Nachsinnen über die Ruinen des Lebens

Zehn Fotografien, aufgenommen in den zwanziger Jahren, haben den schwedischen Schriftsteller Lars Gustafsson zu seinem Roman „Der Mann auf dem blauen Fahrrad“ inspiriert. Seine Hauptfigur, der Elektrovertreter Jan V. Friberg, träumt sich damit in eine längst untergegangene Welt hinein – und flüchtet aus seinem nicht gerade glücklichen Leben.
Immer dann, wenn für Jan V. Friberg eine Situation unerträglich wird, träumt er sich in eine andere Person. Diese Kunst einer lebensnotwendigen wie kreativen Flucht hat er seit Kindertagen perfektioniert. Friberg ist nie wirklich bei sich. So kann er auch nicht verstehen, wie andere wissen können, wer sie sind. Dass ihr „Ich“ mit der Zeit gehen will, befremdet ihn. Dabei repräsentiert Friberg als Vertreter von Electrolux-Haushaltsgeräten den Geist der Wirtschaftswunderzeit in Reinkultur.

Täglich belädt er sein blaues Fahrrad der Marke „Svalan“ damit, um es in der Region Västerås-Mälaröarna-Hamre zu verkaufen. Doch die schwedische Landbevölkerung reagiert im Jahr 1953 auf ihn und die neue Technik nur mit Hohn und Verachtung.

Als Friberg nach einem verkaufsarmen Tag stürzt und sich beim Retten der kostbaren Ladung das linke Handgelenk verstaucht, schießt ihm plötzlich der Vorwurf seiner Frau durch den Kopf, dass er eigentlich ein „gänzlich misslungener Mensch“ sei.

In Gustafssons Friberg-Figur schlummert das schwedische Pendant jenes „Taugenichts“, den Joseph von Eichendorff in seiner gleichnamigen Novelle sagen lässt: „Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet.“ Sich im Ernstfall aus der Realität wegzuträumen, diese Gabe beherrschen beide. Und so rutscht Friberg, während er über die Ruinen seines Lebens nachsinnt, in einen „eigentümlich komplizierten“ Traum.

Er sieht sich in der Bibliothek eines nahegelegenen Herrenhauses sitzen. In den Händen hält er ein Fotoalbum aus „dunkelrotem Saffianleder“. Während er müde darin blättert, wird er von einem tiefen Schlaf überwältigt. Dabei steigen aus dem magischen Frontalblick der auf den sepiafarbigen Fotos abgebildeten Personen – aufgenommen mit einer alten Kastenkamera – irrational-schöne Geschichten auf: Von einem Mädchen, das in einem – vermutlich blauen – Kleid lächelnd vor einem blühenden Fliederbusch steht; von einem eng an den Mast geschmiegten Schiffer mit sehnsuchtsvollem Blick; von zwei Mädchen, die sich in Kreuzworträtselkostümen erwartungsvoll der Kamera präsentieren.

Gustafsson ist weit davon entfernt, ein nostalgisches Loblied auf die Anfänge der modernen Technik zu singen. Mit kritisch-ironischer Leichtigkeit liefert er zwar eine Hommage an die geniale Entdeckung des künstlichen Auges in Form der Boxkamera Brownie. Zugleich aber spürt der philosophische Geist in ihm jenes erzählerische Potenzial auf, das im Nichtsichtbaren und Nichtsagbaren eines Fotos oder eines Textes liegt. Erst als das phantasierte Tableau vivant zerbricht, indem Friberg mitspielt, fühlt sich dieser doch noch brauchbar für das Leben.

Besprochen von Carola Wiemers

Lars Gustafsson: Der Mann auf dem blauen Fahrrad. Träume aus einer alten Kamera
Roman, aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Carl Hanser Verlag, München 2013
192 Seiten, 17,90 Euro
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