Nach der Ära Merkel

Aufbruch im Parlament

30:41 Minuten
Angeschnittene Rückenansicht von Angela Merkel,  aufgenommen im Rahmen der Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin, im November 2021.
Angela Merkel und ihre Politik wurden von den Oppositionsparteien, Grüne, Linke und FDP, oft kritisiert. Wenn eine Ampel zustande kommen sollte, werden sie von vielen wohl an ihren bisherigen Worten gemessen werden. © picture alliance / photothek / Florian Gaertner
Von Benjamin Dierks |
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Der Bundestag ist so groß wie nie zuvor. Viele junge Abgeordnete sind neu dabei. Sie wollen Politik gestalten, neue Ideen einbringen. Aber sie kommen in ein Parlament, das an Bedeutung verloren hat. Das um seine Rolle als zentraler Ort der Demokratie kämpfen muss.
„Wir gehen hier jetzt mal runter. Und hier ist das Besondere, dass man über so ein Rollband laufen kann.“ 

Jakob Blankenburg macht einen beherzten Schritt auf einen elektrischen Fahrsteig. Der sieht aus wie eines jener Laufbänder, die es an Flughäfen gibt, um den Passagieren den Weg zum Gate zu erleichtern. Hier hilft das Laufband den Abgeordneten des Deutschen Bundestags, den Weg von ihren Büros durch einen unterirdischen Gang ins Reichstagsgebäude etwas bequemer zu machen. Dieser Ort hat es Blankenburg besonders angetan. Neben dem Laufband sind die Überreste des historischen Tunnels zu sehen, der den Reichstag einst mit dem benachbarten Reichstagspräsidentenpalais verband. Einem Gerücht zufolge sollen Nationalsozialisten 1933 durch den Tunnel in den Reichstag eingedrungen sein, um ihn anzuzünden.  

„Auch das spielt hier ja noch eine Rolle und das finde ich total wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, gerade in unsrem Land. Deswegen sind hier auch überall Objekte und Gedenktafeln, die wach halten, dass Menschen hierfür auch gekämpft haben.“ 

Einmal quer über die Grenze

Jedes Mal, wenn der frisch gebackene SPD-Abgeordnete von seinem – bisher noch vorläufigen – Büro in den Plenarsaal oder zur Fraktionssitzung seiner Partei gehen will, passiert er diesen unterirdischen Übergang, der – es wird noch historischer – nicht nur die beiden Gebäude verbindet, sondern auch die einst durch die Berliner Mauer getrennten Teile der Stadt, den Osten und den Westen. Die ehemalige Grenze verläuft quer über dem Laufband.  

„Dass tatsächlich mal eine Staatsgrenze durch ein Parlament verläuft, ist ja auch nicht selbstverständlich, etwas Einzigartiges in diesem Bundestag.“ 

Ost und West, Diktatur und Demokratie, Alt und Neu – es sind eine ganze Reihe an Gegensätzen, auf die Jakob Blankenburg hier trifft. Er selbst verkörpert auch einen davon: Gerade einmal 24 Jahre ist er alt, der jüngste Abgeordnete der SPD und einer der jüngsten im Bundestag. Er ist einer von denen, die diesen Bundestag jünger machen als je zuvor. Die gestreiften Hemdsärmel hat Blankenburg hochgekrempelt, die kurzen blonden Haare locker zur Seite gekämmt. Er fällt auf mit seinen über zwei Metern Körpergröße. Den Wahlkreis Lüchow-Dannenberg – Lüneburg hat er direkt gewonnen. Aufgewachsen ist er nicht weit von dort. Man sieht es ihm nicht an, aber politisch aktiv wurde Blankenburg in einer Protestbewegung – gegen Fracking in der Lüneburger Heide. Sich mit den Mächtigen anzulegen, ist ihm nicht ganz neu.  

