Chimamanda Ngozi Adichies BBC-Lecture

Bedroht Selbstzensur unsere Redefreiheit?

11:22 Minuten
Chimamanda Ngozi Adichie spricht in ein Mikrofon und unterstreicht ihre Worte mit einer zupackenden Geste.
Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie beklagt, dass Verlage durch ideologische Debatten unter Druck geraten. © picture alliance / Zumapress / Luka Dakskobler
Emilia Roig im Gespräch mit Boussa Thiam · 01.12.2022
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Selbstzensur bedroht die Freiheit der Literatur, warnt die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in der BBC: Verlage ließen sich durch ideologische Debatten einschüchtern. Die Diskriminierungsexpertin Emilia Roig hält diese Kritik für übertrieben.
Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sieht die Redefreiheit durch ideologisch geprägte Debatten und Shitstorms bedroht. Ein kontroverses Buch wie Salman Rushdies Roman "Die satanischen Verse" würde heute wahrscheinlich kein Verlag mehr drucken wollen, sagte Adichie in einem Beitrag für die Vortragsreihe "Reith Lectures" der BBC. Autorinnen und Autoren, die über heikle Themen schreiben wollten, würden "vom Gespenst der sozialen Zensur zurückgehalten".

Attacken ideologisch geprägter Stämme

Vor allem in den sozialen Medien bildeten sich "ideologisch geprägte Stämme", wer ausschere, werde abgestraft, so Adichie. Die gegenseitige Überwachung der Sprache, die dort stattfinde, führe zu einer "Selbstzensur" von Verlagen und läute "fast die Totenglocke" der literarischen und anderer kultureller Produktionen.
Die Politologin und Aktivistin Emilia Roig vom Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin hält dagegen: Adichie habe zwar Recht mit ihrer Beobachtung, dass viele Menschen heute besonders darauf bedacht seien, Wörter zu verwenden, die "Rassismus, Sexismus oder andere Diskriminierungsformen nicht reproduzieren". Deswegen von "Selbstzensur" zu sprechen, hält sie jedoch für überzogen.

Sensibles Lektorat

Adichie habe unter anderem das sogenannte "Sensitivity Reading" kritisiert, ein zusätzliches Lektorat, mit dem Verlage die unbeabsichtigte Verwendung diskriminierender Begriffe vermeiden wollen. Roig verteidigt diese Praxis: Es sei gut und richtig, einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu erreichen, dass bestimmte herabwürdigende Aussagen, etwa über schwarze Menschen, problematisch sind.
"Solche Aussagen waren die Basis für die Sklaverei, die Ausbeutung, die Kolonisation von schwarzen Menschen", betont Roig.
Adichies Kritik an der aggressiven Debattenkultur in sozialen Medien halte sie für teilweise berechtigt, sagt Roig: "Shitstorms sind eine gewaltvolle Art und Weise zu kommunizieren."
Adichie habe kürzlich selbst heftigen Gegenwind erfahren, weil ihr nach einem Interview Transfeindlichkeit vorgeworfen wurde. Roig hätte sich allerdings gewünscht, dass die Schriftstellerin diese Gelegenheit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Kritik genutzt hätte, die ihr entgegenschlug.

Streit um eine transfeindliche Aussage

Zwischen konstruktiver Kritik und Cancel Culture sei in der Praxis nicht immer einfach zu unterscheiden, so Roig. Deshalb sollte eine Kritik nicht pauschal diskreditiert werden, nur weil manche Menschen sie unangemessen und aggressiv vorbrächten.
Ihrer Ansicht nach sei Adichies Aussage tatsächlich transfeindlich gewesen, so Roig: Indem sie einen Unterschied zwischen cis und trans Frauen machte, habe sie trans Frauen ihre Weiblichkeit abgesprochen. Gerade einer für Rassismus sensiblen und feministisch engagierten Autorin wie Adichie hätte das bewusst sein sollen.

Die Weiblichkeit wurde auch schwarzen Frauen abgesprochen: Schwarze Frauen wurden auch lange, im Zuge des Kolonialismus und der Sklaverei, eben nicht als Frauen angesehen – was auch erlaubt hat, dass schwarze Frauen ausgebeutet werden, genau so wie schwarze Männer.

Emilia Roig, Politologin

Nicht umsonst sei die Parole "Trans Frauen sind Frauen" seit Jahren als politischer Slogan bekannt, sagt Roig: "Die Spezifität von trans Frauen sollte ihnen nicht die Weiblichkeit absprechen oder sie in eine Ecke drängen als 'spezielle Frauen', die nicht sind wie die anderen Frauen." Adichie hätte die Chance nutzen sollen, zu diesem berechtigten Kern der Kritik Stellung zu nehmen.
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