Deutscher Buchpreis für Kim de l'Horizon

Anschreiben gegen den Status quo

13:36 Minuten
Kim de l'Horizon trägt ein blaues, transparentes Oberteil und lehnt an einer Mauer.
„Mit einer enormen kreativen Energie sucht die nonbinäre Erzählfigur in Kim de l'Horizons Roman nach einer eigenen Sprache“, lobte die Buchpreis-Jury das Buch "Blutbuch" von Kim de l’Horizon. © dpa / picture alliance / Arne Dedert
Kim de l’Horizon im Gespräch mit Vladimir Balzer · 17.10.2022
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Kim de l’Horizon ist für den Roman "Blutbuch" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Statt einer Rede sang de l’Horizon bei der Verleihung und rasierte sich aus Solidarität mit den Protesten in Iran die Haare ab.
Es war eine Preisverleihung, die im Gedächtnis bleiben wird. Kim de l’Horizon hatte keine Rede vorbereitet, so überraschend kam die Verleihung des Deutschen Buchpreises für den Roman „Blutbuch“.
De l’Horizon sang deswegen zunächst ein Lied: „Nightcall“, das de l’Horizon nach eigenen Worten vor allem in der Version der Band London Grammar kennt und eine Transitionsgeschichte darstellt.

"Zeichen gegen Hass und für die Liebe"

Nach dem Lied griff de l’Horizon zum Rasierer, schnitt sich die Haare ab, und sagte unter tosendem Applaus des Publikums:

Dieser Preis ist nicht nur für mich. Ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden. Dieser Preis ist offensichtlich auch für die Frauen im Iran, zu denen wir alle schauen.

Kim de l'Horizon

„Mich verbindet mit diesem Kampf die Unterdrückung meiner Rechte aufgrund meines Körpers“, sagte de l’Horizon nach der Verleihung im Interview.

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„Wir können nur von diesen Frauen lernen, die so mutig sind, die so unglaublich stark sind, die überhaupt nicht in unser westliches Bild von Weiblichkeit hineinpassen. Und darum geht es: unseren Blick zu dezentrieren, von dem, was wir denken, was wichtig ist, und überhaupt von der Welt.“

„Trauer, Wut, Scham auch wirklich spüren"

Kim de l'Horizon sieht sich weder eindeutig als Mann noch als Frau. Dieses Thema prägt auch den Roman, der im DuMont-Verlag erschienen ist. „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die nonbinäre Erzählfigur in Kim de l'Horizons Roman nach einer eigenen Sprache“, urteilt die Buchpreis-Jury. „Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?“
De l’Horizon sagt über sich selbst, nie in die engen Vorstellungen von Geschlecht hineingepasst zu haben. Menschen würden sich stets ändern, und dabei sollten „möglichst viele Leute" mitgenommen werden.
„Ich denke, wir können den Herausforderungen des Lebens nur begegnen, wenn wir es mit offenen Armen empfangen", sagt Kim de l’Horizon. "Wenn wir die Gefühle, die es auslöst, die Trauer, die Wut, die Scham, wenn wir alle schwierigen Gefühle auch wirklich spüren. In ,Blutbuch’ ist es einerseits eine nonbinäre Hauptfigur, die da zurechtkommen muss. Und es ist das Verarbeiten einer Familiengeschichte, von den weiblichen Geschichten einer Familie, die auch mit viel Schmerz verbunden sind, mit Verunmöglichungen, weil sie Frauen waren. Die Mutterfigur beispielsweise, die nicht studieren ging, weil die Eltern sie nicht unterstützt haben, weil sie ein Mädchen war. Wir sehen: Geschlecht wird überall auf der Welt benutzt, um den Status quo beizubehalten, um die Macht bei den Körpern zu behalten. Und dagegen schreibe ich an.“

„Empathie ist magisch"

„Blutbuch“ ist laut Kim de l’Horizon teils autobiografisch, teils fiktional. Ein weiteres zentrales Motiv in dem Roman ist der Glaube an die Empathie. Anders als häufig behauptet, könnten Menschen nicht nur mit einem begrenzten und bekannten Kreis von Menschen emphatisch sein, sagt de l’Horizon: „Ich glaube, Empathie ist magisch, ist für alles möglich.“ Empathie sei auch gegenüber nicht-menschlichen Körpern möglich, gegenüber Tieren, der Natur und Pflanzen, wie der im Buch beschriebenen Blutbuche.
Kim de l'Horizon lässt die eigene Biografie bewusst im Vagen: Im Klappentext heißt es: „geboren 2666“. Laut Börsenverein wurde Kim de l'Horizon 1992 bei Bern in der Schweiz geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich sowie Literarisches Schreiben in Biel. Der Debütroman „Blutbuch“ war zuvor bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet worden.

Die sechs Plätze der Shortlist

Der Deutsche Buchpreis ist eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche. Die Bekanntgabe erfolgte bei einem Festakt im Kaisersaal des Frankfurter Römers.
Sechs Finalisten standen zuvor auf der Shortlist: Neben Kim de l'Horizon auch Fatma Aydemir ("Dschinns"), Kristine Bilkau ("Nebenan"), Daniela Dröscher ("Lügen über meine Mutter"), Jan Faktor ("Trottel") und Eckhart Nickel („Spitzweg").
Die Auszeichnung wird seit 2005 verliehen und ist mit 25.000 Euro dotiert. Die übrigen Autorinnen und Autoren der Shortlist erhalten jeweils 2500 Euro. 2021 ging der Deutsche Buchpreis an die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel für ihren Roman „Blaue Frau“.
(sed/ahe/dpa/kna)
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