„Ich habe in den letzten Jahren meine politische Arbeit viel damit verbracht, dass ich mich über Polizeigesetze gestritten habe und Demos dagegen initiiert. Ich war einer der Initiatoren von über 150 Organisationen in Niedersachsen, in meinem Heimatbundesland, wo ich auch lange Zeit Landesvorsitzender der Jusos war.“ 

Dabei legte der junge Politiker sich auch mit den eigenen Parteifreunden in der Landesregierung an. Blankenburg linst zur Seite, während er das erzählt. Er hat Stephan Weil erspäht. Der niedersächsische Ministerpräsident ist zu einer Besprechung im Bundestag und läuft mit kurzem Gruß an seinem jungen Kollegen vorbei. 

„Hallo Herr Weil.“ / „Moin Jakob, arbeitest Du?“ / „Immer!“ 
Blick auf den leeren Plenarsaal im Vorfeld einer Sitzung des Deutschen Bundestag in Berlin.
Für Jakob Blankenburg ist es als neu gewählter Abgeordneter eine Ehre im Bundestag zu sitzen, sagt er. © picture alliance / Flashpic / Jens Krick
Mit seiner Erfahrung will Blankenburg am liebsten in den Innenausschuss gehen. Und er will, wie er sagt, seine ländliche Perspektive aus Lüchow-Dannenberg in die Debatten um Mieten und Verkehr einbringen, in denen es seiner Ansicht nach zu viel um die Städte geht. Blankenburg fährt mit dem Fahrstuhl ins obere Stockwerk des Reichstagsgebäudes, wo die Fraktionen ihre Sitzungssäle haben. Er will, dass die Politik aktiver wird. Die Politik der Großen Koalition war ihm zu langsam.  

„Das hat dazu geführt, dass Dinge sich sehr langsam geändert haben und die Demokratie und Politik insgesamt sehr träge wurde. Und sei es beim Thema soziale Gerechtigkeit, sei es aber auch beim Thema Wohnraum, dem großen Thema Klimaschutz und Digitalisierung, also das sind ja große Fragen, die jetzt anstehen, und da reicht es eben nicht, sich nach ein paar Jahren, nach freudigem Beobachten von der Seitenlinie und Wegmoderieren der Debatte an die Spitze der Bewegung setzt, sondern da müssen wir als Staat proaktiv handeln.“ 

Blankenburg lehnt sich auf ein hölzernes Geländer, das die Glaskuppel des Plenarsaals umgibt. Er blickt von oben auf die blauen Stühle der nunmehr 736 Abgeordneten, das Rednerpult, den Bundesadler, die Regierungsbank – und wird demütig.

„Da drinnen zu sitzen und mitzuentscheiden, das ist schon ein ganz besonderes Gefühl. Weil letztendlich ist das ja das höchste Amt, in das man in diesem Staat direkt gewählt werden kann. Und dementsprechend ist das natürlich eine sehr große Ehre.“  

Theorie und Praxis im Parlamentsalltag

Aber wie gut ist es um dieses Amt bestellt? Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Und der Bundestag ist das einzige Verfassungsorgan des Bundes, das direkt vom Volk, den Bürgern, gewählt wird. Seine Macht ist also direkt von ihnen legitimiert. Der Bundestag wiederum nutzt diese Macht und bringt mit einer parlamentarischen Mehrheit die Regierung ins Amt. Er kontrolliert sie. Das Parlament ist auch Gesetzgeber. Und es hat die Aufgabe, die Bürger und ihre Anliegen zu vertreten – und sie wiederum darüber zu informieren, was in der Bundespolitik passiert.  

Soweit die Theorie. In der Praxis sieht das oft anders aus. Gesetzesinitiativen gehen häufig von der Bundesregierung aus und nicht vom Parlament. Beratungsfirmen, Lobbyisten und externe Experten spielen im Gesetzgebungsverfahren eine zunehmend wichtige Rolle. In den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft haben Abgeordnete Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder vorgeworfen, sie missachte den Bundestag und beteilige ihn nicht gebührend an wichtigen Entscheidungen. Und die Debattenkultur habe gelitten, vor allem in den zwölf Jahren, in denen Merkel mit einer Großen Koalition regierte, sagt Britta Haßelmann, die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion.  

