Lebensmittelpunkt Küche

Ob Party oder Pandemie – wir sehen uns in der Küche!

29:27 Minuten
Ein Mann und eine Frau, noch in Schlaganzügen gekleidet, waschen gemeinsam in der Küche ab.
Von Kochen über Essen und Trinken bis Lachen und Streiten: Die Küche ist der Mittelpunkt des Zusammenlebens. © IMAGO/MASKOT
Von Tina Hüttl · 10.01.2023
Audio herunterladen
Spätestens seit der Pandemie ist die Küche endgültig wichtiger als das Wohnzimmer geworden. Sie hat sich außerdem zum neuen Statussymbol der Deutschen entwickelt und ist ein Wirtschaftsfaktor: Die Branche setzt jährlich über elf Milliarden Euro um.
„Come on in my kitchen“ – sang Blues-Legende Robert Johnson in den 30ern. Denn in der Küche war es warm, ein Feuer brannte im Ofen, im Topf auf dem Herd brodelte ein Suppenhuhn. Hierhin flüchtete man sich vor dem Regen, vor den Zumutungen des Lebens.

Das Feature wurde erstmals am 26.7.2022 ausgestrahlt.

Der Song wurde über die folgenden Jahrzehnte oft gecovert. Eric Clapton rühmte die Küche, aber auch die Jazz-Sängerin Cassandra Wilson, Ariana Grande und Lany, die Pop Rocker aus Los Angeles, feierten sie immer wieder als den Ort, an dem man zusammenkommt – und an dem die eigentliche Party stattfindet. Bei der Reggae-Band Fat Freddys Drop aus Wellington in Neuseeland trifft man die coolsten Leute natürlich - in der Küche. Sie ist: The Place to be!

Ein Ort von zentraler Bedeutung

Die Küche war schon immer Lebensmittelpunkt für uns Menschen – im wahrsten Sinne des Wortes. Hier werden die Lebensmittel aufbewahrt und zubereitet, hier hält man sich auf. Hier essen, trinken, reden, kochen, lachen und streiten wir.
Mit Corona ist die Küche endgültig zum wichtigsten Ort im Haus geworden. Im Jahr 2020 kochten 39 Prozent der Deutschen täglich, im Jahr darauf schon 52 Prozent. Die Küche wurde zum Zentrum des familiären Zusammenlebens: Hier fand das Homeschooling statt, hier sitzt mit dem Laptop, wer corona-bedingt zu Hause arbeitet.
Statt für Urlaubsreisen gaben die Menschen lieber Geld für ihre Küche und neue Elektrogeräte aus. Deutschlands Küchenhersteller strotzen deshalb gerade vor Selbstbewusstsein. Es gibt Lieferengpässe, Händler und Berater schieben Überstunden.
Denn: Jede Küche ist ein Unikat. Selbst die von Ikea muss individuell eingepasst werden, exakt die gleiche Küche gibt es nie zweimal.

Keine Küche ist wie die andere

Heißt aber auch: Wie kein anderer Wohnraum fordert die Küche eine gewissenhafte Planung aus einer Hand und starke Nerven.
Besuch bei Klaus Kammer. Der Aufzug fährt direkt in die Wohnung. – Das Penthouse im obersten Stockwerk eines Neubaus in Berlin-Pankow wird ein Traum, noch ist es mehr Baustelle. Vor eineinhalb Wochen sind Klaus Kammer und seine Frau trotzdem eingezogen. Immerhin ist die vom Innenarchitekten designte Küche fertig eingebaut. Nur ein paar Details fehlen noch: Sockelleisten, der passende Ablauf im Spülbecken.
Auf einer Kücheninsel stehen etliche Elektrogeräte und Kochzutaten durcheinander.
Penthouse im obersten Stockwerk eines Berliner Neubaus: Die offene Küche nimmt mehr als die Hälfte der 150-Quadratmeter-Wohnung ein.© Deutschlandradio/ Kristina Hüttl
Klaus Kammer, Mitte 60, ein Rheinländer und Partner bei den Wirtschaftsprüfern KPMG muss nur noch halbtags arbeiten. Er ist mit seinem Berliner Architekten Johannes Müller-Baum verabredet. Kammer bietet Latte macchiato an.
Der Miele-Vollautomat, der Bohnen in dem Moment mahlt, wenn der Kaffee per Touchpad abgerufen wird, ist auf Sichthöhe in das raumhohe Einbau-Küchenmöbel integriert. „Die macht eigentlich alles automatisch, nur nicht, was sie soll!" - "Das kann man auch alles einstellen und ich kann dir das auch zeigen.“
Die Maschine glänzt schwarz, die Küchenfronten dagegen sind in mattem Schwarz gehalten. Unter dem 2500-Euro-Gerät ist der ultramoderne Dampfgarer mit Mikrowellenfunktion verbaut, wiederum darunter der Zwei-Klimazonen-Weinschrank.

