Schon zur Römerzeit ein widerspenstiges Inselvolk
29:43 Minuten
Vom Kontinent droht Gefahr – das Gefühl scheint sich tief in das Bewusstsein der Briten eingegraben zu haben. Genauso wie die Mythen um ihre Widerstandskraft. Die bekamen schon die Römer zu spüren, die auf der Insel Blut, Schweiß und Tränen vergossen.
Legendär für den typisch englischen Witz ist die Komikertruppe Monty Pythons Flying Circus. Von ihr stammen so legendäre Filme wie "Die Ritter der Kokosnuss", in dem sie die Ritter der Tafelrunde um den mythischen König Artus veräppelt, oder "Das Leben des Brian", in dem Jesus Christus und seine Gläubigen dem Witz dieser Truppe anheimfallen.
Neben der Erfindung der Dampf-Eisenbahn, dem Rolls Royce und den Beatles sind Monty Python sicher einer der wichtigsten britischen Beiträge zur internationalen Kultur.
Die Eisenbahn fährt mittlerweile in Frankreich, Deutschland und Japan schneller als in England, Rolls-Royce gehört seit der Jahrtausendwende zu BMW, die Beatles haben sich 1970 aufgelöst und Monty Python zunächst 1983, dann endgültig 2014. Schon Jahre vor dem annus horribilis, dem annus brexiti, hatte Britannien schwere Verluste hinnehmen müssen.
Es gibt einen kurzen Film aus dem Jahr 1983, in dem Monty Python einen Aufstand schildert. In einer altbackenen Versicherungsgesellschaft schuften die Beamten wie Sklaven - gebeugte, verlebte Männer und Frauen.
Dann raffen sie sich auf. Ihr traditioneller Versicherungspalast mit Putten und Säulen verwandelt sich in ein Piratenschiff. Mit geblähten Segeln reißt es sich aus den Fundamenten los und nimmt Fahrt auf. In den oberen Etagen werden Lineale zu Kurzschwertern, Hängeregister feuern Breitseiten von Akten aus dem Fenster und durchlöchern so die glitzernde, glatte Fassade des ultramodernen Konkurrenzunternehmens.
Die alten Zausel wollen es den modernen Zeiten noch einmal zeigen. In Ärmelschonern entern sie die gesichtslos-moderne Festung des Finanzkapitals und attackieren die Versicherungsagenten in ihren Einheitsanzügen der Londoner City. Chaos bricht aus.
Manch einem erscheint in diesen Tagen der 30 Jahre alte Sketch wie eine Parabel auf den Austritt Britanniens aus der Europäischen Union. Das alte Britannien bläst zum Angriff, der Schlachtruf lautet "Brexit"!
"Sagen wir mal so: Gestimmt hat mehr als die Hälfte der Abstimmenden. Wir wissen ja, dass die jungen Wähler, also etwa bis zum Alter von 30, nur minimal überhaupt zur Abstimmung gegangen sind. Es hat sich nur eine bestimmte Zahl von Briten, und besonders eben die älteren Briten, sehr stark beteiligt."
Andrew James Johnston ist Professor für Englische Philologie an der Freien Universität Berlin. Ein Renaissance-Spezialist.
Geschichtlich, erdgeschichtlich, standen sich Britannien und der Kontinent schon mal näher. Während der letzten Eiszeit war das Wasser zu Schnee und Eis verklumpt und nahm dementsprechend weniger Raum ein. Das, was heute der Ärmelkanal ist, lag in der damaligen Periode trocken. Lediglich in der Mitte der heutigen Kanals floss, so vermuten Geologen, ein Fluss, der in europäischer Eintracht sowohl vom Rhein, von der Seine und der Themse gleichermaßen gespeist wurde.
Vor etwa 10.000 Jahren endete die Eiszeit. Schnee und Eis verflüssigten sich und füllten nach und nach den Kanal. Britannien schwamm dem Kontinent davon. Seitdem wird dort - zum Erstaunen vieler Kontinentaleuropäer - alles, was sich nicht auf der Insel befindet, als "overseas" eingestuft: als jenseits des Meeres liegend. Cuxhaven oder Curacao - alles "overseas".