„Aus meiner Sicht war es in den letzten 16 Jahren, in drei Regierungszeiten Großer Koalitionen, nicht immer so, dass die Bundesregierung das Parlament als wirklich wichtigsten Ort der Debatte, der Öffentlichkeit, des Diskurses, der Entscheidung eingestuft hat.“ 

Die Bedeutung des Parlaments sei geschwächt, seine Macht ausgehöhlt worden, kritisieren Abgeordnete wie Hasselmann. Vor allem in der Corona-Krise wurde Protest laut, weil die Regierung wichtige Entscheidungen am Bundestag vorbeitraf. Der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer ist Mitglied des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs. Er hält die Sorge um die Rolle des Bundestags für begründet.  

„Gerade unter dem Eindruck der letzten Jahre kann man schon sagen: Das Parlament hat ein Stück an Bedeutung verloren. Es hat Raum gegeben für die Exekutive. Das war in der Pandemie natürlich naheliegend in vielen Punkten, weil man sagen konnte, das ist alles eilig und erfordert Fachwissen und da halten wir uns lieber zurück. Wahrscheinlich muss man auch sagen: Für Politiker ist in der Pandemie nicht viel zu holen, weil man ja Einschränkungen von Rechten durchsetzen muss.“ 

Föderalismus ist anstrengend

Das Problem liege auch in der föderalen Struktur Deutschlands begründet, sagt der Staatsrechtler Florian Meinel von der Universität Göttingen. Auf der einen Seite seien die Bundesländer, die auf ihre Zuständigkeiten gegenüber dem Bund pochten. Auf der anderen Seite der Bundestag, ohne den keine Regierung handeln soll. 

„Das parlamentarische Regierungssystem beruht ja auf der Annahme, dass einerseits die Regierung für ihr politisches Handeln eine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament hat. Ich glaube, diese Rechenschaftspflicht ist auch in der Pandemie nie ernsthaft infrage gestellt worden. Und zum zweiten, dass die Regierung für ihre Gesetzgebungsagenda, für ihre legislativen Vorstellungen eine parlamentarische Mehrheit organisieren muss. Da lag in der Tat häufig ein Problem, weil viele sich gewünscht hätten, dass bei den grundlegenden legislativen Entscheidungen, also Lockdown ja oder nein, wie lange, Schulen usw., dass hier stärker auf parlamentarische Mitentscheidung gesetzt worden wäre.“ 
Bundeskanzlerin Angela Merkel, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und der CSU-Vorsitzende Markus Söder geben eine Pressekonferenz im Bundeskanzleramt zu den Ergebnissen der Bund-Länder-Beratungen.
Politik ohne das Parlament: Die Ministerpräsidentenkonferenz hat während Corona viel Kritik auf sich gezogen.© picture alliance / dpa / Reuters / Pool / Hannibal Hanschke
Umstritten sind vor allem die Bund-Länder-Gespräche, in denen die Bundesregierung die grundlegenden Entscheidungen zur Pandemie-Bekämpfung mit den Ministerpräsidenten traf. Entscheidungen über Lockdown und Kontaktbeschränkungen, über gravierende Einschränkungen von Grundrechten also. Das Parlament spielte dabei kaum eine Rolle – oder konnte nur nachträglich über die gefassten Beschlüsse diskutieren. Eine Tendenz, die Marco Buschmann, der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, nicht nur in der Corona-Krise beobachtet hat. Er sieht darin eine Gefahr:  

„Es ist ein enorm großer Unterschied, weil der Deutsche Bundestag auch eine Reihe an Qualitätssicherungsinstrumenten eingezogen hat. Wir diskutieren in den Ausschüssen, da kommt viel mehr Fachlichkeit rein, als wenn eine Runde von 17 Regierungschefs zusammensitzt. Und es gibt eine viel stärkere Rückkopplung in die Gesellschaft. Denn Regierungen entscheiden ja nach einer Ressortlogik, da sind hoch bezahlte Beamte, die aus einer technischen Logik heraus entscheiden. Aber Parlamentarier sind ja sehr stark eingebunden in ihren Wahlkreis, haben mit Menschen aus der Gesellschaft zu tun, mit NGOs, auch mit Unternehmen. Es ist ja gerade der Sinn und Zweck des Parlaments. Und je stärker man das Parlament aus den Entscheidungen hinausdrängt, desto mehr werden eben auch die Gesellschaft und diese Stimmen aus der Gesellschaft aus der Entscheidung hinausgedrängt. Das koppelt sie ab und das ist gefährlich.“ 

