Per Leo: "Trauer ohne Tränen"

Plädoyer für eine neue Erinnerungskultur

09:58 Minuten
Per Leo steht an einer Wand und guckt in die Kamera
Per Leo sieht einen allgegenwärtigen Bezug zum Nationalsozialismus. Dieser blockiere neue Wege des Umgangs mit der Vergangenheit. © Klett-Cotta / Alexa Geisthövel
Per Leo im Gespräch mit Joachim Scholl · 23.07.2021
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Die Erinnerung an die NS-Diktatur und den Holocaust findet mittlerweile in sehr festen Formen statt: Das sagt der Publizist Per Leo. Es werde Zeit, diese aufzubrechen und neue Wege zu finden, darüber zu sprechen.
Joachim Scholl: Er ist einer der energischsten Publizisten, wenn es um Antisemitismus, den Holocaust und die neuen Rechten in Deutschland geht, Per Leos neues heißt "Trauer ohne Tränen – nach der Erinnerungskultur".
Zwei Zitate stellen Sie Ihrem Buch voran. "Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen", von Friedrich Nietzsche. Und dann kommt noch Rainald Götz' "Don't cry, work!" Also nicht rumheulen, arbeiten.
Wenn wir an den Nietzsche denken, heißt das denn, die Historie, unsere Erinnerungskultur, unser Gedenken an die Verbrechen der Nazis dienen nicht mehr unserem Leben?
Per Leo: Wenn Sie es so zugespitzt formulieren wollen, würde ich das tatsächlich sagen. Das bedeutet nicht, dass alles daran falsch sei oder immer falsch gewesen sei, sondern eher, dass das Leben eben auch Wandel bedeutet und dass die Formen, in denen wir heute über den NS, das Dritte Reich, den Holocaust, die Vernichtungspolitik der Nazis sprechen, seine eigene Geschichte hat.
Es kommt aus einer Zeit, in der man durchaus nachvollziehen konnte, warum sich diese Formen des Gedenkens gebildet haben. Gleichzeitig hat diese Form aber auch bestimmte Defizite aufzuweisen. Und ich denke, je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher werden die sichtbar. Und heute wäre es aus meiner Sicht Zeit für eine Revision dieser Erinnerungskultur.

Das entschiedene Nein zu Hitler ist leicht zu haben

Scholl: Ich habe mir diese Worte von Ihnen aus Ihrem Buch rausgeschrieben: "Das entschiedene Nein zu Hitler ist so leicht zu haben, dass es schwerfällt, dankend abzulehnen. Musste vor 40 Jahren die schuldbelastete Vergangenheit aus ihrem Panzer gebrochen werden, liegt das Problem nun eher in ihrer schamlosen Zudringlichkeit." Vor drei Tagen, Herr Leo, gab es wieder die traditionelle Gedenkfeier zum 20. Juli, dem Hitler-Attentat, im Berliner Bendlerblock: Beschwörende Reden plus Beethoven – ist das für Sie zudringlich oder gar schamlos?
Leo: Nein, nicht unbedingt. Ich würde tatsächlich unterschiedliche Anlässe des Gedenkens, oder sagen wir mal allgemeiner: des Sprechens, über die Nazizeit unterscheiden. Also, das rituelle Gedenken, Gedenkveranstaltungen, die meistens an bestimmte geschichtsträchtige Daten gebunden sind wie den 20. Juli oder vor allem natürlich den 27. Januar als Befreiungstag von Auschwitz und Birkenau, sehe ich weniger problematisch. Da haben sich einfach bestimmte Formen entwickelt, die zu unserer Zivilkultur dazugehören.
Was ich für revisionsbedürftig halte, das ist eigentlich eine allgegenwärtige Bezugnahme auf den NS, die es sich eigentlich doppelt zu leicht macht. Zum einen drückt sich dieser Umgang vor der Mühe – Stichwort Rainald Götz –, vor der Mühe, die Geschichte aus sich selbst heraus zu verstehen. Auf der anderen Seite vor der Mühe, die Gegenwart aus sich selbst heraus zu verstehen.
Stattdessen können wir oft beobachten, dass es einen Kurzschluss zwischen Gegenwart und Geschichte gibt. Eine Analogie der Gegenwart mit einer vermeintlich einfachen Geschichte, in der es Helden und Opfergeschichten gibt, Täter und Opfer, Schurken und Helden. Die beiden von Ihnen in der Anmoderation genannten Einsatzgebiete, meine vermeintlichen Einsatzgebiete, sind eigentlich ein gutes Beispiel.
Der sogenannte Kampf gegen Rechts, aber auch der Kampf gegen Antisemitismus – beides aus meiner Sicht gesellschaftlich notwendige Ding, die es sich aber oft darin zu einfach machen, unmittelbar das Geschehen von heute mit einer vermeintlich einfach verständlichen Vergangenheit kurzzuschließen.
Die Beschwörung des Jahres 1932, 1933, wenn es um den Umgang mit der AfD geht. Oder umgekehrt eine Deutung des Nahost-Konflikts als ein Geschehen, das vor allem von arabisch-muslimischem Antisemitismus geprägt sei – beides macht es sich zu leicht. Der Kurzschluss ermöglicht eben Orientierung, aber trägt oft nicht zur Lösung der genannten Probleme bei.

