Per Leo: "Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur"

Wenn Gedenken der Entlastung dient

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Das Cover von Per Leos Buch "Tränen ohne Trauer, Nach der Erinnerungskultur." auf orange-weißem Hintergrund.
Was dem Gedenken an den Holocaust dienen soll, dient oft nur der eigenen Entlastung: So die These von Per Leo in "Tränen ohne Trauer". © Deutschlandradio / Klett-Cotta
Von Günther Wessel · 06.08.2021
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Das Gedenken in Deutschland und das Sprechen über den Holocaust muss sich ändern, fordert der Historiker Per Leo in seinem Buch "Tränen ohne Trauer". Er selbst macht es vor: klug, schwungvoll, polemisch und facettenreich - aber auch verallgemeinernd.
Dass der Holocaust ein singuläres Verbrechen ist, ist für die deutsche Erinnerungskultur ein konstitutiver Satz. Einen, den der Historiker und Schriftsteller Per Leo für nicht förderlich hält. Denn statt der Erinnerung an die Opfer und die deutsche Schuld, ginge es um die eigene Entlastung.
Beispiele? Per Leo nennt das Holocaust Memorial im Herzen Berlins. Der Historiker Eberhard Jäckel sprach am fünften Jahrestag von dessen Errichtung davon, dass der Bau dazu geführt habe, dass die Deutschen nun wieder aufrecht gehen könnten. Was, so Leo, eindeutig zeige, dass das Mahnmal weniger der Erinnerung als vielmehr der eigenen Exkulpation diene.

Es geht um die eigene Exkulpation

Auch die viel gerühmte und zitierte Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 sei in erster Linie blumig gewesen. "Das Vergessen-wollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", zitierte Weizsäcker einen jüdischen Mystiker, ohne klar zu benennen, welcher Toten man sich erinnert: der eigenen oder der Opfer der eigenen Tat.
Auch diese Rede diente der Entlastung der Deutschen, so der Autor. Denn dass diese am 8. Mai 1945 vom Nationalsozialismus befreit worden seien, wie Weizsäcker sagte, impliziert laut Leo, dass "die" Deutschen keine Nazis waren – sondern von einer dämonischen Clique beherrscht wurden.

Vorschneller Vorwurf des Antisemitismus

Für Per Leo ist sicher, dass sich das Gedenken in Deutschland und das Sprechen über den Holocaust ändern muss. Die Gesellschaft habe sich verändert, durch die Wiedervereinigung und durch Migration – sei es die aus arabischen Ländern oder auch durch junge Israelis.
Alle Einwanderer*innen brächten ihre Erfahrungen mit sich, und der mitunter vorschnell gebrauchte Begriff des "Antisemitismus", wenn jemand Israel kritisiere oder den Holocaust mit anderen Verbrechen beispielsweise aus der Kolonialzeit ins Verhältnis setze und damit auch die Singularitätsthese bezweifle, sei nicht mehr als eine erneute eigene Gewissensberuhigung oder eine hermetische Abriegelung vor Kritik.
Hier knüpft Per Leo an aktuelle Debatten etwa um die Anti-BDS-Resolution des Bundestages – dieser bezeichnete die Argumentationsmuster und Methoden der "Boykott-Desinvestitionen-Sanktionen-Initiative, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, als antisemitisch – oder um den kamerunischen Postkolonialismus-Theoretikers Achille Mbembe, dem eine Relativierung des Holocaust vorgeworfen wird.

Schwungvoll und polemisch

Per Leos schwungvoll und oft sehr polemisch geschriebenes Buch hat viele Facetten – oft zu viele. Das führt zu Ungenauigkeiten, Verallgemeinerungen, Redundanzen und auch Fehlern, wie etwa falschen Datierungen.
Dabei schreibt der Historiker und Schriftsteller klug über den unterschiedlichen Umgang mit der deutschen Geschichte im westlichen und dem östlichen Deutschland, interessant über seine persönlichen Lektüreerfahrungen, über Kempowski, F.C. Delius, W.G. Sebald oder Michael Ende und verteilt mit viel Verve Lob und Tadel – letzteren oft genauso pauschal, wie er es denjenigen vorwirft, die er heftig kritisiert.
Man müsse die Vergangenheit in ihrer ganzen Unaufgeräumtheit betrachten, zitiert Per Leo in seinem Buch gleich zweimal den amerikanischen Historiker Peter Novick. Das ist als Forschungsmotto nachvollziehbar, von einer Geschichtsbetrachtung hätte man sich aber etwas mehr Struktur und Aufgeräumtheit gewünscht.

Per Leo: "Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur"
Klett-Cotta, Stuttgart 2021
274 Seiten, 20 Euro

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