Politik von jungen Menschen für junge Menschen

Eine Gruppe, die sich in der Pandemie abgekoppelt fühlt, drängt jetzt ins Parlament und will das ändern. Junge Abgeordnete wie der niedersächsische Juso Jakob Blankenburg – oder Jens Teutrine, Neuzugang in Marco Buschmanns FDP-Fraktion. Teutrine ist Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen. Was die beiden Jungpolitiker eint: Der Ärger darüber, dass junge Menschen in der Pandemie von der etablierten Politik bislang nicht ausreichend beachtet worden seien. Das, sagt Teutrine, sei für ihn eine Motivation gewesen, für den Bundestag zu kandidieren.  

„Im allerersten Lockdown haben wir als Jugendorganisationen gemeinsam, mit der Jungen Union, der Grünen Jugend und den Jusos und wir Junge Liberale, Anja Karliczek, der Bildungsministerin, einen offenen Brief geschrieben, und haben gesagt: Die Studis verlieren ihre Nebenjobs. In der Gastronomie, im Einzelhandel, alles hat zu. Sie wissen zum Teil nicht, wie sie ihre Miete zahlen sollen oder wie sie den Kühlschrank vollkriegen. Jetzt braucht es eine BAfög-Reform. Die wäre sowieso schon überfällig, aber kümmern Sie sich bitte um die Situation. Anja Karliczek hat auf diesen Brief nicht mal geantwortet. Das ist eine Respektlosigkeit gegenüber der jungen Generation, die selbstverständlich auch gehört werden wollte in der Pandemie.“ 

Und die Jungen sind nicht die einzige Gruppe, die sich bisher in der bundesdeutschen Politik unzureichend vertreten fühlt. Der Anteil der Frauen etwa ist nur leicht gestiegen von 31 auf 34 Prozent. Und nur 83 der 736 Abgeordneten, also gut elf Prozent, haben Wurzeln im Ausland – obwohl ihr Anteil in der Bevölkerung mehr als doppelt so hoch ist.  

In der konstituierenden Sitzung des Bundestags riet Alterspräsident Wolfgang Schäuble den neuen Abgeordneten, selbstbewusst zu sein. Aber er mahnte auch, nicht zu viel Wert darauf zu legen, welche gesellschaftlichen Gruppen im Parlament vertreten sind.  

Auch wenn sich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll: Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden: in beruflicher, in regionaler, in kultureller oder religiöser Hinsicht. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten. Bei wem fangen wir an? Wo endet das? Ein Parlament, das zwar die Vielfalt abbildet, aber darüber keine Mehrheiten schaffen kann, ist kein Parlament.“
Wolfgang Schäuble hält eine Rede zum Thema Corona-Maßnahmen bei der 191. Sitzung des Deutschen Bundestag in Berlin.
Wolfgang Schäuble: "Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein."© picture alliance / Flashpic / Jens Krick

Nicht alle der neuen Abgeordneten im Haus hat Schäuble mit den Worten überzeugt. Und einige von ihnen haben die Kräfte gebündelt, sie wollen frischen Wind ins Parlament bringen. Der neue Bundestag, er soll weiblicher, jünger und vielfältiger sein. Einer von Ihnen ist Armand Zorn.  

Natürlich ist der Anspruch, dass auch ich mit meinen Kriterien und Merkmalen, die mich als Person definieren, in der Lage sein sollte, alle möglichen Leute in Deutschland zu repräsentieren. Das stimmt in der Theorie. In der Praxis ist es so, dass ich an bestimmte Grenzen meiner Funktion als Abgeordneter komme, wenn es Lebenssituationen gibt, die ich noch nie erlebt habe und die ich mir nicht mal vorstellen kann. Deswegen würde ich sagen, es gibt bestimmte Lebensrealitäten, die lassen sich nur von bestimmten Leuten repräsentieren.“

Engagement für mehr Diversität

In einem Bundestagsgebäude Unter den Linden, etwas abgelegen vom Reichstag, bahnt Zorn sich seinen Weg vorbei an herumstehenden Computerbildschirmen und Kartons, aus denen lose Kabel hängen, in ein kleines Büro, in dem immerhin ein Sofa steht. 

