Rituale zur Bundestagswahl

Nüchtern statt festlich

09:30 Minuten
Eine Frau wählt im Wahllokal bei der Europawahl 2019 in der Wahlkabine in der traditionellen Schwarzwälder Bollenhuttracht.
In Tracht zur Abstimmung: Auch so kann man das Wählen zelebrieren. © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Barbara Stollberg-Rilinger im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 24.09.2021
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Es ist ein wichtiger demokratischer Akt, doch hierzulande wird das Wählen einfach und schlicht gehalten. Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger vermisst Rituale, die die Bedeutung der Stimmenabgabe unterstreichen.
Am Sonntag wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Kein Tag wie jeder andere, meint Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin und Ritualforscherin am Wissenschaftskolleg Berlin. Deswegen empfindet sie es als wichtig, dass jede Bürgerin und jeder Bürger - als Mitglied des Souveräns - dies auch auf eine bestimmte Art zelebriert.

In großen Gruppen an die Urne

Hierzulande laufe der Wahlakt indes recht nüchtern ab, bedauert sie. Das mache es zwar einerseits einfach, das Wählen zu organisieren, doch gehe damit auch das Feierliche verloren, "obwohl es ein ganz bedeutender politischer Akt ist".
Die Nüchternheit stehe "im großen Kontrast zur wirklich fundamentalen Bedeutung für die Demokratie". Schöner wäre es beispielsweise, wenn die Menschen in größeren Gruppen ins Wahllokal gingen, findet die Historikerin.
Auch Politiker hätten Wahlrituale, so die Wissenschaftlerin. Sie zeigten damit, dass sie Wähler seien wie alle anderen Bürger auch – und keine Monarchen.
Bedauerlich sei die Tendenz, dass immer mehr Menschen per Briefwahl abstimmten, sagt Stollberg-Rilinger. Dadurch gehe die Unmittelbarkeit der Wahl verloren. Auch könne gezielt Misstrauen geschürt werden, um das Vertrauen in die Abstimmung zu untergraben.
Als Beispiel verweist Stollberg-Rilinger auf die USA, wo Ex-Präsident Donald Trump nach seiner Niederlage bei der Präsidentschaftswahl behauptete, bei der Briefwahl sei massiv betrogen worden. Die Beweise dafür ist er allerdings bis heute schuldig geblieben.

Wahlen als Volksfeste

Doch auch in Deutschland sei das Vertrauen in die Briefwahl geringer, so die Ritualforscherin. Das zeige sich unter anderem daran, dass der Bundeswahlleiter auf die Korrektheit der Abstimmungsart hingewiesen habe. Sie selbst gehe, wenn möglich, persönlich zur Wahl und sei auch schon Wahlhelferin gewesen, betont die Historikerin.
In anderen Zeiten und Ländern sei der Wahlakt weniger nüchtern als in Deutschland gewesen, berichtet Stollberg-Rilinger. So seien die Abstimmungen in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts mit exzessiven Volksfesten verbunden worden. Dabei sei es allerdings auch zu gewalttätigen Übergriffen auf Schwarze gekommen, die am Wählen gehindert werden sollten.
(rzr)
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