Sexwork in Belgien

Wie liberale Gesetze das Leben einer Sexarbeiterin verändert haben

Eingang zum Bordell: Eine Straßenlaterne mit einer nackten Frau
Seit Dezember 2024 gibt es in Belgien formal keinerlei Diskriminierung mehr zwischen Sexarbeiterinnen und anderen Arbeitnehmern. Das ist weltweit einzigartig. © IMAGO / Pond5 Images / xegubischx
Von Columba Krieg |
Als erstes Land weltweit hat Belgien ein umfassendes Arbeitsgesetz für Sexarbeitende eingeführt. Für sie gelten nun auch Mutterschutz oder Rentenansprüche. Die Sexworkerin Lisa erzählt, wie dies ihren Arbeitsalltag verändert hat.
Schon als Teenagerin hat Lisa den Traum, als Prostituierte zu arbeiten. Sobald sie 18 ist, macht sie sich an die Umsetzung: Ein Angebot gibt es in ihrem Heimatort – eine kleine Stadt im flämischen Teil Belgiens – nahe ihrer Schule. Der Mann am anderen Ende der Leitung sagt, sie könne vorbeikommen und sich vorstellen.
Auf dem Weg zu dem Termin stellt sie sich den Zuhälter vor: groß, mit einer weiß-goldenen Lederjacke, wie im Film. In Empfang nimmt sie ein sehr kleiner Mann in verschlissener Kleidung. Er zeigt ihr das Apartment, in dem noch zwei weitere Frauen für ihn arbeiten. Er öffnet die Tür zu einem Zimmer: klein, vielleicht vier Quadratmeter, die fast komplett von einem Bett eingenommen sind, ein schmutziger Spiegel.
Er nennt ihr den Tarif: 80 Euro für 30 Minuten, 100 für 45 Minuten und 110 für eine Stunde. Davon bekommt Lisa 60 Prozent, er 40. Für Lisa ist das viel Geld, sie ist dabei. Einen Vertrag gibt es nicht.

Sexarbeit - früher in Belgien im rechtlichen Graubereich

Das ist 2014. Zu dieser Zeit ist selbstständige Sexarbeit in Belgien ein rechtlicher Graubereich. Die Tätigkeit selbst ist nicht strafbar, aber viele Handlungen, die sie unterstützen. Zum Beispiel ist es illegal, Räumlichkeiten an Sexarbeitende zu vermieten. Auch können Prostituierte offiziell keinen rechtlichen Beistand oder einen Kredit bekommen. Lisa sagt, wenn es damals schon klarere Regeln gegeben hätte, dann hätte sie gewusst, dass das, was danach passierte, nicht richtig war.

Unklare Rechtslage begünstigt Machtmissbrauch

Als Lisa anfängt, zu arbeiten, will der Zuhälter Fotos mit ihr machen, um Lisa zu bewerben. Sie gehen in ein Stundenhotel – ein schönes Zimmer, erinnert sie sich. Der Mann macht einige Fotos von ihr, dann sagt er, er müsse sie jetzt „testen“. Also hat Lisa Sex mit ihm. Danach gibt er ihr Feedback, Verbesserungsvorschläge. Geld gibt er Lisa nicht.
Diese Art von Machtmissbrauch kommt im Bereich der Sexarbeit häufig vor, nicht nur in Belgien. Sexarbeitende kennen ihre Rechte nicht oder trauen sich wegen des unklaren rechtlichen Status nicht, bei Problemen zur Polizei zur gehen. Es kommt auch vor, dass Kunden bestimmte sexuelle Handlungen fordern und die Sexarbeitende das Gefühl hat, nicht Nein sagen zu können, weil sie auf das Geld angewiesen ist.

Sexarbeiterin als selbstständige Unternehmerin

Lisa arbeitet inzwischen nicht mehr für den Zuhälter aus ihrem Heimatort, sondern selbstständig als Escort. Das bedeutet, sie trifft sich mit Kunden, die sie teilweise schon seit Jahren kennt und mag, lässt sich von ihnen zum Abendessen ausführen, wird teuer beschenkt.
Nach ein paar Stunden geht es dann meist in einen Vorort der belgischen Stadt Gent. Hier, in einer ruhigen Wohngegend steht ihr Bordell. Von außen unterscheidet es sich kein bisschen von den anderen Einfamilienhäusern.
Nur wenn man hinein und die Treppe in den ersten Stock hinaufgeht, fallen an den Wänden erotische Schwarz-Weiß-Fotos auf. In den Zimmern: große Betten, gedimmtes Licht, Gleitgel, Sexspielzeug. Diese Zimmer vermietet Lisa auch an andere Sexarbeitende. In den Pausen treffen sie sich in der Küche, trinken Tee oder essen ein Müsli.
Lisa mag ihren Job sehr. Sie schätzt die persönliche Verbindung zu ihren Kunden, die Geschenke, ihre finanzielle Unabhängigkeit.