„Das ist gerade so ein provisorisches Büro, das wir uns teilen. Hier ist ein Kollege von mir auch aus Hessen.“ 

Zorn ist aus Frankfurt am Main als Direktkandidat für die SPD in den Bundestag eingezogen. Bisher hatte der 33-Jährige als Unternehmensberater Firmen bei der Digitalisierung unterstützt. Und da kann seiner Meinung nach auch Deutschland Hilfe gebrauchen.  

„Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass wir die digitale Transformation in Deutschland verschlafen haben." 

Im Alter von 12 Jahren kam er mit seinen Eltern aus Kamerun nach Deutschland. Er studierte Wirtschaft, Verwaltung und Politik, lebte schon in China und Frankreich und kehrte schließlich nach Deutschland zurück. Nun will er am liebsten im Finanzausschuss arbeiten. Vor allem aber will er verändern, wie Politik gemacht wird und von wem.

„Ich würde erst einmal damit anfangen, dass sich in der Politik etwas ändern muss, indem wir in den Parlamenten mehr Menschen brauchen, die unsere Gesellschaft in ihrer Diversität repräsentieren. Diversität in Hinblick auch auf Lebensbiografien, Berufe, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit, ich glaube, das wäre erst einmal der richtige Schritt.“ 

Nach US-Vorbild in den Bundestag

Zorns Einzug in den Bundestag hat besondere Beachtung gefunden, weil er die Unterstützung einer Kampagne hatte, die erstmals bei dieser Bundestagswahl parteiübergreifend mit dem Ziel angetreten ist, das Parlament grundlegend zu verändern. „Brand New Bundestag“ heißt die Aktion, benannt nach dem amerikanischen Vorbild „Brand New Congress“. Die 2018 von ehemaligen Wahlkampfstrategen des linken US-Politikers Bernie Sanders gegründete Lobby-Kampagne hatte sich zum Ziel gesetzt, 400 nach ihrer Lesart progressive Kandidatinnen und Kandidaten in den US-Kongress in Washington zu bringen. Als einer ihrer größten Erfolge galt der Wahlsieg der jungen linken Demokratin Alexandria Ocasio Cortez aus New York. „Brand New Bundestag“ hat ähnliche Ziele in Deutschland, wenn auch einige Nummern kleiner.  

„Brand New Bundestag“ solle „progressive" Politik in den Bundestag bringen, vor allem den Klimaschutz, aber auch Mieterinitiativen oder andere Protestbewegungen wie die antirassistische Kampagne Black Lives Matter, sagt Initiator Maximilian Oehl.  

„Wir haben ein Parlament erlebt, das zu sehr großen Teilen die Regierungsentscheidungen mitgetragen hat. Gerade in Zeiten großer Umbrüche tun wir gut daran, ein Parlament zu kultivieren, in dem eine ausgeprägte Debattenkultur stattfinden kann.“  

Bewerben konnten sich bei „Brand New Bundestag“ Kandidatinnen und Kandidaten aller Parteien. Eine Jury wählte schließlich vor allem junge Politikerinnen und Politiker von den Grünen und der SPD aus. Die Kampagne verschaffte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern weit über ihren Wahlkreis hinaus Aufmerksamkeit. Ergebnis: Drei der von Brand New Bundestag unterstützten Kandidaten schaffte den Einzug ins Parlament: 

„Wir sind wirklich überwältigt von dem Erfolg, dass wir drei Leute erfolgreich unterstützen konnten, in den Bundestag einzuziehen.“  

