Raynor Winn: "Der Salzpfad"

Mit Zelt und Rucksack in ein neues Leben

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Buchcover: Der Salzpfad von Raynor Winn
Dreieinhalb Monate auf Wanderschaft: Raynor Winn erzählt in "Der Salzpfad" von ihrem Trip an den unteren Rand der Gesellschaft. © Mairdumont Reiseverlag / Deutschlandradio
Von Frank Kaspar · 16.07.2019
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Die Eheleute Winn wurden aus der Bahn geworfen. Um ihre Würde zurückzugewinnen, beginnen sie, die Südküste Englands zu bewandern. Herausgekommen ist ein Reisebericht voller Menschlichkeit.
Das Haus gepfändet, die gemeinsame Zukunft ungewiss: Raynor Winn und ihr Ehemann stehen nach mehr als 30 Jahren Ehe vor dem Nichts. Auf einer Wanderung entlang der Küste Südenglands schöpfen sie neue Hoffnung.
Sie haben einen Sohn und eine Tochter großgezogen. Auf ihrer Farm in Wales durften Schafe und Hühner alt werden, und Urlauber aus der Stadt genossen bei ihnen das Landleben. Dann aber verlieren Raynor Winn und ihr Ehemann Moth in einem Rechtsstreit die Farm und bei Moth wird eine unheilbare Nervenkrankheit diagnostiziert.

Wie viermal den Mount Everest erklimmen

Auf einen Schlag stehen beide ohne Zuhause, ohne Einkommen und mit der drohenden tödlichen Erkrankung da. In dieser ausweglosen Lage packen sie ein Zelt und das Allernötigste in zwei Rucksäcke und beschließen, den Sommer auf dem Küstenweg zu verbringen. "Wie cool", kommentiert der erwachsene Sohn. "Seid ihr verrückt?", fragt die besorgte Tochter.
Dass sie den Weg, von dem ihr Buch erzählt, einmal zu Fuß bewältigen würden, hätte sich Raynor Winn nie träumen lassen. Mehr als tausend Kilometer lang und oft kaum 30 Zentimeter breit: Das ist der South West Coast Path, Englands längster ausgeschilderter Fernwanderweg. Mit gut 35.000 Höhenmetern entlang der Küsten von Somerset, Devon und Cornwell bis nach Poole Harbour in Dorset haben Wanderer dort fast so viel zu klettern, als wollten sie viermal den Mount Everest erklimmen.
Dreieinhalb Monate waren die beiden unterwegs, zelteten wild und lebten von seiner Ausgleichsrente: rund 50 Euro pro Woche. "Der Salzpfad" ist kein Survival-Leitfaden, auch wenn die beiden Wanderer sich streckenweise von Brombeeren und Löwenzahn ernähren und um Gasthäuser meist schweren Herzens einen Bogen machen. Im Mittelpunkt dieses Buches, das in Großbritannien zum Überraschungserfolg wurde, stehen treffsicher skizzierte Porträts von Land- und Gastwirten, von Naturschwärmern, Surfen und Soldaten, von Bettlern und besser gestellten Outdoor-Profis, denen die beiden auf ihrer Wanderung begegnen.

Ein Melodrama – ohne tränenselig zu sein

In lakonisch knappen Dialogen und mit feiner Selbstironie erzählt Raynor Winn von diesem Trip an den unteren Rand der Gesellschaft. Nicht zufällig fügt sie gleich zu Beginn einen Exkurs über die Ächtung und strafrechtliche Verfolgung von Bettlern und Landstreichern in Großbritannien seit dem 14. Jahrhundert ein. Durch ihre prekäre Situation werden sie und ihr Mann zu Vagabunden wider Willen. Ihre unfreiwillige Außenseiterposition verändert den Blick der beiden Wanderer auf ihre Mitmenschen.
Als Motto hat Raynor Winn ihrem Buch den ersten Satz der Odyssee vorangestellt: "Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege." Ihr Buch erzählt davon, wie zwei, die weit aus der Bahn geworfen wurden, ohne klares Ziel loslaufen, um sich ihr Leben und ihre Würde zurückzuholen: Etwas Besseres als Verzweiflung finden sie überall. Dabei hat die Britin keine Angst vor Melodramatik, aber tränenselig wird sie nie. "Der Salzpfad" ist ein Reisebericht voller Menschlichkeit und Herzenswärme.

Raynor Winn: "Der Salzpfad"
Aus dem Englischen von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair
Mairdumont Reiseverlag, Ostfildern 2019
336 Seiten, 14,99 Euro

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