Greisenhafte Redseligkeit

Angeregt durch bestimmte Gerüche kehrt der Ich-Erzähler in Lars Gustafssons neuem Roman, ein ehemaliger, 70-jähriger Professor, in Gedanken immer wieder in seine Pubertät zurück. In eleganten Erzählschleifen bringt sein zielloses "Gebrabbel" nun immer neue Geschichten hervor, die er verdrängt und vergessen hatte. Die 30 kurzen Kapitel bilden so in sich abgeschlossene Zeitfenster, die man danach wieder schließen kann.
Beim Aufschlagen dieses Buches ist es wie beim Öffnen eines Flakons. Es entsteigen verschiedenartige Düfte, die in ihren Bestandteilen nicht sofort identifiziert werden können. Man fühlt sich angenehm umhüllt oder abgestoßen.

In Lars Gustafssons Roman sorgen vor allem zwei Gerüche dafür, dass sich der Ich-Erzähler, ein siebzigjähriger Professor der Philosophie, dem Sog des Erinnerns nicht entziehen kann. Es ist der beißende Geruch von spärlich flackernden Karbidlampen, die in den 1950er Jahren die schwedischen Wohnstuben mit Licht versorgten. Aber auch der aphrodisische Geruch nach Hyazinthe, der im Jahr 1954 von den schönen weißen Armen einer Frau mit dem Namen Sorgedahl ausging.

Beide Gerüche scheinen im Gegensatz zur Nase des Erzählers nicht gealtert zu sein. Denn ihre Intensität bringt sein ansonsten gut strukturiertes Leben im beschaulichen Oxford aus dem Takt und versetzt den gelehrten Mann in tiefes Grübeln. Fortan kreist sein Denken um jene Zeit, da er als Siebzehnjähriger die Schule im mittelschwedischen Västerås besuchte und mit der eingeschworenen Clique im Heizungskeller über den Existentialismus, die Liebe und den Tod diskutierte.

Allerdings werden diese Erinnerungen an eine glimpflich überstandene Pubertät und jene hoffnungsvolle Zeit beständig von zwei schönen weißen Armen verdeckt, die er längst vergessen glaubte. Dabei ist sich der Erzähler noch nicht einmal sicher, ob es Frau Sorgedahl überhaupt gegeben hat.

"Aber hätte sie nicht existiert, wäre ich vermutlich gezwungen gewesen, sie zu erfinden."

Reichlich verwirrt über sich selbst, sucht der Erzähler in Gustafssons Roman - der erstaunlich viele Parallelen zum Autor aufweist - nach einer Erklärung für seine geistige Verfassung. Bei dem römischen Redner Cicero stößt der Spezialist für die Philosophie der Antike auf den Begriff der "greisenhaften Redseligkeit" und fühlt sich erleichtert. Er ist also nicht senil, sondern nur redselig.

In eleganten Erzählschleifen bringt sein zielloses "Gebrabbel" nun immer neue Geschichten hervor, die er verdrängt und vergessen hatte. Plötzlich weiß er wieder, dass seine Mutter eine große Erzählerin war. Beim Kochen und Backen sprach sie von Pastor Dufvenbergs grausamen Brandanschlag auf das Pfarrhaus von Ål, grübelte laut über die obsessive Frömmigkeit der Großmutter nach, die der Pfingstbewegung anhing oder beschwor die dunklen 1920er Jahre herauf, da sie selbst eine junge, begehrenswerte Frau voller Leidenschaft und Ideale war.

Lars Gustafssons Roman ist in 30 kurze Kapitel gegliedert, die wie Rastplätze auf einer großen Zeitreise erscheinen. Oder wie Zeitfenster, die beim Lesen geöffnet und geschlossen werden können. Jedes für sich ist verständlich und gehört doch einem großen Ganzen an.

Wenn man den Roman, in dem es so herrlich vertraut und doch fremd duftet, nach einer heiter-sinnlichen Lektüre zuschlägt, hat man einen vergnüglichen Parcours mit einem Erzähler hinter sich, den wir als Lars Gustafsson zu kennen meinen und der von sich sagt:

"Es gibt mich nicht. Ich habe niemals existiert. So einfach ist das."

Rezensiert von Carola Wiemers

Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme
Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Hanser Verlag, München 2009
238 Seiten, 19,90 Euro.