Sagt Maximilian Oehl. Mit dem bevorstehenden Regierungswechsel stellt sich aber auch eine Frage: Werden diejenigen, die von der letzten Bundesregierung noch mehr Rechenschaft und Offenheit eingefordert haben, dies auch noch verlangen, wenn sie selbst Teil der nächsten Regierungskoalition sind? Staatsrechtler Florian Meinel hat da keine allzu großen Erwartungen:

„Alle Oppositionsparteien der Welt fordern immer mehr Transparenz. Wenn man selber an der Regierung ist, handelt man in der Regel anders, als man vorher in der Opposition geredet hat. Das ist aber auch nicht unlauter. Das hängt einfach mit diesem in das demokratische System eingebauten Rollenwechsel zusammen.“ 

„Das Parlament muss die Regierung kontrollieren“

Das am meisten genutzte Mittel der parlamentarischen Kontrolle ist die Kleine Anfrage. Sie bietet den Abgeordneten die Möglichkeit, schriftlich Informationen aus den Ministerien zu erfragen oder die Regierung aufzufordern, ihr Vorgehen zu erklären. In der vergangenen Legislaturperiode richteten die Abgeordneten mehr kleine Anfragen an die Bundesregierung als je zuvor: 11.677, dreimal so viel wie in der vorangegangenen Wahlperiode. 861 Kleine Anfragen zählt der Bundestag allein zur Corona-Pandemie. Die Bundesregierung reagierte genervt, bat die Parlamentarier sogar mehrmals, weniger Anfragen zu stellen. Marco Buschmann von der FDP lehnte das ebenso ab wie die Geschäftsführer der anderen bisherigen Oppositionsfraktionen.  

„Die Kleine Anfrage ist Ausfluss des Frage- und Informationsanspruchs des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten gegenüber der Regierung. Es steht der Regierung nicht gut zu Gesicht, dem Parlament nahezulegen, davon weniger Gebrauch zu machen, denn das Parlament muss die Regierung kontrollieren“ 

Einer, der sich in der vergangenen Legislaturperiode einen besonderen Namen für die parlamentarische Kontrolle der Regierung gemacht hat, ist der ehemalige Linken-Abgeordnete Fabio De Masi. Er wurde vor allem als Aufklärer im Skandal um den kollabierten deutschen Finanzdienstleister Wirecard bekannt und war Obmann des Untersuchungsausschusses. Er war der Erste, der in dem Fall eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung stellte. Als der Skandal offenbar wurde, befragten De Masi und seine Kollegen im Untersuchungsausschuss in sechs Monaten über 100 Zeuginnen und Zeugen und zeichneten nach, wie die deutsche Finanzaufsicht Bafin den Märchen des Unternehmens auf den Leim ging.  

„Das war sicherlich ein Erfolg in der parlamentarischen Arbeit, aber es war auch kein Erfolg in dem Sinne, dass ich jetzt sagen könnte, die Kleinanleger haben ihr Geld zurück, sondern es war eher ein Erfolg, dass nach den ganzen Maskenskandalen und Korruptionsaffären die Leute gesehen haben, es gibt auch noch Abgeordnete, die überparteilich ihren Job machen und wirklich versuchen, ein Stück weit im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Art Gerechtigkeit herzustellen und das aufzuklären. Wenn man das aber vom Ende her betrachtet, kann man sagen, jetzt ist der Mann Kanzler geworden, der mit dem Skandal eng verknüpft war, obwohl die Opposition ihr gesamtes Gewicht dahinter gelegt hat.“ 
Bundesfinanzminister Olaf Scholz in der Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Bilanzskandal Wirecard im Deutschen Bundestag.
Olaf Scholz im Untersuchungsausschuss zum Bilanzskandal Wirecard: "Jetzt ist der Mann Kanzler geworden, der mit dem Skandal eng verknüpft war", sagt Fabio De Masi.© picture alliance / dpa / dpa-POOL / Kay Nietfeld

Wirecard galt lange als deutsches Vorzeigeunternehmen. Und daran sollte offenbar nicht gerüttelt werden. Die "Financial Times" hatte schon länger über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichtet. Auch De Masi erhielt Hinweise. Anstatt die Vorwürfe aufzuklären, verteidigte die Bafin das Unternehmen und erstattete Anzeige gegen die Financial-Times-Journalisten. Sie sollten mit Spekulanten unter einer Decke gesteckt haben. Für De Masi ist das Vorgehen der Bafin ungeheuerlich.  