Der größte Raum der Wohnung

Der Architekt Johannes Müller-Baum, ein Mittvierziger mit zusätzlicher Schreinerausbildung und eigener Firma, hat sich auf die Planung und das Interior-Design von Privathäusern, hier vor allem Küchen, spezialisiert. Man spürt seinen Stolz, er zeigt die Spüle, führt den Hahn vor, aus dem wahlweise Sprudel- oder kochendes Wasser perlt.
Mehr als die Hälfte der 150-Quadratmeter-Wohnung besteht aus einem Raum - und das ist die Küche. Deren Herzstück – eine längliche Kochinsel – steht als Querriegel vor der riesigen Fensterfront. Alle Arbeitsflächen sind aus ein- und demselben Block schwarzen Granit geschnitten.
Das erste Angebot für die Küche holte sich Kammer beim Branchen-Riesen Bulthaupt. Es lag 20.000 Euro über den 65.000 Euro, die er nun für die vom Architekten entworfene Küche gezahlt hat. Allein 30.000 Euro davon machen die Geräte aus.

Beim Preis gibt es keine Obergrenze

Kammer liegt damit natürlich satt über dem Durchschnitt: Die meisten Deutschen geben rund 10.000 Euro für ihre Küche aus, fast doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Teurer geht natürlich immer.
Es gibt Küchen, die 300.000, 400.000 Euro kosten. Vor eineinhalb Jahren haben Klaus Kammer und sein Architekt sich zum ersten Mal zusammengesetzt, viel diskutiert. Klaus Kammer erinnert sich.

Die Herausforderung bei der Wahl bei der Küche war eigentlich, dass wir gesagt haben: Design geht vor Funktion. Denn wenn man die Funktion optimal ergonomisch geplant hätte, dann wäre es anders. Also diese drei Meter bis zum Kühlschrank, die sind halt ergonomisch nicht optimal. Aber das ist okay.

Wir sind ja hier keine Profiköche und müssen jeden Tag 25.000 Essen zubereiten. Man läuft halt mehr in dieser Wohnung, und man läuft auch mehr beim Kochen. Das haben wir schon gemerkt.

Klaus Kammer, Inhaber einer Luxusküche

Die Betriebsanleitungen stapeln sich

Noch kenne er sich in seiner Küche nicht aus, sagt Kammer. Acht Freunden wollte er letztens ein Steak braten, nur das Induktionsfeld wollte nicht so recht: „Da muss ich sagen, hat das Bora-Kochfeld kläglich versagt.“ Oder lag es daran, dass er die Betriebsanleitung nicht gelesen hatte? „Das stimmt, ich hab gedacht, ich kann es einfach anstellen, aber mit drei Pfannen hat das Ding irgendwie gestreikt.“
Am Ende haben sie das Fleisch auf den Gasgrill draußen auf der Terrasse geworfen. War auch gut, sagt Kammer. Die Betriebsanleitung liegt neben Herd: auf einem Stapel mit all den anderen, fast einen halben Meter hoch.
Als Robert Johnson 1937 über die Küche sang, war sie noch weniger luxuriös, ließ sich wohl aber auch intuitiver bedienen. Es gab einzelne Küchenmöbel: Im Zentrum ein frei stehender Tischherd mit gusseisernen Kochplatten und Ofenklappe, den man mit Feuer einschüren musste, außerdem ein Küchenbuffet und einen Backtrog, später noch einen Eisschrank.
Bis zur ersten Einbauküche war es ein langer Weg.

