Zukunftsskepsis allerorten

Im Zeitalter der Resignation

04:37 Minuten
Illustration einer Person, die ihren Kopf in den Sand steckt
Der Historiker René Schlott nimmt eine resignative Grundstimmung wahr. © Getty Images / iStockphoto / Aleksei Morozov
Überlegungen von René Schlott · 26.08.2022
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Eine Kündigungswelle hat die USA erfasst, von der "Great Resignation" ist die Rede. Ähnlich sieht es hierzulande aus. Für den Historiker René Schlott stehen die Zeichen insgesamt auf Rückzug, zu dem auch Verzicht und Verzweiflung gehören.
Wer seinen Sommerurlaub in diesem Jahr in den USA verbringt, der erlebt Restaurants, in denen man eine Stunde auf einen Tisch warten muss, auch wenn nur die Hälfte der Plätze überhaupt besetzt ist. Und er kommt in Hotels und Motels, in denen der tägliche Zimmerservice eingestellt ist. „Wegen Corona“, erklärt man dem Gast an der Rezeption.
Doch der eigentliche Grund ist der eklatante Mangel an Arbeitskräften. Kaum ein Café oder Restaurant, kaum ein Geschäft oder Dienstleistungsbetrieb, kaum ein Lieferwagen oder LKW an dem nicht das Wort „Hire“ in Großbuchstaben zu lesen ist: „Wir stellen ein.“ Überall wird händeringend und ab sofort Personal gesucht. Hierzulande ist es inzwischen nicht viel anders. In der US-amerikanischen Öffentlichkeit wird das Krisenphänomen unter dem Schlagwort der „Great Resignation“, der „großen Kündigungswelle“, diskutiert.

Viele Gründe für den Personalmangel

Viele Menschen haben sich aufgrund der Corona-Maßnahmen aus ihren angestammten Jobs zurückgezogen, als im Lockdown ganze Branchen vor allem im Tourismus- und Gastrobereich monatelang aufgrund staatlicher Verbote geschlossen worden waren oder ihre Betriebe strikten Restriktionen unterlagen. Für sie war das der Anlass, ihre prekären, schlechtbezahlten und befristeten Arbeitsverhältnisse zu beenden, sich anderswo umzusehen - etwa in den besser bezahlten Impf- und Testzentren - auf Dauer zu Hause und dem Arbeitsleben fernzubleiben oder sich beruflich ganz neu zu orientieren.
Andere lebten von den zusätzlichen staatlichen Leistungen, die die Folgen der Pandemiebekämpfung kompensieren sollten, oder von ihren Ersparnissen, die wuchsen, weil es während der Pandemie weniger Gelegenheiten gab, Geld auszugeben. Wieder andere nutzten die pandemische Zäsur als Einschnitt in ihrer Biografie und wollten nicht nur ihre Jobs, sondern gleich ihr Leben ändern, in dem die Arbeit nicht mehr erste Priorität sein sollte.

Millionen freiwillige Kündigungen in den USA

Eine kürzlich im „Wall Street Journal“ erschienene Karikatur zitiert das berühmte Foto „Lunch atop a Skyscraper” aus dem Jahr 1932, das elf auf einem Stahlträger sitzende Arbeiter beim Bau des New Yorker Rockefeller Center in luftiger Höhe zeigt. In der aktuellen Karikatur sitzt “Uncle Sam” nun allein auf einem Stahlträger und hält ein “Help Wanted”-Schild in der Hand. Allein im Jahr 2021 quittierten Millionen Amerikaner freiwillig ihren Job. Dabei ging vor allem die Zahl der arbeitenden Mütter zurück. Auf diesen beispiellosen Exodus geht der Ausdruck „Great Resignation” zurück.
Ein Blick ins Wörterbuch offenbart aber auch weitere Bedeutungsebenen des Begriffes „Resignation“, der eben nicht nur als Rückzug, sondern auch als Verzicht interpretiert werden kann – als ein Sichfügen, ein Sichergeben ins Schicksal oder ein Verzicht aus Verzweiflung. Und der Verzicht wird derzeit allerorten als neuer Zeitgeist gepredigt: der Verzicht auf die Flugreise und das Fleischgericht zugunsten des Klimas, der Verzicht auf die warme Dusche und das geheizte Wohnzimmer im Winter zugunsten der Ukraine, der Verzicht das Gesicht zu zeigen zugunsten der Volksgesundheit, der Verzicht auf Kinder zugunsten der Menschheit. All das verstärkt eine ohnehin resignative Grundstimmung weiter.

Verzweiflung allzu verständlich

Denn angesichts der derzeit medial und politisch zirkulierenden Zukunftserwartungen aus Klimakatastrophe und Energienotstand, aus drohendem Atomkrieg und neuen Pandemien, sozialen Unruhen und Bürgerkriegsszenarien ist neben dem Verzicht auch die Verzweiflung nur allzu verständlich. Jeder Fortschrittsglaube ist perdu und was sollte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wiederbeleben?
Das Vertrauen in Institutionen erodiert, die gesellschaftliche und soziale Spaltung vertieft sich, die Zweifel an der Problemlösungskompetenz von Technik und Wissenschaft wachsen. Der „große Rückzug“ erfasst inzwischen auch andere gesellschaftliche Teilbereiche: Theater und Kinos bleiben leer, die Wahlbeteiligung sinkt, Innenstädte veröden, weil die Menschen nicht aus ihren Homeoffices zurückkehren und lieber von zu Hause aus arbeiten. Und so mehren sich die Anzeichen dafür, dass die „große Resignation“ über den engen ökonomischen Bereich hinaus zur Signatur unseres Jahrzehnts werden könnte.

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Er wurde 1977 in Mühlhausen geboren und studierte nach einem Diplom der Betriebswirtschaft Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. 2011 wurde er mit einer kommunikationshistorischen Arbeit an der Universität Gießen promoviert.

Porträt des Historikers René Schlott
© Angela Ankner
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