Deutscher Buchpreis 2023

Eine überraschende Longlist

10:03 Minuten
Buchcover der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023
20 Titel sind für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert, im September wird die Liste auf fünf reduziert. © Börsenverein des Deutschen Buchhandels
Eine Einschätzung von Wiebke Porombka · 22.08.2023
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Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises sind bekannte Autoren wie Clemens J. Setz und Terézia Mora, aber auch Debütantinnen wie Anne Rabe. Unsere Kritikerin zeigt sich überrascht von der Auswahl - und den fehlenden Titeln, die es verdient hätten.
Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 ist in jedem Fall eines: überraschend. Das gilt nicht für Titel wie „Muna oder die Hälfte des Lebens“ von Terézia Mora, Angelika Klüssendorfs Roman „Risse“, „Monde vor der Landung“ von Clemens J. Setz, der bereits im Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, oder Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess, „Laufendes Verfahren“ lautet sein Titel. Mit diesen Titeln durfte man rechnen.
Überraschend sind zum einen die zahlreichen unbekannteren Namen wie Tomer Dotan-Dreyfus, Elena Fischer oder Sepp Mall. Weniger überraschend, sondern ärgerlich ist, dass gerade viele relevante Herbsttitel in der Auswahl der Jury nicht berücksichtigt wurden: Thomas von Steinaeckers über sechshundert Seiten schwerer Roman „Die Privilegierten“, ein Roman, der über das Verhältnis von vermeintlicher Hoch- und vermeintlicher Unterhaltungskultur nachdenkt und die ganz grundsätzliche Frage stellt: Wie können wir in einer medial gesättigten Gegenwart noch begreifen, was das wirkliche Leben ist? Und wie kann man angemessen darüber erzählen?

Die nominierten Romane für den Deutschen Buchpreis 2023 (in alphabetischer Reihenfolge):

  • Tomer Dotan-Dreyfus: Birobidschan (Verlag Voland & Quist, Februar 2023)
  • Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen (Klett-Cotta, Januar 2023)
  • Sherko Fatah: Der große Wunsch (Luchterhand Literaturverlag, August 2023)
  • Elena Fischer: Paradise Garden (Diogenes Verlag, August 2023)
  • Charlotte Gneuß: Gittersee (S. Fischer Verlag, August 2023)
  • Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser (Picus Verlag, August 2023)
  • Angelika Klüssendorf: Risse (Piper Verlag, August 2023)
  • Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche (Leykam Verlag, August 2023)
  • Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens (Luchterhand Literaturverlag, August 2023)
  • Thomas Oláh: Doppler (Müry Salzmann Verlag, Februar 2023)
  • Angelika Overath: Unschärfen der Liebe (Luchterhand Literaturverlag, April 2023)
  • Necati Öziri: Vatermal (claassen, Juli 2023)
  • Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert (Wallstein Verlag, Februar 2023)
  • Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta, März 2023)
  • Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren (S. Fischer Verlag, Juli 2023)
  • Tonio Schachinger: Echtzeitalter (Rowohlt Verlag, März 2023)
  • Sylvie Schenk: Maman (Carl Hanser Verlag, Februar 2023)
  • Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp Verlag, Februar 2023)
  • Tim Staffel: Südstern (Kanon Verlag Berlin, September 2023)
  • Ulrike Sterblich: Drifter (Rowohlt Verlag Hundert Augen, Juli 2023)

 „Vaters Meer“ von Deniz Utlu ist leider ebenso wenig nominiert wie die neuen Bücher großer Stilisten wie Thomas Hettche oder Marion Poschmann, deren Roman „Chor der Erinnyen“ zudem auf wunderbar hintersinnige Weise komisch ist. Vermissen muss man zudem „Krüppelpassion“ von Jan Kuhlbrodt, ein autobiographisch grundierter Roman, der über eine MS-Erkrankung erzählt und darüber, wie wenig unsere Gesellschaft mit Krankheit umgehen kann oder will.

Kompilation von individuellen Lieblingstiteln?

Ein zentrales und unbedingt relevantes Thema der Longlist ist das Erzählen über Gewalterfahrungen: etwa in Terézia Moras „Muna oder die Hälfte des Lebens“, einem eindringlichen, existenziellen Roman über eine Frau, die zu spät bemerkt, in einer gewalttätigen Beziehung zu leben. Anne Rabe hat mit „Die Möglichkeit von Glück“ einen Roman über strukturelle Gewalt, die bis in den familiären Rahmen wirkt, geschrieben und damit einen Roman, der sich auf entschieden kritische Weise mit dem System der DDR und seinen Folgen auseinandersetzt. Angelika Klüssendorf wiederum setzt mit „Risse“ ihr autobiographisch grundiertes Schreiben über das Aufwachsen in einer von Gewalt und Alkohol dominierten Familie in der ehemaligen DDR fort und lotet ebenfalls die Frage aus: Wie kann man über diese Erfahrungen erzählen? Diesen Büchern ist möglichst viel Aufmerksamkeit zu wünschen.
Es bleibt der Eindruck, dass in der diesjährigen Jury sehr unterschiedliche Literaturvorlieben und Kriterien zur Beurteilung von Literatur aufeinandergetroffen sind. Nicht von ungefähr mag die Jurysprecherin Katharina Teutsch in ihrem Statement betonen, dass die Longlist einen „kollektiven Leseprozess“ abbildet. Man kann darüber streiten, ob auf diese Weise eine gute Longlist entsteht oder womöglich doch zu großen Teilen eine Kompilation von individuellen Lieblingstiteln. Auf die Shortlist, die am 19. September veröffentlicht wird, darf man gespannt sein.

Der Jury gehören an: Katharina Teutsch, Shila Behjat (Journalistin und Publizistin), Heinz Drügh (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Melanie Mühl (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Lisa Schumacher (Steinmetz’sche Buchhandlung, Offenbach), Florian Valerius (Gegenlicht Buchhandlung, Trier) und Matthias Weichelt (Zeitschrift Sinn und Form).

Die Shortlist wird am 19. September bekanntgegeben. Der Deutsche Buchpreis wird am 16. Oktober verliehen. Er ist mit 25.000 Euro dotiert. Die fünf Finalisten erhalten jeweils 2500 Euro. Im vergangenen Jahr gewann Kim de l'Horizons "Blutbuch". Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels verliehen.

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