Miljenko Jergović: "Ruth Tannenbaum"

Totschlag auf offener Straße

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Ruth Tannenbaum" von Miljenko Jergovic.
Miljenko Jergović zeichnet in seinem Roman "Ruth Tannenbaum" ein Angstpanorama voller grotesker, blutiger und absurder Szenen. © Schöffling & Co. / Deutschlandradio
Von Jörg Plath · 29.11.2019
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Das Kroatien der Jahre 1920 bis 1943 war beherrscht von Angst. Miljenko Jergović verwandelt diese Atmosphäre in "Ruth Tannenbaum" in eindrückliche Bilder. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Kinderstar, der seine jüdische Identität verleugnet.
Sympathisch ist in Miljenko Jergovićs "Ruth Tannenbaum" niemand, nicht einmal die titelgebende Hauptperson mit ihren riesigen Augen. Ruth Tannenbaum, mit etwa acht Jahren als "kroatische Shirley Temple" entdeckt, feiert nämlich so viele rauschende Erfolge auf den Bühnen des Landes, dass sie hoffärtig wird.
Es stört sie nicht, für triumphale Auftritte im eben ans Deutsche Reich angeschlossenen Wien den Namen "Christine Horvath" annehmen zu müssen, weil Tannenbaum zu jüdisch klingt – was sind schon Namen, wenn die Lobpreisungen so üppig ausfallen! Deutsche Kritiker loben prompt die "geistig starke" Persönlichkeit Horvaths, sie sei "der Fels ihres kroatischen Stammes".
Tatsächlich ist der jüdische Apfel nicht weit vom kroatischen Stamm gefallen. Ruth Tannenbaum leidet so stark wie alle ihre Stammesgenossen unter Angst und Minderwertigkeitsgefühlen. Bei der kleinsten Gelegenheit erschlagen die geistig ach so starken Kroaten daher Serben, Roma, Juden.
Aus Furcht will Ruths Großvater Abraham Singer daher nicht, dass seine Enkelin Sarah oder Rahel heißt; bange sieht er sein Vermögen in der Inflation dahinschmelzen. Und Ruths Vater Salomon, auch "Angsthasen-Moni" genannt, fürchtet nichts mehr als Jude zu sein, weshalb er sich bei jeder Gelegenheit von ihnen distanziert.

Dem Wahnsinn nahe

Das macht sich sein Nachbar Radoslav zunutze. Er überzeugt Salomon, Ruth einmal in der Woche seiner Ehefrau Amalija zu überlassen. Ruths Mutter Ivka beunruhigt der Vorschlag, denn Amalija ist nach dem Tod ihres Sohnes dem Wahnsinn nahe.
Salomon überredet seine Frau mit dem Argument, sie als Juden könnten in Zukunft die Hilfe der christlichen Nachbarn brauchen. Amalija, die die Tannenbaums als Kreuziger von Jesus verachtet, liebt Ruth bald stärker als ihren verstorbenen Sohn – eine Sünde, die in der gläubigen Christin neue Ängste wachsen lässt.
Als 1941 die Wehrmacht Kroatien besetzt und die Macht der Ustascha übergibt, katzbuckelt Salomon Tannenbaum erst recht vor dem Nachbarn, zumal Radoslav die Bewährungsprobe als Mörder im KZ Jasenovac glänzend bestanden hat und seitdem die Uniform der neuen Herren trägt. Und noch während Salomon von einem pickligen Ustascha-Schergen auf der Straße totgeschlagen wird, fürchtet er allein, dass ihn Passanten als Juden erkennen könnten.

Grausame und absurde Szenen

Auf solch grausige Szenen läuft der von Brigitte Döbert gewohnt geschmeidig übersetzte Roman voller Vorahnungen und ihren höchst beredten Verleugnungen zu. Jergović, der 1993 aus dem belagerten Sarajewo floh und seitdem in Zagreb lebt, zeichnet mit zahlreichen farbigen Abschweifungen ein Angstpanorama Kroatiens zwischen 1920 und 1943.
An das historische Schicksal des Kinderstars Lea Deutsch ist der Roman des großen kroatischen Erzählers nur angelehnt. Burleske, groteske, blutige, absurde Szenen wechseln sich ab. Sie verbinden das Leben in Zagreb mühelos mit dem in der Ukraine und in Palästina, in Berlin und Wien.
Zuweilen erinnern die Digressionen an Martin Bubers klassische Sammlung chassidischer Geschichten. Nur schmückt der Geschichtenkranz in "Ruth Tannenbaum" einen vor Angst schweißnassen und gewalttätigen Landeskörper.

Miljenko Jergović: "Ruth Tannenbaum"
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Schöffling & Co., Frankfurt 2019
448 Seiten, 26 Euro

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