von Männern besetzt. Doch das hat offenbar weder auf Mädchen noch auf Jungen einen nachhaltigen Einfluss, denn mittlerweile studieren deutlich mehr Frauen als Männer Medizin und Jura.
Selbst die vielzitierte Forschung zur sogenannten „Bedrohung durch Stereotype“, ist hoch umstritten, die angeblich zeigt, dass zum Beispiel Schulmädchen schlechter in Mathematiktests abschneiden, wenn man ihnen davor sagt, dass Jungen besser sind. Dass Stereotype tatsächlich einen Einfluss auf die Leistung haben, wie ursprünglich angenommen, stellen inzwischen mehrere aktuelle Metastudien in Frage.
Wie viele andere Aktivisten behaupten auch Sensitivity Reader, für Gruppen zu sprechen, die bestimmte Wörter als verletzend empfinden, haben aber gar keine Belege, dass die Mitglieder dieser Gruppen überhaupt von ihnen vertreten werden wollen oder sich tatsächlich angegriffen fühlen. Auch hier zeichnet die Forschung ein anderes Bild: Fragt man Schwarze, Hispanics und andere Minderheiten in den USA, ob sie Sätze wie „Amerika ist ein Schmelztiegel“ oder „Amerika ist das Land der Möglichkeiten“ als negativ oder gar als Mikroaggressionen empfinden, wie oft behauptet wird, so verneinen sie das mehrheitlich.
Und offenbar haben sich auch 300 Millionen Leser in 68 Sprachen bisher nicht an Dahls schrulligen Figuren und seinem schwarzen Humor gestoßen.

Was ist die Aufgabe von Literatur?

Ohnehin besteht die Aufgabe von Literatur nicht darin, eine ideale Gesellschaft herbei zu fantasieren. Natürlich geht es in Kinderbüchern auch um Moral. Der Struwwelpeter spiegelt einen autoritären Erziehungsstil wider, Pippi Langstrumpf hingegen einen antiautoritären. Doch selbst wenn man Dahl pädagogisch lesen will: Seine teils alptraumhaften Erzählungen bereiten junge Leute darauf vor, dass die Welt voller fragwürdiger Charaktere ist, und dass selbst sympathische Figuren nicht immer aus edlen Motiven handeln.
Wie so oft in der Literatur erzeugen Dahls Geschichten manchmal Widerspruch, auch bei jungen Lesern. Mit anderen Worten: Sie aktivieren das autonome Denken.
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