Als Urtyp der Einbauküche gilt die Frankfurter Küche. 1926 hat sie Ernst May erfunden, die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky arbeitete ihre Details aus. Minimalistisch, kompakt und funktional - diese Standardküche sollte künftig in Wohnhaussiedlungen verbaut werden. Auf sechseinhalb Quadratmetern fanden sich Küchenmodule mit Arbeitsflächen aus Linoleum, ein Herd mit Abzug. Der Abstand zum Esstisch betrug nur drei Meter, eine Schiebetür trennte die Küche vom Wohnraum.

Die Frankfurter Küche wurde bis 1930 in rund 10.000 Wohnungen und einer unbekannten Zahl von Einzelhäusern eingebaut. Im Ausland bewunderte man sie. Die Deutschen jedoch fremdelten mit ihr. Sie kauften weiterhin lieber schwere Küchenbuffets.

Noch Ende der 50er-Jahre planten Architekten und Baugesellschaften Wohnungen und Eigenheime nicht selten nach dem Prinzip: „Was übrig bleibt, wird Küche.“ Lange Zeit gab es Wohnungen ohne Küche. Erst viel später kam das „Recht auf Kochmöglichkeit“ ins Mietgesetz.

„Recht auf Kochmöglichkeit“ gesetzlich geregelt

Allerdings müssen Vermieter in einer Wohnung keine Küchenausstattung stellen, lediglich die Anschlüsse für Wasser, Strom und eventuell Gas. Eine Ausnahme ist Berlin. Dort muss eine Mietwohnung mit einer Kochgelegenheit und mindestens einem Abfluss ausgestattet sein.
In vielen asiatischen Metropolen ist Wohnraum besonders knapp und teuer. Es gibt viele Singlehaushalte, deren Bewohner sich hauptsächlich von Take-away- und Delivery-Essen ernähren. Sissi Chen kennt diesen Trend.
Ich habe tatsächlich gelesen, dass auch mittlerweile in ganz vielen asiatischen Städten, in Citys in Thailand, Wohnungen ohne Küchen gebaut werden“, erzählt sie. „Oder mit so einer ganz kleinen Nische, die dann als Küche fungiert, mit Wasserkocher wahrscheinlich, einem Toaster, vielleicht einen Reiskocher. Aber tatsächlich nicht mehr mit viel Equipment, weil einfach sehr viel auswärts gegessen wird.“

Eine Foodbloggerin mit Miniküche

Sissi Chen verfolgt Foodtrends weltweit und betreibt hauptberuflich einen erfolgreichen Blog bei Instagram: Eatinginberlin hat sie ihn genannt.
Die 32-jährige Influencerin ist in China geboren und in Wien aufgewachsen. Sie liebt Kochen und bezeichnet sich selbst als Food Content Creator: „Tatsächlich gibt es für das, was ich mache, keinen etablierten Titel. Im Prinzip heißt das übersetzt nichts anderes, als dass ich Inhalte zum Thema Essen erstelle.“
37.000 Follower schätzen Sissi Chens Restauranttipps und bewundern ihre wunderschön inszenierten Insta-Storys, in denen sie zeigt, wie Seidentofu mit Chiliöl perfekt gelingt, wie sie chinesische Biang Biang Nudeln schleudert oder Dim Sums faltet - meist in Nahaufnahme, und fast nur mit Fokus auf ihre Hände und die verwendeten Produkte.
Von ihrer Küche sieht man wenig: „Ich will eigentlich die Fantasie nicht zerplatzen lassen: Weil ich glaube, viele Leute denken, ich habe so eine richtig toll ausgestattete Küche“, erklärt sie“

Die Realität sieht ein bisschen anders aus. Ich habe so eine typische Berliner Miniküche, mit dem was man bekommt als Mieter: diesen Herd mit Backofen und diese supersimple Spüle. Meine Küche ist wirklich sehr klein - das Schwierigste ist, dass ich sie sowohl privat als auch zum Shooten nutze.