Ein Hoch auf die Verkomplizierung

Scholl: Kommen wir auf die Sprache der Erinnerungskultur. Ich werde nie vergessen, wie ich 1988 im Auto saß und die Rede vom damaligen Parlamentspräsidenten Philipp Jenninger hörte, der zur Reichspogromnacht am 9. November eine Rede hielt, die ich sensationell gut fand. In der hat er sich in einen Deutschen des Jahres 1938 hineinversetzt, der sagt, wir können es irgendwie verstehen. Er versuchte das nachvollziehbar zu machen.
Das war ein Bruch eigentlich der üblichen Rhetorik. Und es ging ein Sturm der Entrüstung los. Und ich glaube, dass danach sich nie wieder jemand getraut hat im öffentlichen Diskurs so zu sprechen. Da war, glaube ich, auch eine Chance vertan. Mittlerweile hat die Sprache natürlich auch so eine Ritualisierung erfahren. Wie kommen wir denn da raus, ohne dass bei jedem realistischen Wort sofort wieder der Proteststurm losbricht?
Das Cover von Per Leos Buch "Tränen ohne Trauer, Nach der Erinnerungskultur." auf orange-weißem Hintergrund.
"Deutschland braucht eine neue Erinnerungskultur", sagt Autor Per Leo.© Deutschlandradio / Klett-Cotta
Leo: Ein Satz zu der erwähnten Jenninger-Rede: Ich beziehe mich ja auch in meinem Buch darauf. Die stand und steht bis heute im Schatten der berühmten Weizsäcker-Rede, die drei Jahre vorher stattfand. Ich würde sagen, sowohl das Lob der Weizsäcker-Rede als auch die heftige Kritik an der Jenninger-Rede – beide haben ein Körnchen Wahrheit für sich.
Aber ich versuche in meinem Buch, das genau umzudrehen und die kritischen Elemente der Weizsäcker-Rede zu betonen und umgekehrt ein – aus meiner Sicht unzeitgemäßes Lob – der Jenninger-Rede anzustimmen. Aus genau den Gründen, die Sie gerade genannt haben. Man könnte trotzdem fragen, ob eine Gedenkveranstaltung im Bundestag der angemessene Ort dafür war, aber ich bin grundsätzlich aufgeschlossen für jede Form der Verkomplizierung.

Es kommt auf den Kontext an

Scholl: Was mir gerade noch einfällt: Die Pointe bei dieser Rede war ja, dass Ignatz Bubis sie, ein paar Wochen später noch mal gehalten hat und tosenden Applaus bekommen hat.
Leo: So ist es, aber das könnte Schulstoff sein. Das ist eine ganz großartige Episode. Und das Ergebnis steht nicht von vornherein fest. Man könnte sehr wohl nämlich die Kontexte unterscheiden, in denen Jenninger und Bubis sprachen. Aber man würde jetzt viel mehr Zeit brauchen, als wir haben, um auf die Details einzugehen.
Scholl: Aber Sie schildern in Ihrem Buch diese Kontroverse und etliche andere wie den zum Beispiel den Historikerstreit. Das waren immer sozusagen Auslöser von richtigen gesellschaftspolitischen, nicht nur intellektuellen Debatten, das ging wirklich quer durch die Gesellschaft. Brauchen wir wieder vielleicht doch eine zugespitzte Kontroverse, um vielleicht dann doch auch wieder, ja, Strukturen irgendwie zu verändern, aufzubrechen?
Leo: Eher im Gegenteil, wir brauchen Entdramatisierung. Was Sie jetzt in Ihren Beispielen ansprechen, ist ja auch deswegen rückblickend oft so ergebnislos gewesen, weil es reine Schreiduelle waren. Es wurde eine These in den Raum gestellt, die polarisierte so stark, dass die einen Verdammungsurteile aussprachen und die anderen sich zu Verteidigungsreden aufschwangen.
Ich glaube, dass wir es uns mittlerweile eigentlich leisten könnten, ein bisschen mehr auszuprobieren, ein bisschen riskanter auch darüber zu sprechen, ein bisschen anders, ein bisschen die ritualisierten Sprechformen hinter uns zu lassen. Damit aber auch das Risiko einzugehen, vielleicht etwas falsch zu machen – und dann das, was möglicherweise falsch läuft, wiederum unbefangen zu diskutieren.

Rezeption der Deutschen hinterfragen

Scholl: Ich sehe das Problem immer hauptsächlich in der Rezeption. Sie haben noch ein anderes super Beispiel aus der Kunst. Dani Levys wunderbarer Film "Alles auf Zucker", eine jüdische Komödie, alles lag flach und sagte, so kann man jüdisches Leben darstellen, so humorvoll, so auch kritisch und satirisch auf eine Weise.
Der nächste Film, den Dani Levy drehte, war "Mein Führer", mit Helge Schneider als Hitler. Die Kritik sagte, um Gottes willen, so kannst du das nicht machen. Dabei war es einfach mal ein Versuch, Hitler als neurotisch traumatisierten Schwachkopf oder einfach als Mensch zu schildern.
Leo: Dani Levy ist ein großartiges Beispiel. "Mein Führer" ist wirklich ein fantastischer Film gewesen, an dem die Rezeption tatsächlich komplett vorbeigegangen ist. Das ist aber mittlerweile 15, 16 Jahre her, seit der gedreht wurde. Ich denke, man könnte heute die Position ernst nehmen, von der aus Levy das gemacht hat. Dass da ein Schweizer Jude auf den Fehltritt seines Schweizer Landmanns Bruno Ganz reagiert – und das beides für deutsches Publikum. Warum die Deutschen den Ganz so geliebt haben und warum sie Helge Schneider als Führer so abgelehnt haben, das ist ja eine hoch spannende Frage.

Per Leo: "Tränen ohne Trauer – Nach der Erinnerungskultur"
Klett-Cotta, 2021
272 Seiten, 20 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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