Messewirtschaft

Eine Branche kämpft ums Überleben

30:49 Minuten
Ein Handwerker steht in einem Durchgang einer im Aufbau befindlichen Messehalle und versucht mit einem langen Besenstiel die Decke zu erreichen.
Wenn Deutschland weiterhin im Messebereich international ganz oben mitspielen möchte, müsse viele Anbieter wohl umdenken. © picture alliance / dpa / Christophe Gateau
Von Martin Schütz und Johannes Zuber · 12.07.2022
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Deutschland zählte vor der Coronapandemie zu den größten Messestandorten weltweit. Die Messewirtschaft setzte Milliarden um. Mit der Pandemie wurde ein Wandel beschleunigt. Jetzt steht die Branche vor enormen Veränderungen.
Eine Messehalle in Köln im Frühjahr 2022. Fitness-Influencerinnen in Yogahosen tummeln sich zwischen aufgepumpten Bodybuildern. Und mittendrin Geschäftsmänner in Jeans und Sakko. Nachdem sie zweimal ausgefallen ist, findet die Fitnessmesse Fibo wieder in Präsenz statt. Das letzte Mal ist sich die Branche in dieser Form vor der Pandemie begegnet. Die nach eigenen Angaben weltweit größte Messe für Fitness, Wellness und Gesundheit fand zwischendurch nur online statt.
„Alles, was digital war, war zwar nett… Aber so ‘ne Fibo ist schon was anderes, ne?
Die gesamte Messebranche atmet auf: Messeveranstalter, ausstellende Unternehmen und natürlich die Besucherinnen und Besucher sind einfach nur froh, dass sie sich wieder treffen können. Und dass alles scheinbar wieder wird wie früher, vor Corona. Was auf den ersten Blick aber nicht sichtbar ist: Während der vergangenen zweieinhalb Jahre sind in der Branche Veränderungen angestoßen worden, die das gesamte Business verändern werden.
Frank Böhme ist auf der Fitnessmesse Fibo praktisch zu Hause. In den Messehallen schafft er selten mehr als 50 Meter am Stück, ohne dass er Hände schüttelt, Menschen umarmt und einen kurzen Schwatz hält. Man kennt sich halt. Der Anfang-60-Jährige ist Mitinhaber von Just Fit. Die Kette betreibt im Rheinland mehrere Fitnessstudios.
„Na ja, man muss als Erstes natürlich sagen: Ich mache jetzt seit 38 Jahren Fitness-Clubs. Ich bin also einer der Dinosaurier, der hier rumläuft, nicht nur an der Haarpracht zu erkennen.“
Frank Böhme war früher selbst Leistungssportler, Mitglied der Judonationalmannschaft, Mitarbeiter bei einem Autobauer und Bodybuilder. Vor knapp 30 Jahren tauschte er dann seinen Porsche gegen das erste Studio. Seitdem hat er viele Krisen gemeistert. Corona war aber sicher die größte davon. Monatelang durften die Kunden nicht trainieren, der Betrieb stand still.
„Aber ich glaube, jetzt müssen wir gerade nach Corona die Leute wieder motivieren, in die Studios zu kommen. Und jetzt müssen wir da richtig Vollgas geben.“
Und dazu sollen nicht nur neue Geräte zählen, sondern auch ganz neue Studios.
„Wir wollen in den nächsten 18 Monaten zehn neue Clubs in Köln machen, nur in Köln zehn neue Clubs. Und ich bin heute auf Einkaufstour.“

