Große und kleine Dramen des Menschen

Rezensiert von Martin Sander · 23.05.2006
Mit dem Band "Von Minsk nach Manhattan" liefert Martin Pollack einen Überblick über die Themen der polnischen Gegenwartsreportage. In einigen Texten ist das persönliche Engagement des Reporters überdeutlich zu erkennen, gelegentlich wird mit Stilmitteln bis hin zur Metaphernsprache der Lyrik experimentiert. Den stärksten Eindruck hinterlassen einige Sozialreportagen, die ganz auf die Sprache und das Denken der Protagonisten zugeschnitten sind.
In kleinen, nahezu unmerklichen Schritten nimmt das große Verbrechen seinen Lauf. Es geht um ein Nekro-Business in der polnischen Stadt Lodz. Ein staatlicher Rettungssanitäter wechselt das Fach und eröffnet ein privates Bestattungsunternehmen. Von seinen früheren Kollegen bekommt er Tipps für profitable Aufträge - Leichentransporte ins Kühlhaus. Der Jungunternehmer revanchiert sich bei den alten Kollegen vom Sanitätsdienst. Erst gibt es Wodka, später Geld. Irgendwann heißen die Toten nur noch "Häute".

Konkurrenten treten auf den Plan und treiben die Preise in die Höhe. Am Ende steht die Einsicht aller Beteiligten, dass man die Beschaffung von profitablen "Häuten" auch beschleunigen kann. Die Mordaffäre von Lodz, in die auch Ärzte verwickelt waren und der bis zu 100 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen, brachten die Kriminalberichterstatter Marcin Stelmasiak und Tomasz Patora ans Licht - durch Veröffentlichungen in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza und im Polnischen Radio.

Für ihre Enthüllungen wählten sie die Form der literarischen Reportage, einer Gattung, die sich in Polen, anders als in Deutschland, großer Beliebtheit bei Autoren und Lesern erfreut. Für den jetzt im Zsolnay Verlag erschienenen Band "Von Minsk nach Manhattan" hat der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Martin Pollack elf Texte aus den vergangenen fünfzehn Jahren ausgewählt und so einen Überblick über Themen und Formen der polnischen Gegenwartsreportage geliefert.

Die Autorinnen und Autoren, die der jüngeren und mittleren Generation angehören, schreiben über das tragikomische Schicksal eines deutschen Unternehmers, der in Polen gescheitert ist und dennoch gern dort lebt oder über einen wohlhabenden polnischen Zigeuner, der seine Wurzeln in Rumänien sucht. Sie erzählen vom Selbstmord eines polnischen Gastarbeiters in New York oder von der skurrilen Weltsicht einer Frau, die jedes scheinbar noch so nebensächliche Detail ihres Lebens aufzeichnet, ohne über die bewegenden Momente nur ein Wort zu verlieren.

In einigen Texten ist das persönliche Engagement des Reporters überdeutlich zu erkennen, gelegentlich wird mit Stilmitteln bis hin zur Metaphernsprache der Lyrik experimentiert. Den stärksten Eindruck hinterlassen einige Sozialreportagen, die ganz auf die Sprache und das Denken der Protagonisten zugeschnitten sind. Derart werden nicht nur die "Hautjäger von Lodz" dargeboten, sondern auch etwa "In Sales ist dein Leben", eine Geschichte vom Existenzkampf junger Verkäufer und Werbefachleute im wilden Kapitalismus der Nachwendezeit.

Die von Martin Pollack ausgewählten Texte entstammen einer besonderen polnischen Schule der Reportage. Pate stehen dabei bis heute Hanna Krall und Ryszard Kapuściński, die die polnische Nachkriegsliteratur auf ihre Weise geprägt und dafür auch international höchste Anerkennung gefunden haben. Mit diesen Altmeistern des Genres teilen die Jüngeren das leidenschaftliche Interesse für die großen oder kleinen, aber stets besonderen Dramen des Menschen.


Martin Pollack (Hg.): Von Minsk nach Manhattan. Polnische Reportagen
Zsolnay Verlag, Wien 2006, 272 Seiten