Sissi Chen, Foodbloggerin

Organisation und Struktur beim Kochen

Wer durch ihren Instagramaccount scrollt, sieht Sissi Chen oft beim Essen: Mal beißt sie in einen Burger, mal probiert sie japanische Ramensuppe, mal koreanisches Streetfood. Auch wenn sie viel auswärts isst – nicht selbst zu kochen, keine eigene Küche zu haben – wäre ihr Albtraum. Sie hat gelernt, aus ihrer Miniküche das Beste rauszuholen.
Die Influencerin Sissi Chen ist ein Stück Pizza.
Auch wenn sie viel auswärts isst: Keine eigene Küche zu haben wäre Sissi Chens Albtraum.© Sissi Chen
„Ich wünschte, ich hätte so eine richtig toll ausgestattete Küche“, sagt sie. „Aber die Kunst ist, erstens sich zu beschränken auf das Notwendigste. So ein bisschen minimalistisch heranzugehen. Und zweitens Organisation und Struktur: Das ist wirklich das A und O in einer Miniküche, die Sachen so hinzustellen, in die Schränke zu packen, dass man relativ schnell Zugang hat.“

Raus mit dem Schnörkelbuffet, ändert eure Küchen, und ihr ändert euer Leben! Diese amerikanische Losung wird auch im Deutschland der 50er-Jahre populär. Mit Artikeln und Werbeanzeigen wird die deutsche Hausfrau von liebgewonnenen Küchengewohnheiten abgebracht. Die Küchenmöbel werden pastellfarben, die ersten Einbaugeräte und elektrischen Haushaltsgeräte erschwinglich, was den Stromverbrauch in wenigen Jahren verdoppelt.

Im Jahr 1956 ist es dann so weit: Zwölf meist mittelständische deutsche Küchenhersteller versammeln sich zum ersten Mal um einen Tisch, um gemeinsam Industrienormen festzulegen. Sie gründen die Arbeitsgemeinschaft Die Moderne Küche (kurz AMK), die sich neben DIN-Normen für Küchenschränke- und Einbaugeräte auch für größere Küchenräume einsetzt.

Die AMK – die Arbeitsgemeinschaft Moderne Küche – gibt es noch heute. Sitz des Verbandes ist Mannheim. Wie damals finden sich die meisten der rund 100 heimischen Küchenhersteller noch immer in Süddeutschland und Nordrhein-Westfalen.

Die Küchenbranche – ein Wirtschaftsfaktor

AMK-Geschäftsführer Volker Irle ist geschäftlich in Berlin unterwegs, 42 Jahre, studierter Ökonom und Jurist. Bei Kitchenworld, einem großen Küchenhändler, liegen auf dem Konferenztisch noch ein paar übrig gebliebene angetrocknete Häppchen und Kuchen.
Irle hat gerade eine lange Gesprächsrunde mit Händlern und Küchenverkäufern hinter sich. Jetzt trinkt er Mineralwasser. Vom Kaffee hat er genug, obwohl der Tag lang wird. Später klappert Irle noch weitere Händler ab – die AMK koordiniert den Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren: Industrie, Haushaltsgerätehersteller, Zulieferer, Produktdesigner und Händlerverbände.
Bei der Arbeitsgemeinschaft laufen die Fäden der verzweigten Küchenbranche zusammen. Sie finanziert sich über die Mitgliederbeiträge der einzelnen Verbände, erklärt Irle.
„Der Konsument oder auch viele haben ein Produkt vor Augen. Am Ende ist aber so, dass hier ganz verschiedene Industrien Produkte liefern, die dann bei Ihnen zu Hause – also der Küchenhändler, der Profi, stellt die dann zusammen mit Ihnen und entwirft die Küche – und am Ende des Tages wird es bei Ihnen zu Hause zum ersten Mal montiert“, erklärt er.
Und weiter: „Das wäre so ein bisschen so, wenn Sie sich ein Auto kaufen, und Sie kriegen den Motor geliefert, die Reifen geliefert, das Chassis geliefert und der Mechaniker kommt zu Ihnen nach Hause und fängt an, das Auto zusammenzubauen. Deswegen brauchen Sie einen Ansprechpartner.“