Deals in Höhe von zwei Milliarden Euro

Auf dieser Einkaufstour will Frank Böhme die Geräte für die neuen Clubs kaufen, dazu alle mögliche Technik, um die neuen Standorte so digital wie möglich auszustatten; mit ordentlichem Budget.
„Ja, mit dem, was angeleiert wird, sicherlich Richtung drei Millionen.“
Damit gehört Frank Böhme zu den größeren Kunden auf der Fitnessmesse Fibo. Aber er ist längst nicht der Einzige, der während des Branchentreffens viel Geld ausgibt. Insgesamt werden hier nach Angaben der Veranstalter Deals in Höhe von zwei Milliarden Euro eingetütet. Die Unternehmen, die einen Stand haben, profitieren davon, dass die Messe ihnen Tausende von potenziellen Kunden quasi vor die Haustür liefert. Damit ist eine Messe wie die Fibo für viele Unternehmen ein zentraler Termin im Geschäftsjahr.
„Vor allem, wenn sie jetzt eben aus der Region kommen, wo die Messe stattfindet, weil dadurch gewinnen sie eben neue Kunden, neue Aufträge“, sagt Horst Penzkofer.
Der Wissenschaftler hat am Wirtschaftsforschungsinstitut ifo in München viele Jahre lang die wirtschaftliche Bedeutung von Messen untersucht. Und die ist nicht nur für die ausstellenden Unternehmen groß, die hier Deals einfädeln.

„Dadurch können dann wieder neue Investitionen bei diesem Aussteller entstehen, Wachstumsimpulse entstehen, Arbeitsplätze entstehen. Das ist für die Region in dem Sinne schon mal wichtig, wenn sich dort regionale, kleine, mittlere Unternehmen präsentieren.“
Menschen nehmen vor einer Bühne an einem Gymnastikkurs teil. Die Bühne ist überschrieben mit den Worten: "Group Fitness Stage. FIBO Global Fitness".
Nach zwei Jahresn Ausfall fand die Fitnessmesse Fibo im Frühjahr 2022 erstmals wieder in Präsenz statt.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Christopher Adolph
Wie groß diese wirtschaftlichen Effekte in Deutschland insgesamt sind, hat das ifo-Institut vor der Coronapandemie ausgerechnet – und kam auf stattliche Summen: Allein Aussteller und Besucher von Messen geben demnach jedes Jahr rund 14 Milliarden Euro aus. Dazu kommt noch mal die gleiche Summe, die rund um die Messe ausgegeben wird: für Hotelübernachtungen, Essen, Taxifahrten und so weiter. Insgesamt hat die Branche ein Volumen von 28 Milliarden Euro pro Jahr. Damit ist Deutschland weltweit der wichtigste Messestandort, sagt Horst Penzkofer.
„Es ist so, dass in Deutschland so ungefähr zwei Drittel der international führenden Leitmessen stattfinden. Fünf der zehn größten Messegesellschaften, die haben ihren Sitz in Deutschland. Es ist schon ein gewichtiger Faktor.“

Mit der Hannover Messe ging es los

Einer der wichtigsten Standorte ist Hannover. Dort fanden schon nach dem Zweiten Weltkrieg die Messen statt, die dem Land wieder zu wirtschaftlicher Eigenständigkeit verhelfen sollten. Begleitet von den Messeberichten im Radio.
„Wie in den vergangenen Jahren besuchte auch dieses Mal Bundeswirtschaftsminister Professor Erhard bereits in den ersten Tagen die Deutsche Industriemesse in Hannover.

Ich habe von der Messe einen hervorragenden Eindruck gewonnen. Nicht nur, was die Darbietung, Qualität und Fülle an Land, sondern auch von den starken Impulsen, die von dieser Messe ausgehen und von dem Optimismus, von der die Menschen – so Verkäufer wie Käufer – getragen sind.

Ludwig Erhard

Seit damals ist die Hannover Messe und mit ihr das Messegelände im Süden der Stadt stetig gewachsen.
„Wir haben bis heute das größte ebenerdige Messegelände der Welt, dank einer Expo, die hier stattgefunden hat und dank einer tollen Entwicklung in den letzten 75 Jahren.“
Jochen Köckler ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Messe AG, der Messegesellschaft in Hannover. In den vergangenen Jahren war die Entwicklung seines Unternehmens aber nicht nur toll. Denn wegen Corona mussten viele Messen abgesagt werden – und Jochen Köckler musste improvisieren, um sein riesiges Messegelände irgendwie zu nutzen.
„Das hat zu drei Dingen geführt: Wir hatten eben ein Behelfskrankenhaus, was Gott sei Dank nie in Betrieb gegangen ist, hatten dann ein Impfzentrum für die Region Hannover Landeshauptstadt plus umliegende Region. Und als Drittes haben wir zu Beginn dieses Jahres noch mal Geflüchtete gehabt: Das heißt, die Infrastruktur Messe, die kann eine ganze Menge.“
Nur das, was die Infrastruktur Messe mit ihren Parkplätzen, Bahnhöfen und Hallen am besten kann, das durfte sie zwei Jahre lang nicht machen: viele Leute auf engem Raum zusammenbringen, um möglichst viele direkte Kontakte herzustellen.