Einschränkungen während Corona

2020 kommt ihr geordneter Alltag ins Wanken. Aus den Nachrichten bekommen sie und ihre Kolleginnen vom Coronavirus mit. Kunden rufen an, fragen sie, wie sie damit umgehen, kommen nicht mehr. Lisa will auch keine Kunden mehr annehmen, sich nicht anstecken, auf der anderen Seite ist sie auf das Geld angewiesen. Dann kommt der Lockdown. Sexarbeit ist eine der ersten Dienstleistungen, die in Belgien verboten werden.
Während der Pandemie wird die Regelung im rechtlichen Graubereich für Sexarbeitende zum Problem. Viele Menschen in der Branche haben offizielle Verträge als Kellner oder andere Dienstleistungsjobs für einige Stunden die Woche, um sich bei der Sozialversicherung melden zu können. Aber auf dieser Grundlage bekommen sie kaum Coronahilfen. Für Lisa kommt dazu: Sie wird schwanger von ihrem Ehemann, einem Handwerker.

Sexwork und der Kampf um Arbeitsrechte

Über eine Organisation, die gesundheitliche Beratung für Sexarbeitende anbietet, kommt Lisa in Kontakt mit UTSOPI (l'Union des Travailleur·euses du Sexe Organisé·es Pour l'Indépendance) – der Gewerkschaft für belgische Sexarbeitende. Wegen Covid und ihrer Schwangerschaft kann sie keine Kunden treffen– aber sie will weiter in dem Bereich arbeiten und für sich und ihre Kolleginnen einstehen. Also nimmt sie einen Job bei UTSOPI an.
Zusammen mit UTSOPI macht sie auf die Dinge aufmerksam, die Sexarbeitenden fehlen: Die Möglichkeit, sich zu versichern, einen Kredit aufzunehmen, Mutterschutz, Krankheitstage.
Im November 2020 steht Lisa hochschwanger in einem Büro im Brüssel. Ihr gegenüber eine Reihe Politikerinnen und Politiker, neben ihr ihre Kolleginnen und Kollegen von UTSOPI. Lisa zeigt auf ihren kugelrunden Babybauch. „Erwartet ihr, dass wir bis in die 38. Woche arbeiten, bis kurz vor der Geburt?“
Im Juni 2022 hat der Protest der Sexarbeitenden und der Gewerkschaft Erfolg. Die Regierung reformiert das Sexualstrafrecht. Diese Entkriminalisierung heißt, dass sie jetzt Unterstützung wie Rechtsberatung oder einen Fahrservice in Anspruch nehmen können. Sie können außerdem legal als Selbstständige arbeiten und haben damit auch ganz offiziell Zugang zu sozialen Rechten wie Krankenversicherung und Rentenansprüchen. Gleiche Rechte wie andere Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen haben sie aber immer noch nicht.

Sexarbeit mit gleichen Arbeitnehmerrechten

Nach der Pandemie kehrt Lisa in ihren eigentlichen Job zurück, mit der Politik hat sie nicht mehr so viel zu tun. Sie arbeitet als Escort und vermietet die Zimmer in ihrem Bordell jetzt ganz legal.
Im Dezember 2024 ist sie 29 und mit ihrem zweiten Kind schwanger. Da bekommt sie einen Anruf, von einem ehemaligen Kollegen von UTSOPI: Die Regierung hat eine weitere Liberalisierung des Prostitutionsrechts beschlossen. Sexarbeitende könnten jetzt als Angestellte arbeiten. Mit einem Lohn pro Stunde, nicht pro Kunde. Damit sind Sexarbeitende praktisch gleichgestellt mit anderen Arbeitnehmenden. Sie haben also das Recht auf Sozialversicherung, Krankheitstage, Urlaubsgeld und Mutterschutz. Außerdem dürfen sie Kunden oder sexuelle Handlungen ablehnen, ohne dass ihr Arbeitgeber sie dafür sanktionieren darf.
Außerdem müssen Arbeitgebende für hygienische und sichere Bedingungen sorgen. In den Medien wird das Gesetz, das seit Dezember 2024 in Kraft ist, als das liberalste Gesetz für Sexarbeit weltweit gefeiert.

Großer Fortschritt mit Haken

Lisa freut, dass Sexarbeit nun nicht mehr im rechtlichen Graubereich stattfinden muss. Doch bei der praktischen Anwendung der Gesetze gebe es noch Probleme. Bisher gibt es keine Arbeitgebenden, die im Sinne des neuen Gesetzes nach Stunden bezahlen und für die entsprechenden Bedingungen sorgen. Denn es fehlen die Anreize, um die alten Modelle zu ändern und die Arbeitsbedingungen entsprechend anzupassen.
Lisa rechnet es durch: Für sie als Bordellbetreiberin ist es viel einfacher und günstiger, Zimmer an selbstständige Kolleginnen zu vermieten. Diese Probleme sieht auch die Gewerkschaft UTSOPI. Sie setzt sich dafür ein, das Gesetz weiter zu vereinfachen und Anreize für die Umsetzung zu schaffen.
Trotz alledem ist Lisa stolz darauf, dass ihr Land Sexarbeitenden so viele Rechte zugesteht. Und sie ist sich sicher: Wenn es die liberaleren Gesetze schon gegeben hätte, als sie mit ihrer Karriere anfing, dann hätte sie sich sicherer gefühlt und hätte den Beruf schon früher mit so viel Freiheit gestalten können, wie sie es jetzt tut.
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