Infos zu technischen Neuerungen und Trends

Die Arbeitsgemeinschaft Moderne Küche informiert herstellerneutral über technische Neuigkeiten und Trends und leistet Öffentlichkeitsarbeit. Bis vor wenigen Jahren hat sie auch jährlich erhoben, wie viel Umsatz die gesamte Branche macht.
„Elfeinhalb Milliarden - die Zahl ist jetzt drei Jahre alt, ist aber gewachsen und zwar deutlich größer geworden. Da sieht man, es ist schon eine Riesenindustrie“, erklärt er.

Das Schöne ist, dass wir in Deutschland das Glück haben, dass gerade im Bereich der Möbel sowohl die Einstiegsprodukte als auch bis zum absoluten Premium alles aus Deutschland kommt. Das heißt, es ist wirklich ein Mittelstand, der für den heimischen Markt produziert. Das gelingt uns nicht mal in der Automobilindustrie, Dass wir da vom günstigsten bis zum teuersten Auto alles haben.

Volker Irle, AMK-Geschäftsführer

Ideengeber für die Möbelindustrie

Ähnlich wie beim Auto ist Deutschland bei Küchen ein weltweiter Player, in Europa sogar führend.
Dabei fungiert die Küche als Katalysator der gesamten Möbelindustrie, sagt Volker Irle: „Diese ganzen Innovationen, die wir heute im Möbel haben, diese Soft Close Technik, dass Schubladen zugleiten, das erleben wir heute auch bei Möbeln. Aber es kommt alles aus dem Bereich der Küche.“
Und es findet international Bewunderung. In den USA zum Beispiel orientiere man sich inzwischen an deutschem Design und Technik, weiß Irle: „Was wir dort sehen, ist, dass es immer mehr in Richtung dieses europäischen Standards. Ja, es ist alles etwas größer. Es muss halt auch der Truthahn in den Backofen passen. Aber das sind Einzelheiten.“

Das neue Statussymbol der Deutschen

Der Geschäftsführer des Küchenverbandes ist überzeugt: Die Küche hat das bekannteste Statussymbol in Deutschland – das Auto – endgültig überholt. Auf der einen Seite Carsharing, auf der anderen Seite die Suche nach Formen, sich abzusetzen.
Volker Irle, Geschäftsführer AMK, steht in einer neuen Einbauküche.
Die Küche als neues Statussymbol steht mitten im Raum, erklärt Volker Irle, der Geschäftsführer der AMK.© Deutschlandradio/ Kristina Hüttl
„Da haben wir das Glück gehabt, dass der Fokus auf die eigenen vier Wände gekommen ist und dort tatsächlich auf das, was im Mittelpunkt steht: Im Mittelpunkt steht eben nicht das offene Bad oder der offene Flur, sondern die offene Küche und die ist dann komplett durchgeplant. Das neue Statussymbol steht mitten im Raum“, erklärt er.
Die Zahlen geben ihm recht. Laut einer Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen, die 2021 – eineinhalb Jahre nach dem ersten Auftauchen von Corona in Deutschland –veröffentlicht wurde, würden nur 16 Prozent der Befragten ihr Erspartes für ein neues Auto ausgeben. Ganze 42 Prozent erklärten, sie würden ins eigene Zuhause investieren, wobei das meiste Geld dort statistisch in die Küche fließt.