Kontaktbörse unterm Hallendach

Messen sind nichts anderes als große Kontaktbörsen. Man steckt einfach sehr viele Kundinnen und sehr viele Unternehmen in eine große Halle, alle präsentieren sich von ihrer besten Seite, und im Idealfall finden sie zusammen. Jeder Kontakt zwischen zwei Menschen auf einer Messe ist ein potenzielles Geschäft: egal ob am Messestand, beim Mittagessen, nach einem Vortrag oder beim Feierabendbier.
Um das zu ermöglichen, fließt viel Geld: Die Besucherinnen kaufen Eintrittskarten, die Aussteller mieten Flächen für ihre Stände und die Messeveranstalter sorgen mit diesen Einnahmen dafür, dass alles reibungslos läuft. Sie kümmern sich um Ticketverkauf, Catering, Sicherheit, Strom und Bühnentechnik für die Hallen.
Ohne die physischen Treffen in einer Messehalle kam dieser Geldkreislauf weitgehend zum Erliegen, sagt der Wissenschaftler Hort Penzkofer vom ifo Institut.

Vor Corona-Zeiten war der Umsatz, den die Messegesellschaften erzielt haben, bei ungefähr gut vier Milliarden Euro. Der ist um über 70 Prozent zurückgegangen, weil ja die Besucherzahlen und die Ausstellerzahlen aber auch eben die vermietete Fläche um ungefähr 70 Prozent gesunken ist.

Hort Penzkofer

Einen solchen Rückgang können viele Unternehmen nur schwer verkraften. Und ein paar kleine, private Messeveranstalter haben Corona auch nicht überlebt. Die meisten Messegesellschaften sind aber kommunale Unternehmen, AGs oder GmbHs im Besitz der jeweiligen Städte. Und die haben ein großes Interesse daran, ihre Messeunternehmen nicht pleitegehen zu lassen.
Deren Überleben war also kurzfristig gesichert. Langfristig mussten sich die Messegesellschaften aber etwas Neues überlegen. Und zwar am besten etwas, das das Geschäftsmodell Messe zukunftsfest macht. Also auch dann noch funktioniert, wenn die Branche nicht mehr in die gute alte Zeit zurückkann, die ihr seit dem Wirtschaftswunder einen jahrzehntelangen Boom beschert hat.
„Obwohl man mit Superlativen heute sehr behutsam umgehen sollte: Wenn eine Messe die Berechtigung hat, die größte der Welt genannt zu werden, dann muss man es der Industriemesse Hannover zugestehen. Die Ausstellungsstücke, deren Wert wohl kaum eine Versicherung übernehmen könnte, reichen vom Walzwerk bis zur automatischen Armbanduhr. Besonders eindrucksvoll sind die Stahlstraße und die Hallen des Maschinenbaus, der Schwer- und Elektroindustrie“, heißt es im Radiosender Rias Berlin am 2. Mai 1961.