"Ja, es gibt ja diesen berühmten Witz: 'Sturm im Kanal, der Kontinent ist abgeschnitten!' Wo wir natürlich sagen würden: Wer ist da eigentlich abgeschnitten? Der Kontinent nimmt sich als Festland wahr und Großbritannien als die Insel, diese Perspektive ist genau umgekehrt."
Alles ist halt eine Frage der Perspektive. Und die hat sich, seitdem die Kelten das Land besiedelten, nicht verändert. Im Jahr 43 nach Christus eroberten die Römer das keltische Britannien – nicht mittels römischer Verträge, sondern mittels römischer Soldaten. Die arbeiteten sich ziemlich weit nach Norden vor, aber im schottischen Hochland war Schluss: gegen die Schottland bewohnenden Völker konnten sie sich nicht durchsetzen.
Also blieben sie im Süden und in der Landesmitte und errichteten über 300 Jahre lang eine römische Kultur mit allem, was dazu gehört: Unterdrückung der Besiegten und Fußbodenheizung, öffentliche Bäder und brutale Steuerforderungen, wohlgeordnete Städte und blutige Gladiatorenspiele.
Königin Boudica, die das Imperium herausforderte, wird von dem Geschichtsschreiber Cassius Dio so beschrieben:
"Sie selbst war hochgewachsen, gar furchterregend in ihrer Erscheinung, und ihr Auge blitzte."
Für einen Mittelmeeranrainer ein mutmaßlich erschreckendes Bild.
"Dazu besaß sie eine raue Stimme."
Boudica als Symbolfigur für das unbeugsame England
Der Feldzug unter Königin Boudica verlief zunächst so erfolgreich, dass man sagte, Kaiser Nero habe mit dem Gedanken gespielt, die Unruheinsel gänzlich aufzugeben. Immer mehr Stämme schlossen sich Boudica an. Doch in der Entscheidungsschlacht 61 nach Christus unterlagen die Aufständischen. Aber es hatte die römische Großmacht viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet, um das widerspenstige Inselvolk in die Knie zu zwingen.
Boudica fiel dem Vergessen anheim. Im 19. Jahrhundert aber erlebte sie ihre Wiederauferstehung: als nationale Symbolfigur für das unbeugsame England. An der Westminster Bridge steht seit 1902 eine Figurengruppe, die Boudica und ihre Töchter auf einem Streitwagen zeigt, offenbar bei einer Attacke. "Wir gegen die anderen! Wir erobern ein Weltreich!" Das ist die Botschaft, die sie verkörpert.
Was ist stärker: der Stolz der Großmacht, die in ihren besten Zeiten die Weltmeere beherrschte, oder der Eigensinn, der aus der geografischen Lage resultiert?
"Aber man kann natürlich feststellen, dass manche Briten vor allem der älteren Generation sich einen Habitus erworben haben, über Erziehung, über das Geschichtsverständnis, über das, was sie in der Schule lernen, was sie nicht lernen, was die Medien ihnen bieten, das Empfinden: 'Wir sind etwas Besonderes, wir gehören zwar zu Europa, geografisch, aber wir haben einen eigenen Status.'"
Gesa Stedman ist Professorin am Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin. Spezialistin für Literatur und Kultur des Inselvolkes.
Schauen wir noch einmal zurück in jene Zeit, als die Südhälfte der Insel ein Außenposten des Römischen Reichs war. Diese Zeit endete im 5. Jahrhundert, als das Imperium Romanum seine Kraft verlor und die römischen Truppen das Weite suchten. Was sie hinterließen, war ein Machtvakuum. Die römisch-keltische Bevölkerung, die in den vergangenen drei Jahrhunderten entstanden war, konnte die Macht des Imperiums kaum ersetzen.