Die Küchenindustrie ist Krisenprofiteurin

In einer Zeit, in der pandemiebedingt über das Recht auf Homeoffice diskutiert wird, erscheint auch die Einhell-Delphi Studie „Das Zuhause 2030“. Sie besagt, dass im Jahr 2030 die Menschen bis zu 75 Prozent ihrer Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen werden. Damit wird auch die Küchenindustrie zur Krisenprofiteurin.
Andree Siewert ist Inhaber des kleinen Küchenstudios Küchenkultur in Prenzlauer Berg. 2012 hat er hier eine ehemalige Schlecker-Filiale bezogen, das Studio lief von Anbeginn. Mit der Gentrifizierung des Viertels kamen die Besserverdiener, die für ihr neu gekauftes Eigentum statt Ikea-Standard individuelle Beratung und Planung suchten.
„Emotional berühren“: So beschreibt Andree Siewert seinen Job, inzwischen muss er das auch auf Englisch können. Er hat zentimeterkurzes, ergrautes Haar, trägt Rollkragenpulli, randlose Brille – ist der geborene Verkäufer: sympathisch, Hands-on-Mentalität, kann sowohl gut zuhören als auch reden.
„Eine Küche bekommen Sie überall, aber mich, Andree Siewert, nur hier. Und das läuft über Personen, das läuft kaum über die Preise. Auch das ist nicht unwichtig, keine Frage. Aber am Ende hat der Mensch ein Bauchgefühl, sagt: Da fühle ich mich wohl, wir machen das“, sagt er.

Lieferschwierigkeiten in der Pandemie

Auf etwa 250 Quadratmetern stellt Andree Siewert in seinem Geschäft Küchen für fast jede Raum- und Finanzsituation aus. Viele Hersteller hätten gerade Lieferschwierigkeiten, sagt Siewert. Vor allem auf Geräte wie Spülmaschinen oder Dunstabzugshauben warten Kunden bis zu einem halben Jahr. Die Pandemie hat ihn und sein achtköpfiges Team ziemlich gefordert: „Das erste Jahr war der völlige Wahnsinn, weil darauf waren wir ja faktisch kaum eingestellt“.

Es ist ja toll, wenn es so läuft, aber man muss es ja auch bewerkstelligen können, muss die Menschen dafür haben. Man darf nicht von Corona erwischt werden, weil dann bricht alles zusammen. Aber jetzt hat sich wieder auf einem normalen Niveau stabilisiert.

Andree Siewert, Küchenstudio-Inhaber

Bis zur Pandemie hat der gebürtige Berliner um die 150 Küchen verkauft im Jahr, seit Corona sind es rund 200. Er bleibt bei einer Küche mit verschiedenen Arbeitshöhen stehen, rückt das Schild „verkauft“ gerade. Siewert kann lange referieren, wann Glas, Stein, Holz oder Kunststoff als Arbeitsfläche infrage kommen, welche Vor- und Nachteile grifflose, matte oder glänzende Fronten haben, und natürlich, welche Küchen-Farben gerade trendy sind.