Die Messe im Internet

Nachdem Jochen Köckler im Frühjahr 2020 mit einer jahrzehntelangen Tradition brechen und die Hannover Messe absagen musste, brauchte er eine schnelle Lösung. Und die lag im Internet.
„Nachdem wir verstanden haben, dass ein physisches Treffen in 2020 nicht möglich ist, haben wir sogenannte Digital Days gemacht, in wenigen Wochen Vorbereitung quasi, ja, drei YouTube-Kanäle, kann man sagen, gesteuert, wo es mal um Technik ging, mal um politische Themen. Da hatten wir so 10.000 Teilnehmende an den Bildschirmen und haben da eine Menge gelernt, wie etwas funktioniert.“
Nach dieser Erfahrung der spontanen Digital-Veranstaltung 2020 wollten Jochen Köckler und sein Team im folgenden Jahr vieles besser machen. Zwar konnten sie auch 2021 nicht zurück in die alte Welt, diesmal hatten sie aber mehr Vorbereitungszeit für die neue Form der Hannover Messe.
„Da war der Anspruch schon deutlich höher. Da wollten wir nicht nur irgendwelche Seminare streamen, sondern hatten drei Elemente: eine richtige Messe, wo wir die Aussteller eingeladen haben, Produkte zu präsentieren in unterschiedlichen Formen. Als zweites Networking. Wir haben da auch Räume geschaffen, dass der Besucher auf den Aussteller treffen kann. Und als Drittes auch da wieder ein gutes Konferenz Programm.“
Das lief schon etwas besser. Fast 100.000 Menschen nahmen an der digitalen Hannover Messe 2021 teil. Aussteller präsentierten ihre Produkte, Geschäftsleute konnten sich austauschen – und die Messegesellschaft konnte ein bisschen Geld verdienen.
„Auch das in der Not war gut, dass wir da Geld verdient haben. Aber das, was dabei rausgekommen ist, war für unsere Aussteller nicht befriedigend, weil dieses richtige Geschäftanbahnen, dann wirklich auch Technologie zu bestellen, da hat man uns gesagt, ihr habt das großartig gemacht, vielleicht die beste digitale Messe, auf der wir waren, aber macht es so nicht noch mal.“
Drei Personen betreten einen Eingang der Messehalle Hannover.
Schon seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gehört Hannover zu den wichtigsten Messestandorten in Deutschland.© AFP / Axel Heimken
Im dritten Pandemiejahr gab es dann wieder eine Messe, die gewissermaßen an die Vor-Corona-Zeit erinnerte. Industrieunternehmen bauten in den Hannoveraner Messehallen ihre Stände auf, Besucherinnen aus aller Welt kauften Tickets, der Bundeskanzler hielt eine Rede – und natürlich wurden auch Geschäfte gemacht. Ganz zurück in der alten Welt war Jochen Köckler damit aber immer noch nicht.
Denn erstens war die Messe deutlich kleiner als vor Corona, damals waren fast dreimal so viele Aussteller und Besucherinnen in Hannover. Und zweitens war auch das digitale Element der beiden ersten Pandemie-Jahre nicht wieder verschwunden: Allein 15.000 Besucher nahmen 2022 ausschließlich über Internet teil. Eine Entwicklung, die ohnehin irgendwann gekommen wäre. Nur wahrscheinlich nicht so schnell.

Für uns als Unternehmen gebe ich gerne zu: Das, was wir sonst uns in fünf Jahren vorgenommen hätten, haben wir in fünf Monaten gemacht.“

Jochen Köckler

Dieser Trend zu hybriden Veranstaltungen, die einerseits vor Ort stattfinden und andererseits auch übers Netz genutzt werden können, wird bleiben, da sind sich alle einig. In einem anderen Punkt herrscht aber noch große Unsicherheit.
„Für uns als Unternehmen ganz wichtig: Wir müssen ja Geld verdienen und wollen auch Geld verdienen. Wie macht man daraus Geschäftsmodelle? Bisher haben wir Quadratmeter verkauft und jetzt wollen wir unbedingt weiterhin Geschäftsanbahnung machen. Und da sind wir auch noch ein Stück weit in der Probierphase.“

Die 28-Milliarden-Euro-Frage

Jochen Köckler und seine Kollegen aus Köln, München oder Frankfurt stehen alle vor der gleichen Herausforderung. Um auf einer Messe Geschäfte anzubahnen, sind vor allem zwei Dinge wichtig: Erstens müssen Besucher dort die neuesten Trends der jeweiligen Branche sehen, sie müssen mitbekommen, welche neuen Geräte es gibt und wohin sich der Markt entwickelt.
Und zweitens müssen sie auf potenzielle Geschäftspartnerinnen treffen. Dinge, auf die klassische Messehallen spezialisiert sind. Wie genau das jenseits der Hallen funktionieren soll, das ist die 28-Milliarden-Euro-Frage. Zur Erinnerung: So viel Geld setzte die gesamte Branche vor Corona jedes Jahr um.
„25.000 Menschen waren nötig, die Messe aufzubauen. 50.000 waren während der Messe auf den Ständen der Aussteller und in den Einrichtungen der Messe AG beschäftigt. Und 2000 Menschen mussten täglich für die Reinhaltung der Hallen und des Geländes eingesetzt werden. 70 Dolmetscher für insgesamt 18 Sprachen standen Ausstellern und Besuchern kostenlos zur Verfügung“, berichtete erneut der Rias Berlin im Mai 1964 über die Hannover-Messe.