Als erste stießen die Pikten aus Schottland in das Vakuum und nahmen, was sie kriegen konnten. Dann vereinigten sich im heutigen Norddeutschland und Dänemark die Angeln, Sachsen und Jüten und stiegen in die Boote. Früher hatten sie nur kleine Überfälle gestartet, jetzt übernahmen die Festlandskrieger die Insel, um zu bleiben.
500 Jahre lang herrschte angelsächsische Ruhe, dann kamen 1066 mit Wilhelm dem Eroberer an der Spitze die Normannen aus Frankreich. Nicht weniger brutal als die Römer gingen sie auf die keltisch-römische Bevölkerung los. Die heimischen Truppen setzten den Normannen so viel Widerstand entgegen, wie eben möglich war. Angeblich wurde dieser Widerstand geführt von einem König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde mit Wohnsitz Camelot.
Geschichte besteht aus Geschichten, sie hat irgendwas mit Vergangenheit zu tun, aber die Vergangenheit selbst muss sie nicht sein. Historisch ist Artus nicht nachweisbar, aber es wäre doch schön gewesen, wenn es einen wie ihn gegeben hätte, einen wirklich guten König, umgeben von einer Schar ergebener Kämpfer.
So entstand einer der zahlreichen Mythen, in denen die Briten sich beschreiben. Anders als der Boudica-Mythos war die Artus-Saga nicht nur ein Bestseller in der nationalen britischen Mythologie, sondern auch ein Exportschlager in der europäischen Literatur. Sogar in den Filmen von Hollywood hat sich diese Kultfigur erhalten. Artus, der Kämpfer, der die heimische Insel gegen die Eroberer vom Kontinent verteidigt - nicht erfolgreich, aber tapfer bis zum Untergang.
Allmählich verfestigte sich dieses "Wir"- Gefühl in der beständigen Bedrohung, die von außen kam. Von "overseas". Mit gelegentlich recht drolligen Episoden.
Über die Jahrhunderte hinweg lieferten sich Engländer und Franzosen Auseinandersetzungen und Kriege mit einer solchen Hingabe, dass man wohl von einer solide gewachsenen Hassliebe sprechen darf. Mehrmals standen die Engländer auf französischem Boden, manchmal versuchten im Gegenzug die Franzosen, auf der Insel Fuß zu fassen. 1797, acht Jahre nach der Französischen Revolution, wagten sie dieses militärische Abenteuer. Es endete mit dem überwältigenden Sieg einer zutiefst englischen Waffe.
In der Bretagne und dem Department Vendée hatten sich nach der Französischen Revolution noch Widerstandsnester von Monarchisten und Separatisten erhalten. Von England wurden sie mit Waffen und Material unterstützt.
Aber die Revolutionäre waren stärker, sie besiegten die Monarchisten, und den Franzosen kam nun der Gedanke, den Spieß umzudrehen. Man könnte doch beispielsweise die unterdrückten Iren oder die Waliser gegen die britische Krone aufhetzen.
Da zu dieser Zeit der im Aufstieg begriffene Napoleon einen Krieg gegen Italien führte, waren an regulären Truppen nur 600 Mann verfügbar. Also wurden Gefängnisse und sonstige niedrigschwellige Einrichtungen leergefegt, um die Ränge aufzufüllen. Noch mal 800 Mann mit undurchsichtigem Hintergrund kamen so zusammen, militärisch kaum ausgebildet und an keine Disziplin gewöhnt.
Es gelang der Flotte, in Wales anzulanden und ihre Soldaten auszuschiffen. Weil englische Truppen nicht in Sicht waren, befahl der Kommandeur seinen Leuten, sich aus dem Land zu versorgen, sprich: die Umgebung zu plündern, um sich was zu essen zu besorgen. Das war ein militärisches Manöver, das insbesondere den Ex-Häftlingen schlagartig einleuchtete. Sie stahlen und raubten mit Hingabe.