„Gerade dann brauche ich eine gute Aufsicht, die im Zweifel auch mal auf den Busch klopfen kann. Und für die ist das Finanzministerium verantwortlich. Und nicht nur der Finanzminister, die Bundeskanzlerin hat in China für das Unternehmen lobbyiert. Aber entscheidend ist doch eines: Bei der Geldwäsche und bei der Finanzaufsicht gab es ganz viele Hinweise. Und die Finanzaufsicht hat das Unternehmen abgeschirmt, sogar Journalisten verfolgt. Und die Geldwäscheaufsicht hat auch gepennt. 

De Masi hat viel Zuspruch für seine Aufklärungsarbeit erhalten, auch von Abgeordneten anderer Fraktionen. Für den Bundestag hat er nicht noch einmal kandidiert. Das erklärt er auch damit, dass er zwar Missstände aufdecken, aber wegen der Schwäche seiner Partei keine Alternative bieten konnte.

„Kontrolle von Regierungsmacht ist einerseits Informationen ans Licht bringen und sie den Leuten erklären. Das ist aber nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung. Es muss auch Akteure geben, die dann eine Alternative verkörpern.“ 

Forderung nach mehr Transparenz

Die Linke hatte in der Zeit der Großen Koalition gemeinsam mit den Grünen und der FDP mehr Transparenz gefordert. Die Bundesregierung müsse dem Parlament häufiger Rede und Antwort stehen, ihre Politik erklären, forderten die Parlamentarier. Nun werden Grüne und FDP voraussichtlich Teil der neuen Regierungskoalition. Ob sie noch dazu stehen, was sie als Oppositionsparteien selbst gefordert haben? De Masi rät seiner eigenen Fraktion, hier nachzuhaken. 

„Das ist der Lackmustest, das wird jetzt meine Fraktion sicher auch machen, dass man mal die guten Verbesserungsvorschläge zur Kontrolle von Regierung von FDP und Grünen in dieser Legislaturperiode einbringt. Und wir sind dann mal gespannt, wie viele sie davon unterstützen. Natürlich werden ganz viele davon abgelehnt von der Ampelkoalition, weil es das eigene Regierungshandeln beschneidet.“ 

Vielleicht aber können sich die Fraktionen, die die Regierung tragen, stärker als bisher auch mit kritischen Tönen zu Wort melden. Das rät ihnen zumindest der Verfassungsrechtler Joachim Wieland. Der Bundestag dürfe seinen Bedeutungsverlust nicht einfach hinnehmen, müsse um seine Rolle, zentraler Ort der Demokratie zu sein, kämpfen, sagt er. 

„Das sollte passieren sowohl auf dem Feld der Gesetzgebung als auch auf dem Feld der öffentlichen Debatte. Bei der Gesetzgebung gilt ja der alte Satz von Struck, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es reingekommen ist. Das kann man stärker in Erinnerung rufen. Und man kann sagen, die Grundrichtung tragen wir selbstverständlich mit, aber wir möchten unseren eigenen Stempel aufdrücken. Zum anderen ist das Parlament aber auch Ort der öffentlichen Debatte. Und da ist meiner Ansicht nach der Bedeutungsverlust am stärksten.“ 
Britta Haßelmann, die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, will sich offenbar auch künftig an ihrer Forderung nach einem stärkeren Parlament messen lassen, ob sie nun Teil einer Regierungskoalition ist oder nicht.  