Ein "Fitnessdinosaurier" sucht Neuheiten

Frank Böhme ist auf der Fitnessmesse Fibo inzwischen am Stand von Woodway angekommen, einem Hersteller von Laufbändern und anderen Trainingsgeräten. Der Studiobetreiber hat sich auf eine neue Rudermaschine gesetzt und fängt an zu trainieren. Dirk Schildhauer von Woodway ändert noch ein paar Einstellungen am Gerät.
Frank Böhme braucht neue Geräte. Einerseits für seine zehn neuen Clubs in Köln, aber auch für die bestehenden Fitnessstudios. In welche Geräte er investiert, hängt vor allem von der Nachfrage der Kunden ab. Die Vorlieben und die technischen Features verändern sich ständig.
„Man muss sich in der Fitness Branche jeden Tag neu erfinden. Es ist natürlich klar, auf so einer Fibo kommen Neuheiten, die man nicht auf dem Scanner hat. Deswegen ist so eine Fibo sehr wichtig, um auch so einem alten Bock wie mir, der so lange dabei ist und so viel in dieser Branche erfahren und erleben durfte, ist es auch sehr wichtig, sich neue Innovationen zu holen.“
Ein älterer Mann im Anzug und kurzen Haaren lächelt in die Kamera.
Auch für die Fitnessbranche gilt: Nur wer mit der Zeit geht, bleibt auf dem Markt, so Frank Böhme. © Martin Schütz
Prinzipiell wäre es für Frank Böhme natürlich auch möglich, sich anderswo über Neuheiten zu informieren. Ein selbst ernannter Fitnessdinosaurier wie er kennt sich aus in der Branche. Dennoch gibt es auf der Messe für ihn immer wieder diesen Aha-Effekt.
„Da kommt aus Korea irgendeiner, der etwas Neues vorstellt. Das stellt er auf der Fibo vor, der muss mich ja nicht vorher zwanghaft kennen… Wir haben es eben bei Woodway erlebt, wo man sagt: Oh, hier ist was, das habe ich vorher nicht gewusst. Und das hat mir der Lieferant vielleicht auch nicht erklärt. Das wollte er erklären auf der Fibo.“

Ohne Messebauer geht gar nichts

Dafür, dass die neuen Produkte auf Messen im angemessenen Rahmen präsentiert werden, sind vor allem Vertreter einer Branche zuständig: die Messebauer. Sie entwerfen und bauen die Stände, an denen die Aussteller sich und ihre Waren möglichst gut präsentieren. Einer dieser Messebauer ist die Firma i.xpo aus Kaarst am Niederrhein.
Das Unternehmen arbeitet vor allem für Messen in Düsseldorf. Aber auch die fielen wegen Corona größtenteils aus. Die Messebauer mussten sich also schnell etwas überlegen, um die Pandemie zu überstehen, erzählt Philipp Jacobs, der Marketing- und Vertriebsleiter bei i.xpo. Die erste Idee war naheliegend: Schutzwände für Großraumbüros, Kantinen oder Supermärkte.
„Wir hatten Anfragen für Plexiglas. Aber das war für uns halt alles irgendwie so Übergangslösung. Man kann sich in diese Sachen komplett reinschmeißen. Klar macht Sinn, aber das ist auch nur das Pflaster auf die Wunde. Aber ist das langfristig dann noch ein Geschäftsfeld, wo man von profitiert?“
Die Antwort bei i.xpo war klar: nein. Es mussten also andere Geschäftsfelder her, die eine Perspektive für das Unternehmen bieten – auch, wenn die Pandemie noch lange andauern sollte. Und diese Perspektive liegt im Internet.
„Wir betreten jetzt gemeinsam den Campus. Ich habe jetzt hier die Möglichkeit, erst mal ein Video mir anzuschauen. Und wenn ich mit diesem Video durch bin, kann ich quasi direkt den Einstieg in die digitale Welt finden.“