Das britische Trauma: Angriff durch Nazi-Deutschland
Nun war einige Zeit zuvor ein portugiesisches Frachtschiff an einem nahegelegenen Küstenabschnitt gestrandet, das große Mengen Wein geladen hatte. Die Strandbewohner hatten, dem Strandrecht folgend, die Ladung des Havaristen in ihren Besitz und nach Hause gebracht. Die eben erst haftentlassenen Plünderer trafen auf die Weinlager. Die Folgen kann man sich ausmalen.
Unterdessen hatten die Briten von der Invasion Kenntnis genommen. Sie hatten Truppen und lokale Milizen herangeführt und nahmen den Kampf auf. Der nicht sehr heftig ausfiel. Oft genug reichte es, wenn ein wütender Bauer einem betrunkenen Franzosen ein Stück Brennholz über den Schädel zog.
Nach zwei Tagen war die "grande armée", der Rest, der noch stehen konnte, umzingelt und bat um die bedingungslose Kapitulation. Die Insel hatte den Kontinent abgeschlagen.
Monty Pythons Flying Circus hätte diese Geschichte der erfolgreichen Abwehr kontinentaler Übergriffe nicht besser inszenieren können.
Die Episode ist nicht unwichtig, denn mit diesem "overseas"-Überfall endete die letzte Invasion, bei der es den Angreifern gelang, britischen Boden zu betreten. Jetzt hingegen wandte sich Britannien der Welt zu und begann, sie zu erobern. Andrew Johnston:
"Im Jahr 1922, also einer Zeit, in der das Empire eigentlich schon machtpolitisch seinen Zenit überschritten hatte, hatte es in der Ausdehnung, seinen größten Punkt erreicht, so dass Großbritannien im Grunde ein Viertel der Fläche der Welt und ein Fünftel der Weltbevölkerung beherrschte."
Dieser Erfolg schuf eine besondere Selbst-Wahrnehmung.
"Und vor diesem Hintergrund war es für die Briten einfach ganz leicht, sich in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden und das Gefühl zu haben, dass die Welt ihre eigene Welt ist. Das führte tatsächlich zu einem anderen Blick auf die Welt."
"Rule Britannia! Britannia, rule the waves! Britains never shall be slaves!"
Diesen Stolz, niemals unterjocht zu werden, griff Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg an – bis heute ein britisches Trauma, obwohl die Angreifer abgeschlagen wurden.
"Also wenn Sie mal schauen, was es für Fernsehserien und Filme allein in den letzten zwei bis drei Jahren über das Ereignis von 1940 gab, immer und immer wieder wurde dieses Thema bearbeitet, ist so diese Idee: 'Wir haben im Jahr 1940 die Entscheidung getroffen, die die andern nicht treffen konnten oder wollten, wir haben Widerstand geleistet und damit haben wir Europa gerettet.'"
Jochen Buchsteiner, der England-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schreibt in seinem Buch über "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie":
"Von der Spanischen Armada über Napoleon bis zu Hitler - aus britischer Sicht war es stets das Königreich gewesen, das Despotie und Aggression auf dem Kontinent erfolgreich bekämpft hat. Erwachsen ist das Selbstvertrauen, in internationalen Konflikten gleichsam instinktiv auf der richtigen Seite zu stehen - und überdies ein gänzlich ungetrübtes Verhältnis zu Nation."
Daraus resultiert, sagt Andrew Johnston…
"… so ein Unverständnis. Es heißt in der Welt immer, die Engländer hätten nicht verarbeitet den Verlust ihres Kolonialreichs. Jaaaa, aber das haben die Franzosen auch nicht verarbeitet. Ich glaube, was bei den Briten tatsächlich schwer wiegt, ist dieses Gefühl, wir haben im Grunde den Zweiten Weltkrieg für die anderen gewonnen. Nicht für uns, sondern für die anderen, und dennoch haben wir dafür nicht die Anerkennung bekommen. Die Weltmacht wurde Amerika, und der Blick war sozusagen auf Amerika als Retter der Welt, wenngleich doch der entscheidende Moment eigentlich der war, als die Briten allein mit dem Rücken zur Wand standen."
