Martin Pollack: "Die Frau ohne Grab"

Ein unbestechlicher Wahrheitsforscher

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Der Bucheinband zeigt das Porträt einer Frau sowie jenes einer Familie. Dahinter ist ein aquarellierter Hintergrund zu sehen.
In "Die Frau ohne Grab" forscht Pollack den Spuren seiner Großtante Pauline Bast nach. © Hanser Literaturverlage
Von Sigrid Löffler  · 05.12.2019
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Martin Pollacks Familie gehörte der deutschsprachigen Minderheit in Slowenien an. In "Die Frau ohne Grab" erzählt er vom Schicksal seiner Tante, die 1945 von jugoslawischen Partisanen verschleppt und in einem unbekannten Massengrab verscharrt wurde.
Der österreichische Publizist Martin Pollack, Jahrgang 1944, Slawist, Osteuropa-Historiker und Übersetzer aus dem Polnischen (vor allem der Bücher von Ryszard Kapuscinski), ist vielfach ausgezeichnet für seine Dokumentar-Erzählungen und historischen Reportagen, die im Dienste einer aufklärenden Geschichtspolitik vor allem die randständigen und lange vernachlässigten Regionen Osteuropas in den Blick nehmen. So etwa in "Der Kaiser von Amerika", seiner preisgekrönten Studie über die Massenflucht der Juden, Polen und Ukrainer um 1900 aus Galizien.
Besondere Aufmerksamkeit erregte sein Bericht "Der Tote im Bunker" (2004), in dem er der Nazi-Karriere seines leiblichen Vaters Gerhard Bast nachforschte, eines SS-Sturmbannführers und Gestapo-Chefs, der für Deportationen von Juden, für Massaker und Geiselerschießungen im Osten verantwortlich war und nach 1945 als Kriegsverbrecher gesucht wurde, untertauchte und 1947 von einem Schlepper am Brennerpass ermordet wurde – ordinärer Raubmord als Endpunkt eines katastrophalen Lebenswegs.

Unmenschliche Behandlung

Peter Handke ist ja nicht der einzige österreichische Autor, der die slowenische (und jugoslawische) Zeitgeschichte zu seinem Thema machte. Martin Pollack hat düstere familiäre Gründe, sich für diese Geschichte zu interessieren. In seiner neuen Dokumentar-Erzählung kehrt er nun abermals zur beklemmenden Geschichte seiner väterlichen Familie zurück, die der deutschsprachigen Minderheit in Slowenien angehörte und aus dem Marktflecken Laško stammte, wo sie ein stattliches Haus am Marktplatz bewohnte: Bastova hiša, das Bast-Haus. In "Die Frau ohne Grab" forscht Pollack den Spuren seiner Großtante Pauline Bast nach, die ihr ganzes siebzigjähriges Leben in diesem Haus verbrachte, ehe sie im Sommer 1945 von jugoslawischen Partisanen verhaftet und in ein Gefangenenlager nahe Maribor verschleppt wurde, wo sie binnen Wochen an unmenschlicher Behandlung zugrunde ging und wohl in einem unbekannten Massengrab verscharrt wurde.
Pauline Bast wurde geboren, als der Ort Laško noch Tüffer hieß und das Land mit seiner gemischten deutschen und slawischen Bevölkerung zum Habsburgerreich gehörte – als österreichische Kronländer Untersteiermark und Krain. 1919 wurde sie Untertanin des nach dem Versailler Vertrag neu entstandenen Königreichs der Slowenen, Kroaten und Serben, des späteren Jugoslawien. Und nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 erlebte sie die Exzesse der völkischen Ideologie und des Rassenwahns der Nazi-Besatzer mit, die gegen die slawische Bevölkerung auf dem Balkan wüteten, mit Deportationen, Massakern und Massentötungen.

Wechsevolle Konfliktgeschichte

Tante Pauline war eine etwas menschenscheue kinderlose Frau, verheiratet mit dem slowenischen Organisten, Mesner und Hostienbäcker des Ortes. Sie lebte unauffällig und zurückgezogen und hielt sich aus den politischen Konflikten zwischen den deutschen und slowenischen Bevölkerungsgruppen heraus. Warum fiel sie dann der Rache der siegreichen slowenischen Partisanen zum Opfer? Sie hatte sich persönlich nichts zuschulden kommen lassen, doch in den chaotischen Wochen nach Kriegsende ließen die Sieger ihre Wut über die jahrelange Vernichtungspolitik der Nazi-Besatzer gegen die Balkan-Slawen unterschiedslos an allen aus: an Tätern, Nazi-Kollaborateuren und Unschuldigen, nur weil sie wie Pauline Bast der deutschen Minderheit angehörten. Paulines Brüder hingegen, Martin Pollacks Großvater und Großonkel, waren rabiate deutsche Volkstumsnationalisten und fanatische Nationalsozialisten. Doch sie hatten sich rechtzeitig in den niederösterreichischen Ort Amstetten abgesetzt, wo sie noch viele Jahre nach Kriegsende unbehelligt als angesehene Notare und Rechtsanwälte amtierten, ohne ihre Nazi-Gesinnung zu verbergen.
Am Beispiel der Familie Bast entfaltet Martin Pollack die ganze grausame und wechselvolle Konfliktgeschichte der Volksgruppen in Slowenien, einem Land voller Massengräber. "Wo immer Sie bei uns graben, finden Sie Knochen", sagt eine der von ihm befragten Zeitzeuginnen. Pollack ist ein unerschrockener und unbestechlicher Wahrheitsforscher, der weder historisch aufrechnet noch relativiert. Er schreibt: "Ich bin davon überzeugt, dass wir heute alle Geschichten erzählen können, vielleicht sogar müssen, ohne Zorn und Eifer, ohne etwas zu verschweigen oder auszublenden." Zu bewundern ist Pollacks kompromisslose Bereitschaft, sich seiner Herkunft zu stellen. Das gibt seiner historischen Recherche ihre Glaubwürdigkeit und ihren moralischen Ernst.

Martin Pollack: "Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante"
Zsolnay Verlag, Wien 2019
180 S., 22 Euro

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