Digitale Firmengebäude mit Foyer und Lichthof

Philipp Jacobs klickt sich durch ein virtuelles Firmengebäude, programmiert für einen Kosmetikhersteller. Es soll alles bieten, was ein Stand in einer Messehalle auch kann: das Unternehmen gut darstellen, potenzielle Kunden begeistern und sie über neueste Produkte informieren. Nur eben am Bildschirm statt in der Halle.
In dem digitalen Firmengebäude gibt es ein Foyer mit Lichthof, eine Bibliothek mit Kaminfeuer und Blumen auf dem Tisch. In jedem Raum lassen sich verschiedene Punkte anklicken, hinter denen sich Informationen verbergen. Das virtuelle Gebäude des Kosmetikherstellers soll aber nicht nur gut aussehen. Im Endeffekt geht es – ähnlich wie bei einem Messestand – vor allem ums Geschäft.
„Gehen wir zurück ins Foyer mit dem großen Lichthof und schauen uns jetzt die verschiedenen Produktbereiche des Kunden an. Jeder Produktbereich hat einen hoch individuellen Raum, einen ganz eigenen Anstrich. Wenn wir uns noch einmal um die eigene Achse drehen und zurückschauen, haben wir einen großen Innovationsbereich, wo wir dann noch mal Produkte mit 3D-Viewer sehen, wo wir auch in das Produkt reinschauen können und weitere Informationen finden.“

Die Schwächen der digitalen Welt

Der Vorteil aus Sicht der Entwickler: Kunden können sich in Ruhe über ein Produkt informieren, ohne Messegewusel drum herum, ohne anstehen zu müssen. Aber digitale Welten wie die des Messebauers i.xpo haben nicht zu leugnende Nachteile: Erstens lassen sich die hier gezeigten Produkte weder anfassen noch ausprobieren.
Und zweitens kommen nur Leute an den digitalen Messestand, die bewusst einen Link anklicken und sich auf der Seite anmelden. Es kommt niemand zufällig vorbei. Im Gegensatz zu einer Messehalle, wo sich Stand an Stand drängt.

Genau diese kurzen Wege, dass man sich da mal austauscht, also dieses Zwischenmenschliche, diese kurzen Wege sind ganz wichtig und das findet man eben auf Messen, auf realen Messen. Aber in virtuellen Veranstaltungen ist das nicht so gegeben.

Horst Penzkofer, Messeforscher am Münchner Ifo-Institut

„Wenn ich jetzt ein Fachbesucher bin und ich suche nach irgendeiner Lösung, suche ich im Internet gezielt nach einem bestimmten Lösungsansatz. Auf einer Messe kann ich durch die Hallen durchgehen und sehe eine Lösungsmöglichkeit, an die ich gar nicht gedacht habe. Das heißt, dieses Erleben, dieses Zufällige, was ich dann habe, das ist weg, weil im Internet suche ich ja gezielt.“
So sehen das auch die großen Messebetreiber. Nicht nur, weil es ihr Geschäftsmodell ist, einmal im Jahr Tausende Unternehmen und Zehntausende Menschen in einer Halle zusammen zu bringen. Auch, weil durch diese Gleichzeitigkeit und dieses Nebeneinander eine ganz eigene Dynamik entsteht. Für viele Besucherinnen und Aussteller sind Messen ein Event, vergleichbar mit einem Festival, für das es sich lohnt, quer durchs Land zu reisen und in überteuerten Hotels zu übernachten.
„Es ist ja bekannt, dass sehr viele Messe Gäste gar kein Bett mehr finden können hier in Hannover. Sie wohnen dann bis zu 50, 60 Kilometer außerhalb Hannovers in den umliegenden Städten. Nun, ein besonderes Kuriosum scheint mir zu sein: Neuerdings wohnen viele Messegäste sogar in Berlin. Sie kommen dann morgens mit dem Flugzeug hierher und fliegen abends wieder zurück nach Berlin“, wusste dazu auch wieder Rias im Mai 1961 zu berichten.