Der Kampf gegen die braunen Horden vom Kontinent wurde ein generationenübergreifendes Narrativ. Premierminister Winston Churchill reihte sich ein - wie Boudica, wie König Artus - in die Galerie der nationalen Helden. James Hawes, Schriftsteller und Hochschullehrer, kann sich an seine Jugend und die Heldentaten erinnern, die er im Fernsehen sehen konnte.
"Ich zum Beispiel als männlicher Jugendlicher in England in den 60er-Jahren, mir wurde fast nichts als Lesemittel angeboten als was mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Auch im Fernsehen, auch im Kino. Wir stecken ja immer noch in der 'guten alten Zeit'."
James Hawes beschreibt diese Fixierung auf den unbestreitbar heroischen Sieg über Nazi-Deutschland fast wie eine Indoktrination.
"Ich glaube, dass es sehr, sehr viele meiner Landsleute gibt, die ehrlich glauben, dass ein Engländer mehr wert ist als jedes andere Wesen auf der Welt. Leider. Sie müssen das verstehen, wie besessen das Land ist von der Vergangenheit."
Der Weltmachtstellung beraubt
Auch Professor Stedman sieht in dieser Mythenbildung in den 50er-, 60er-, und 70er-Jahren die Grundausbildung für eine eher eigenwillige Wahrnehmung der Welt.
"Nostalgie ist ein wichtiges Stichwort, auch wieder für die ältere Generation, die sich zurücksehnt in eine mythische Vergangenheit. Nicht in die reale Vergangenheit. Wenn man nämlich genauer hinguckt, die katastrophalen ökonomischen Zustände nach dem Zweiten Weltkrieg, also es gab sehr viel länger Rationierungen in Großbritannien als in jedem anderen Land, und trotzdem hat sich ein bestimmtes Image gehalten. Es wurde aber auch genährt, unter anderem durch die vielen Filme, die immer wieder das Besiegen der Nazis thematisiert haben, immer und immer und immer wieder."
Der größte Sieg der Geschichte - entwertet in der Wahrnehmung der Welt. Und dann noch das Empire verloren - von außen kann man diesen Bruch in der britischen Geschichte als einen Phantom-Schmerz bemitleiden, im Land selbst ist das Verlustempfinden real und schmerzhaft.
"Ich glaube, im Moment ist das englische Volk am ehesten mit dem russischen zu vergleichen, das heißt beide diese großen Völker glauben, dass ihnen irgendwie zu Unrecht eine Weltmachtstellung geraubt worden ist durch irgendeine Verschwörung. Wer weiß, was die Russen denken, aber die Engländer denken, das sei vorwiegend eine deutsche Verschwörung, genannt EU."
Seit den Vereinbarungen von Maastricht 1993, bei denen die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik vereinbart wurde, wuchs in Großbritannien der Widerstand gegen die EU. Nigel Farage gründete seine Ukip-Partei und die Anti-EU-Stimmung nahm Fahrt auf.
"Man kann sehen, wenn man jetzt rückguckt, wie sie immer stärker um sich selbst gekreist haben und überhaupt nicht mehr in internationalen Konflikten oder Situationen sich zu Wort gemeldet haben, Diplomaten mitgeschickt haben, immer weniger mit Ausnahme des Blicks auf die USA. Da haben sie ja die Vorstellung von sich selbst als in einer 'special relationship' sich befindend, auch das fußt offensichtlich eher auf Nostalgie als auf tatsächlicher Realität, das heißt, sie haben sich immer stärker abgewandt, sich immer stärker mit sich selbst beschäftigt, und der Brexit und die Diskussion ist natürlich der Gipfel."
1994 wurde dann auch noch der Kanaltunnel eingeweiht - eine dauerhafte, technisch hochleistungsfähige, von Wind und Gezeiten unabhängige Verbindung zwischen Insel und Kontinent. Fast 100 Jahre zuvor hatte es schon einmal einen solchen Versuch gegeben, aber der war 1882 abgebrochen worden, weil sich in Großbritannien die Angst vor einer französischen Invasion ausbreitete. Ein Jahr nach Maastricht mit seinen Vereinigung-Visionen wurde der Tunnel dann Wirklichkeit.