„Ich bin mir ja dessen bewusst, dass es immer ein Spagat ist. Aber dennoch, glaube ich, ist es wichtig, egal, ob Regierung oder Opposition, die Souveränität, das Selbstbewusstsein als Parlament gegenüber einer Regierung immer wieder zum Ausdruck zu bringen, dass wir da eine zentrale Rolle spielen als Parlament. Und dass es eben wichtig ist, auch zur Vermittlung von Entscheidungen, dass dort öffentliche Debatten stattfinden, dass dort Rede und Gegenrede stattfinden. Ich hoffe, dass es uns gelingt, hier nach drei Legislaturperioden Großer Koalition auch mit den anderen daran zu arbeiten, dass es besser wird.“      

Frust beim Warten auf die neue Regierung  

  Bisher aber warten vor allem die neuen Abgeordneten darauf, dass es endlich soweit ist, dass sie sich einmischen können in die öffentliche Debatte. Bislang bekommen all jene, die nicht an den Koalitionsverhandlungen beteiligt sind, wenig mit vom Entstehen der neuen Regierungsmehrheit. Linda Heitmann hält sich an der Teetasse fest, die ihr Mitarbeiter aufgegossen hat. Ihm hat sie es zu verdanken, dass das Übergangsbüro schon recht wohnlich wirkt – Zimmerpflanzen, eine Espressomaschine und heißes Wasser aus dem Kessel. 

„Es ist eine total eigentümliche Situation momentan, auch mit den ganzen Themenzuständigkeiten, weil teilweise die Leute, die bisher für Themen zuständig waren und für die gesprochen haben, zwar offiziell keine Sprecherfunktion mehr haben, aber von der Presse nach wie vor angefragt werden. Und das führt dann dazu, dass andere, die die Themenbereiche vielleicht künftig auch gerne machen würden, beleidigt sind und sich öffentlich ärgern, was ich total verstehen kann. Aber es ist für alle ein schwieriger Prozess gerade.“  

Heitmann ist als Direktkandidatin für Hamburg-Altona in den Bundestag gezogen. Ihr Sieg gegen den lange unangefochtenen Konkurrenten von der SPD war eine kleine Sensation in ihrem Wahlkreis. Heitmann war zuvor schon einmal Bürgerschaftsabgeordnete in Hamburg. Danach arbeitete sie als Geschäftsführerin der Hamburger Landesstelle für Suchtfragen. Im Bundestag würde sie für die Grünen-Fraktion gern in den Gesundheitsausschuss gehen. Aber bisher heißt es abwarten.

„Wir haben ja die skurrile Situation, dass wir mehr neue Leute haben als Leute, die schon dabei waren. Aber wir neuen Abgeordneten wollen natürlich auch schon gerne alle vorkommen, sehen aber, dass bisher diejenigen, die schon drin waren, diejenigen sind, die vorkommen und die Verhandlungen führen. Und das ist nicht so einfach.“

Heitmann will für eine Bürgerversicherung kämpfen, also gegen die Trennung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung. Und sie will, dass Frauen ebenso viel verdienen wie Männer. Dafür soll das Ehegattensplitting verschwinden. Bis sie etwas zu sagen hat, muss sie erst mal viele Formalien klären. Unzählige Anträge muss sie ausfüllen, Schlüssel in Empfang nehmen. Ein Techniker kommt ins Büro, um Handys und Computer einzurichten. Danach eilt Heitmann zur Ausweisstelle im Reichstag, um sich einen 2G-Aufkleber für ihren Abgeordnetenausweis abzuholen. Nur mit dem Nachweis, dass sie gegen Corona geimpft ist, kommt sie in den Plenarsaal im Reichstag.

Ausgestattet für die nächste 2G-Plenarsitzung tritt Heitmann durch das Ostportal, den hinteren Eingang des Reichstags, der den Abgeordneten vorbehalten ist, ins Freie. Bei aller Ungeduld, dass es nun endlich losgehen möge, hält Linda Heitmann manchmal auch inne und erinnert sich daran, dass sie bis vor einigen Wochen nur ein Ziel hatte:  

„Ich möchte in den Bundestag kommen, ich möchte das schaffen. Und das habe ich tatsächlich geschafft. Und jetzt muss ich mich hier erst mal orientieren und dann gucken, welches die nächsten Ziele sind, die ich mir stecke.“ 

Es wird ein anderer Bundestag werden mit den neuen Abgeordneten. Und sie wollen vieles anders machen. Ob sie es besser machen, werden sie zeigen müssen.
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