Der mühsame Weg zum Erfolg

Der Weg in die neue Messewelt ist mühsam. Auch für klassische Messebauer wie i.xpo. Für ihr neues Produkt, den digitalen Messeauftritt, musste die Firma massiv Werbung machen, sagt Philipp Jacobs.
„Das war vertrieblich auch, wo wir im Marketing und Vertrieb wirklich dicke Bretter gebohrt haben.“
In vielen langen Sitzungen musste der Messebauer sein Produkt anpreisen. Denn nicht jeder potenzielle Kunde war gleich so überzeugt wie Philipp Jacobs.
„Das hat sich bei der Website auch noch keiner vorgestellt, dass die sozialen Netzwerke kommen. Die sozialen Netzwerke sind da, wurden Marketing und Vertriebskanäle. Und jetzt kommt nun mal der nächste digitale Schritt, und der ist dreidimensional. Auch da müssen wir uns neu finden. Auch da müssen Kunden erst mal ein Gespür für Budgets, Timings und auch für die Möglichkeiten bekommen.“
Zumal der neue Auftritt – wie für den Kosmetikhersteller – nicht billig ist. Virtuelle Welten zu bauen, ist extrem aufwendig. Zwar fallen viele Arbeitsschritte weg, die bei einem Messestand viel Zeit und Geld kosten: Standdesign, Materialeinkauf und Standaufbau, Sägen, Schrauben, Lackieren, der Abbau, Transport und das Einlagern. Aber dafür gibt es jetzt ganz neue Kosten: i.xpo musste in neue Hard- und Software investieren; bei technischen Fragen, etwa dem Webhosting, arbeitet der Messebauer mit einem Dienstleister zusammen.

Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden

Immerhin konnte die Firma mit dem Stammpersonal in die virtuelle Messewelt aufbrechen; niemand musste entlassen oder neu eingestellt werden. Designerinnen und Designer, die normalerweise am Computer klassische Messestände aus Holz, Metall und Kunststoff entwerfen, planen jetzt virtuelle Bauten. Für alle eine Riesenumstellung, sagt Philipp Jacobs.
„Ich würde mal sagen, für ein gutes Messeprojekt brauchen zwei Designer höchstens einen Monat, um dann wirklich dann auch mit den Kundenmeetings mit den Schulterblickterminen, die ganze konzeptionelle Arbeit bis zur Pitch-Präsentation. Und hier sind es dann wirklich bei dem ersten digitalen Projekt, was ich Ihnen präsentiert habe, war es ein halbes Jahr. Circa eins zu zehn um den Dreh.“
Bisher konnte i.xpo nur zwei Unternehmen für das Experiment gewinnen: neben dem Kosmetikhersteller noch eine Pharmafirma. Denn: Solche digitalen Auftritte werden in der Regel aus dem gleichen Budget bezahlt wie ein normaler Messeauftritt. Und jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Und noch liegt der Fokus vieler Unternehmen eher auf Messeständen. Das dürfte sich aber ändern, glaubt der Wissenschaftler Horst Penzkofer. Zugunsten der digitalen Tools.
„Das heißt, die werden die Messestände wahrscheinlich verkleinern.“

Werden Menschen noch zu Messen kommen?

Der Forscher vom ifo-Institut prognostiziert den Messestandorten auch weniger Besucher. Gerade Fachbesucher mit weiter Anreise – aus Asien, Südamerika oder Australien – würden sich nicht mehr auf den Weg machen. Aus Kosten- und Zeitgründen.