Ein Supergau für alle Isolationisten. Und dann das: Im Januar 2018 schwärmte ausgerechnet die Sturmspitze der Brexiteers, Boris Johnson, von einer 32 Kilometer langen Brücke zwischen Insel und Kontinent, um nach dem Brexit den Handel mit der EU zu intensivieren.
Boris Johnson, der Mann mit der außergewöhnlichen Frisur, war Schüler auf sehr teuren Schulen gewesen und studierte in Oxford Klassische Altertumswissenschaft. Was uns zu einer weiteren Wurzel der Brexit-Entscheidung führt. Wir dringen vor in die englische Klassengesellschaft.
So wie der Kolonialismus eine politische Antiquität ist, so ist auch die britische Klassengesellschaft eine Antiquität - aber beileibe kein Ladenhüter.
"Als Boris Johnson im November 2013, damals noch als Londoner Bürgermeister, die erste 'Thatcher-lecture' nach dem Tod der langjährigen Premierministerin hielt…"
… schreibt "FAZ"-Korrespondent Jochen Buchsteiner
"… warf er sich für die Superreichen in die Bresche und schlug, halbernst, vor, sie für ihre überproportional hohen Steuerzahlungen zu Rittern zu schlagen. Zugleich bekannte er: 'Ich glaube nicht, dass wirtschaftliche Gleichheit möglich ist; tatsächlich ist ein gewisses Maß an Ungleichheit essentiell, um den Geist des Neids aufrecht zu erhalten, der… wie die Gier ein wertvoller Antrieb wirtschaftlicher Aktivität ist.'"
Das lässt sich leicht lehren, wenn man aus vermögendem Haus kommt, so wie Boris Johnson oder der Melone tragende Jacob Rees-Mogg, ebenfalls Oxford-Absolvent, leidenschaftlicher Brexiteer und mehrfacher Millionär.
"Die Engländer, die normalen Engländer, sind eigentlich seit 200 Jahren in Großbritannien, in dem Vereinigten Reich versenkt worden unter einer Elite, die sich als großbritannisch, bzw. empire-haft verstand. Und das jetzt, das ist sozusagen eine Reaktion gegen ein sehr langfristiges Gefühl der Unterdrückung des englischen Volkes, wenn ich das Wort 'Volk' hier benutzen darf."
Sagt James Hawes. Folgt man ihm, dann war der Brexit ein ungeschickter Hieb von unten, der die EU traf, aber die eigenen Leute da oben treffen sollte. Gesa Stedman:
"Das hat natürlich auch eine starke Motivation gehabt, dass Leute endlich das Gefühl hatten: Jetzt habe ich mal die Möglichkeit, politisch zu handeln. Dass das gegen die eigenen Interessen ist, auch gegen die eigenen ökonomischen und sozialen Interessen, war vielen nicht unbedingt bewusst und darum ging es auch nicht. Das ist sozusagen eine fehlgeleitete Form von Handlungsmacht, die sie sich erobert haben in dieser einen Entscheidung."
Der irische Journalist Fintan O´Toole analysierte, dass der Brexit von zwei Vermutungen befeuert wurde:
"Die erste Annahme lautet, dass exzentrisch zu sein nicht nur eine persönliche Kuriosität ist, sondern Ausdruck des englischen Nationalcharakters und deshalb eine Angelegenheit von politischer Bedeutung. Und dass dieser Nationalcharakter, so die zweite Annahme, bedroht ist."
