Meinung

Wenn das Private freiwillig monetarisiert wird

04:44 Minuten
Eine junge Frau steht in einem Garten und telefoniert mit ihrem Smartphone.
Für privates Telefonieren Geld bekommen - und mit den Daten Künstliche Intelligenz trainieren. Wer gewinnt dabei? © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Überlegungen von Roberto Simanowski |
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Für viele ist es offenbar ein Traum: Geld dafür zu bekommen, wenn man am Telefon über rein private und belangloses Dinge redet. Die App Neon macht das jetzt möglich, um Künstliche Intelligenz zu trainieren. Aber das ist eine zwiespältige Sache.
Ende September machte die Nachricht die Runde von einem New Yorker Startup, das dafür Geld bezahlt, dass man es bei privaten Gesprächen mithören lässt: 30 Cent pro Minute für beide Seiten,15 Cent, wenn nur einer der Gesprächspartner mitmacht. Maximal 30 Dollar pro Tag, wofür man 100 Minuten telefonieren müsste, was viele sowieso tun, und zwar ohne Bezahlung.
Neon will die Gespräche mitschneiden und an KI-Unternehmen verkaufen für das Training ihrer Sprachmodelle. Diese Geschäftsidee lag natürlich in der Luft. Sprachmodelle sind ja äußerst datenhungrig, und ehe man sie mit ihren eigenen Outputs füttert, was am Ende zu einer Art Daten-Inzest führt, ist es doch besser, man bittet die Bevölkerung um Hilfe.
Neons Argument: „Die Telefonunternehmen profitieren von deinen Daten, und wir denken, du verdienst einen Anteil.“ Das ist freilich mindestens halb gelogen. Denn die Telefonunternehmen hören ja nicht unsere Gespräche ab; sie verkaufen nur unsere Metadaten: Wann ich mit wem wie lange telefoniere und vor allem wo. Denn für die Werbung ist es natürlich interessant, ob ich mich mehr im Fitnessstudio oder bei McDonald aufhalte.
Neon hingegen verkauft die Inhalte der Gespräche. Anonymisiert zwar, dafür aber weltweit und unwiderruflich. Was ich einmal Neon mitschneiden ließ, gehört Neon. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, dass Neon existiert, in den App-Stores zugelassen ist und dort derzeit Spitzenpositionen besetzt?

Einst private Bereiche werden freiwillig kommerzialisiert

Nun, es macht zunächst deutlich, wie weit KI bereits in unser Leben vorgedrungen ist, und zwar auch in Bereiche, die einst als privat galten. Und die Tatsache, dass die App so erfolgreich ist, zeigt wiederum, dass viele von uns bereit sind, ihre Privatsphäre für ein paar Cent preiszugeben - ungeachtet all der Nebenkosten.
Und diese Nebenkosten entstehen nicht nur für sie selbst, wenn sie ihre Gedanken unwiderruflich für die KI-Analyse verkaufen und zugleich riskieren, dass ihre Stimme für Enkeltricks und andere Deepfakes genutzt wird.
Auch die Nebenfolgen für die Gesellschaft sind beträchtlich. Denn woher weiß ich nun, ob der Bekannte, der sich plötzlich so oft so lange mit mir unterhalten will, nicht ein Neonist ist, der nur sein Taschengeld aufbessern will? Steht nun nicht jede Kommunikation unter dem Verdacht des Kommerziellen? 
Auch das hat freilich seine Vorgeschichte: Googles Werbemodell Adsense. Damit wurde seit 2003 jeder finanziell an den Klicks beteiligt, den seine Webseite für die darauf platzierten Werbelinks generierte. Also wurden viele Texte in Blogs und Kommentarspalten nur deswegen geschrieben, um den Werbenamen ein authentisch wirkendes Umfeld zu schaffen.
Wie die Produktplatzierung beim Film, wenn James Bond das neueste BMW-Modell fährt, am Handgelenk eine Rolex oder Omega. Nur, dass jetzt die Werbung nicht mehr Beiwerk ist, sondern der heimliche Zweck des Ganzen. 

Jede Kommunikation wird verdächtig

Nach dem Schreiben für Geld nun also das Sprechen für Geld. Und die große Frage ist: Wohin führt das alles? Ist dann bald selbst die Kommunikation von richtigen Menschen eine künstliche? Wird dann alles datafiziert und analysiert: nicht nur unsere Bewegungsdaten, die unser Handy weitergibt, und unsere Gesundheitsdaten, die unsere Wearables sammeln, sondern auch unsere Gedanken, die Neon der KI verkauft?
Ich mache trotzdem mit. Im Rahmen einer LGBTQ-Initiative. Wir reden über die Rechte von Minderheiten, das Recht auf Selbstbestimmung einschließlich der reproduktiven Selbstbestimmung, und natürlich soziale Gerechtigkeit.
Jeder von uns hat mehrere Accounts bei Neon und verstellt mit einer App seine Stimme, so dass wir mehr als 100 Minuten-Rede pro Tag in die KI einspeisen können. Denn wenn die KI an unseren Gesprächen das Menschliche lernt, dann soll sie es von den richtigen tun: so schnell und so viel wie möglich.
Was, Sie glauben mir nicht? Aber schön wär das schon. Oder?

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hongkong lebt er als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro.
Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören „Facebook-Gesellschaft“ (Matthes & Seitz 2016) und „The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas“ (MIT Press 2018). Zuletzt erschien von ihm das Buch "Sprachmaschinen. Eine Philosophie der künstlichen Intelligenz (C.H. Beck 2025)

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