„Das Ganze heißt aber nicht, dass die Messen dann deswegen nicht erfolgreich sind, wenn weniger Besuchern und weniger Fläche vermietet wird.“
In Zukunft wird es demnach weniger darum gehen, möglichst viele Leute anzulocken – solange die richtigen kommen.
„Wenn die Entscheider da sind, die dann auch genauso viel, sag ich mal, Geschäfte abschließen, dann lohnt sich das ja für die Aussteller genauso wie vorher. Kleinere Veranstaltungen müssen nicht unbedingt negativ sein, sondern können den gleichen Effekt haben für Aussteller und für die Veranstalter, aber eben für die regionale Wirtschaft im Umfeld wird es auf jeden Fall geringere Effekte geben.“
Heißt: Hotels, Taxiunternehmen, Caterer und Restaurants werden auf lange Sicht wohl weniger an Messen und ihren Gästen verdienen. Und auch die Messegesellschaften werden nicht alle unbeschadet aus diesem Umbruch hervorgehen. Einige Messestandorte werden leer ausgehen beim großen Umverteilen. Und die Messelandschaft wird sich regionaler aufstellen.

Ich denke schon, dass Deutschland weiterhin eine große Bedeutung als Messestandort haben wird. Allerdings wahrscheinlich nicht mehr in dem gewichtigen Umfang wie bisher, dass dann, sag ich mal, zwei Drittel aller Leitmessen dann in Deutschland stattfinden.

Horst Penzkofer

Der Fitnessstudio-Betreiber Frank Böhme ist inzwischen am Stand von Egym angekommen. Das Münchener Unternehmen und sein Chef Philipp Roesch-Schlanderer verkaufen hoch technisierte Fitnessgeräte mit digitaler Steuerung, die Trainerinnen und Trainer weitgehend überflüssig machen sollen. Diese Geräte sollen das Herzstück von Frank Böhmes neuen Kölner Fitnessclubs bilden. Hier will er das meiste Geld auf seiner Drei-Millionen-Einkaufstour ausgeben.

„Das einzig Beständige ist der Wandel"

Frank Böhmes Einkaufstour war schließlich erfolgreich, die Messe hat ihn mit allem versorgt, was er für seine Fitnessstudios braucht. Wie seit vielen Jahren auch diesmal wieder. Wie lange das noch so bleibt, das kann aber auch ein erfahrener Messebesucher wie er nicht vorhersagen.
„Ich habe die erste Messe in der Tat vor weit über 30 Jahren besucht in Köln. Und wenn man sieht, wie sich die Messe von einer Bodybuildingmesse mit großen schweren Jungs, die hier die Eiweisdosen rausgeschleppt haben, heute zu einer Hightechmesse entwickelt hat: Also die Branche entwickelt sich sehr dynamisch zu meiner Freude.“
Frank Böhme ist über 60 Jahre alt. Wie lange er noch in der Fitnessbranche arbeiten möchte, kann er noch nicht sagen. Fest steht nur: Irgendwann wird jemand anderes das Familiengeschäft übernehmen.
„In dieser Branche bin ich mit Herzblut dabei, und ich habe dieser Branche alles zu verdanken, und mir geht es nicht schlecht. Aber ich habe auch einen Sohn, und er rutscht Gott sei Dank Stück für Stück auf meinen Schoss. Arbeitstechnisch. Und der wird jetzt auch dieses Jahr noch 30. Und das ist dann schon eine schöne Sache, wenn das so generationsmäßig überschwappt. Und das machen wir gerade.“
Wahrscheinlich werden die Messen, über die die kommenden Generationen schlendern, ganz anders aussehen als heute. Vielleicht kleiner, vermutlich kürzer und sicherlich digitaler. Bestimmt aber so, dass immer noch Besucher und Unternehmen viel Geld ausgeben, um dabei zu sein. Daran hat auch der Hannoveraner Messe-Chef Jochen Köckler keine Zweifel.
„Das einzig Beständige ist der Wandel. Wir als Deutsche Messe AG, ich selber in der Rolle hier als Vorstandsvorsitzender, der gerade auf dem größten ebenerdigen Messegelände der Welt sind, wird alles tun, dass die Menschen möglichst in großer Anzahl und möglichst lange bleiben. Bevor sie sich aber woanders digital informieren, werden wir natürlich auch digitale Angebote schaffen, dass man sich informieren kann. Und wenn wir feststellen, dass der Besuch kürzer wird, dass die Qualität noch mal höher wird, wird das Format sich mit wandeln.“  

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Stefanie Lazai
Technik: Jan Plassmann
Sprecherin: Marina Behnke

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