Eliteinternate als Brutstätten für Machtspiele
Als Kontinentaleuropäer fällt es schwer sich vorzustellen, dass englische Exzentriker - wir kennen gerade einmal Oscar Wilde oder Edith Sitwell -, politische Entscheidungsmacht erringen können, nur weil sie sich irgendwie unorthodox geben mit moppartiger Frisur oder Bowler-Hut. Auf der Insel sieht man das anders, erklärt James Hawes:
"Denn diese ganze englische Elite wird in ein paar, in drei, vier Eliteinternaten erzogen. Und das sind Brutstätten für Machtspiele. Stellen Sie sich vor, ein junger Mann, der verbringt seine ganze Zeit unter anderen jungen Männern. Alles Reiche, alle aus der Elite. Es gilt nur, sich durchzusetzen mit allen Mitteln. Irgendwie."
"Ich würde wieder, auch wenn es eigenartig klingt, mit einem Klassenargument kommen: Das kann man sich nur leisten, wenn man es sich leisten kann. Und die Exzentriker - es gibt natürlich ein paar Punks, es gibt Vivianne Westwood und ähnliche Gestalten - aber ansonsten leisten sich das Menschen mit privatem Einkommen.
Die brauchen keinem Beruf nachzugehen, die müssen nicht leben von den Einkünften eines Parlamentariers, die haben andere Einkommensquellen und deswegen ist es auch egal. Wenn sie jetzt merken, sie dringen jetzt doch nicht mehr damit durch oder sie haben ihr Ziel erreicht, dann können sie das lassen. So wie man ein Hobby betreibt. Und das kann man dann, wenn man müde geworden ist, sein lassen und sich dann einen neuen Garten zulegen. Oder ein neues Reitpferd kaufen oder wonach auch immer einem der Sinn steht."
Wie in vielen anderen Ländern gibt es aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung, begünstigt durch die Finanzkrise von 2008, wo noch einmal deutlich wurde, wie fragil das weltwirtschaftliche System ist, auch in Großbritannien massive Ängste vor der Zukunft. Die natürliche Reaktion auf Ängste vor Zukunft ist die Rückwendung in eine erfundene Früher-war-alles-besser-Vergangenheit. Davon ist unberührt, ob diese Rückkehr sinnvoll ist oder nicht. Nostalgie erfreut das Gemüt und beruhigt das Herz. Und natürlich erscheint die Vergangenheit immer rosiger, als sie tatsächlich war.
"Ja, wie ich gesagt habe, das ist eine sehr lange Geschichte in England, die danach trachtet zu beweisen, dass England immer am stärksten war, wenn es alleine stand. Was immer verlogen gewesen ist, und das ist irgendwie durchgesetzt worden, seit vielen Generationen. Der normale Engländer glaubt fest daran, glaube ich, denn er ist dazu erzogen worden, Generationen hindurch."
"Tragisch ist, dass es keiner ernst genommen hat."
Sagt Gesa Stedman. Kaum jemand, nicht einmal die Brexiteers, hatten geglaubt, dass das Referendum den Brexit zur Folge haben würde.
"Alle die Jüngeren hielten das für ein absurdes Problem der Tory-Party und waren entsprechend traumatisiert. Tatsächlich ist das Wort benutzt worden von Zeitzeugen, jüngeren Briten, die nicht wählen gegangen sind, weil sie dann am nächsten Morgen aufwachten und feststellten, dass das, was sie gewohnt sind und für normal halten und eigentlich auch positiv finden, dass das bedroht ist."
So bleibt die Frage, ob der Rückzug auf die Insel das letzte Wort für alle Zeit ist – für alle Zeit sowieso nicht, denn der Tag wird kommen, an dem die nächste Eiszeit erneut den Kanal zwischen uns trocken legt und die Insel wieder Festland wird. Hawes lacht.
"Nette Vorstellung, nette Vorstellung. Wissen Sie, die Kultur von Südengland ist immer sehr eng mit Europa verbunden, trotz des Kanals, und würde natürlich noch enger verbunden werden. Südengland würde sich Frankreich anschließen. Es ist kein Zufall, dass David Cameron, Tony Blair, die Queen selber, Nick Clegg, ganz fließend französisch reden, weil der gute Engländer spricht immer Französisch. Man soll keinem Engländer je vertrauen, der kein Französisch spricht, grundsätzlich!"