Digitaldystopie-Roman "Creep"

Unbeantwortete Fragen eines Nerds

11:29 Minuten
Ein junger Mann mit Bart steht vor einer Fensterfront, die viel Licht in den Raum lässt. Er trägt Basecap und ein offenes Jeanshemd über einem schwarzen T-Shirt.
Schriftsteller Philipp Winkler. © Katrin Ribbe
Philipp Winkler im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.01.2022
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Philipp Winkler ist für seinen ultraharten Debütroman über die Hooligan-Szene gefeiert worden. Sein neuer Roman spielt in einem anderen Milieu – schauerlich ist er aber auch.
Philipp Winklers Romane haben stets nur ein Wort im Titel. Das ist auch bei seinem neuen Buch über eine ganz eigene und auch schauerliche Welt so, eine Welt der völligen Digitalisierung. In „Creep“ entwirft er eine Dystopie totaler digitaler Überwachung und sozialer Entfremdung.

Creeper und Überwachung

In den USA stehe der Begriff „Creeper“ für Personen, die durch fremde Wohnungen schleichen, während die Bewohner zu Hause sind. Natürlich, ohne dabei bemerkt zu werden, ergänzt der Schriftsteller.
Seine beiden Hauptfiguren sind Nerds, einmal Fanni, eine Frau um die 30 in einer nicht näher definierten deutschen Großstadt, einmal Junya in Tokio. Junya sei von einem Klassiker des japanischen Horrorfilms, "The Ring“, inspiriert. „Da bricht ein eigentlich schon lange verstorbenes Mädchen durch den Fernseher in die Wohnung der Leute ein.“

Algorithmus für Home Security

Fanni wiederum arbeitet für die Home-Security-Firma Bell, erklärt Winkler. Sie sei professionelle Creeperin, die die Wohnungen der Bell-Kundinnen durchsucht:
„Sie bringt dem Bell-eigenen Überwachungsalgorithmus bei, was auf dem Kamerabild der Postbote ist, was eine Gassigängerin und was der Hund.“
Doch Fanni ist nicht nur während der Arbeitszeit Creeperin, denn, so der Autor: „Nach Feierabend, wenn ihre Kollegen – nur Männer – ihren Arbeitsplatz verlassen, bleibt sie am Schreibtisch und macht eigentlich fast dasselbe weiter, nicht, um dem Algorithmus weiter was beizubringen, sondern sie beobachtet für sich selbst.“

Digitale Welt

Die Sprache in dem Roman ist sehr von Ausdrücken der digitalen Welt geprägt und enthält viele Anglizismen.
„Ich würde mich schon als Nerd bezeichnen, in verschiedenen Bereichen auch“, sagt Philipp Winkler. „Ich habe mich schon immer irgendwie für so Technikgedöns interessiert.“
Zudem habe er viel recherchiert. „Viele Leute sollten sich wahrscheinlich viel mehr damit beschäftigen, auch wenn es nicht immer Spaß macht, sich mit Datenschutz und Privatsphäre im Digitalen zu beschäftigen.“

Auch ein Buch über Depressionen

Das Leben der Protagonisten spielt sich weitgehend im Digitalen ab. Ihnen erscheint die digitale Welt verheißungsvoller als das reale Leben. Kann man aber das Buch so lesen, dass das digitale Leben, so verheißungsvoll es auch scheinen mag, doch nicht so toll ist und dass man am Ende ziemlichen auf den Hund kommen kann?
„Das ist auf jeden Fall eine Lesart“, sagt Philipp Winkler. „Für mich ganz persönlich ist das Buch auch ein Buch über Depressionen, über mentale psychische Zustände, die, ich sage es mal ganz nett, keinen Spaß machen."

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.

Auch während des Schreibens habe er sich wieder durch depressive Phasen und Gedanken kämpfen müssen. „Und es hat natürlich nicht unbedingt geholfen, dass dann der Text und die Geschichte, nicht voller Gummibärchen und Zuckermantel sind.“

Fragen an die digitale Zukunft

Er habe das Buch auch geschrieben, "weil ich selber Fragen habe, weil ich mir diese Fragen gerne beantworten würde", sagt Philipp Winkler. "Und dann tauchen neue Fragen auf, wie uns die digitale Revolution verändert hat und verändert und noch verändern wird – das geht ja noch weiter: Wir sind ja noch total in der Entwicklung.“
(mfu)

Philipp Winkler: „Creep“
Aufbau, Berlin 2022
342 Seiten, 22 Euro

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