Von Landhaus bis Schwarz – der Stil ändert sich

„Die Farbe Weiß ist nach wie vor die Nummer eins in allen Verkaufszahlen. Schwarz wird von der Industrie mächtig nach vorne gepowert und da merkt man auch, wie beeinflussbar wir Menschen sind. Das geht nämlich dann plötzlich sehr schnell, dass auch die Kunden kommen und sagen: Ich hätte gerne Schwarz“, erzählt er.
Und weiter: „Das war vor fünf Jahren undenkbar. Ich sehe sie ja eingebaut und sage: Sieht schön aus. Wenn man sie dann natürlich nach drei, vier, fünf Wochen mal wieder sieht, dann merkt man: Da habt ihr jetzt richtig Spaß beim Putzen, liebe Leute. Das ist dann halt so, aber das ist ja dann selber ausgesucht!“
Beim Rundgang führt der Verkäufer auch an einer Küche im Landhausstil von vor 20 Jahren vorbei. Weiße Holzfronten, aufgesetzte Rahmen, es ist die letzte verbliebene. „Außerhalb von Berlin ist das durchaus noch ein gern genommener Bereich“, erklärt er. Innerststädtische Kunden würde aber sagen, das ist ein Landhaus, "der Teufel", es soll ja modern sein, hat ja meine Oma schon gehabt.
„Sobald ich an den Stadtrand komme, ist das schon so, dass Leute sagen, ich hätte gerne Landhaus“, erzählt er. „Dafür haben wir sie auch hingestellt, um zu zeigen: Wir haben die schon noch. Nur dann halt in modernerer Form, um da auch vielleicht ein paar Menschen anzusprechen, die jetzt in ihre Townhouses ziehen, vielleicht auch trotzdem gerne mal ein Landhaus in moderner Form sich da reinstellen möchten.“

Die Industrie bestimmt, was uns gefällt

Die Sehnsucht nach Natur- und Erdverbundenheit, für die der Landhausstil steht, gibt es noch. Aber wer die Prospekte und „Schöner Wohnen“-Magazine in Siewerts Küchenstudio durchblättert, entdeckt eine neue Landhausküche: Mit schlichteren Fronten, in Mattgrau oder sogar Schwarz statt Weiß und Nordischblau.
Was gefällt – Siewert ist da eindeutig – bestimmen nicht wir – sondern die Industrie, ihre Designer und ihre Agenten, die Wohnmagazine.

Nachdem sich die Vorzüge der Einbauküche endgültig durchgesetzt haben, geht es fortan um Gemütlichkeit. Die erste Massivholzküche gibt es bereits 1968. Mitte der 70er liegen Wohnlichkeit, weiße Wände, Wagenräder als Lampen und Holzfronten im Trend, ebenso offene Regale. Fast gleichzeitig kommen die ersten grellen Farben, psychedelischen Muster und Formen auf den Markt.

Der Küchenhersteller Poggenpohl präsentiert in den 80ern eine Einbauküche mit knallroten Lackfronten zu schwarz-weißen Schachbrettfliesen. Otl Aicher, Mitgründer der berühmten Ulmer Hochschule für Gestaltung, veröffentlicht 1982 im Auftrag von Bulthaupt seine Streitschrift „Die Küche zum Kochen. Das Ende einer Architekturdoktrin“.  Er erklärt die Einpersonenküche für überholt, plädiert für individuell kombinierbare Module, weil die Frau nicht mehr allein in der Küche stehen soll.

Aicher entwirft für Bulthaupt eine Küchenwerkbank im Zentrum. Sie vereint Kochstelle, Spülbecken und Arbeitsfläche in einem Element − eine Sensation und Vorbild für die modernen Kochinseln. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Sprung bis zum nächsten Küchen-Meilenstein: der offenen Küche.

Profiküche für Profiköche

Der Rotkohl für den Entengang wird gerade vakuumiert, Mittagszeit im Rutz Zollhaus, dem zweiten Restaurant von Marco Müller, Berlins einzigem Dreisternekoch. In der Küche bereiten Azubis und Köche vor, was die ersten Gäste um 18 Uhr erwartet.
Das Rutz Zollhaus liegt malerisch am Kreuzberger Landwehrkanal, seit 30 Jahren wird der Ort gastronomisch bespielt. Als Marco Müller das Restaurant vor zwei Jahren übernimmt, baut er als Erstes die Küche komplett um.
„Ich habe die Wand aufmachen lassen, weil ich möchte, dass die Leute, wenn sie reinkommen, halt auch in die Küche reingucken können, dass sie sich damit identifizieren können, dass sie sehen, das ist ein Teil der Gastronomie. Die Leute, die hier arbeiten, müssen wir nicht verstecken“, erzählt er.

Die Offenheit – ein neues Muss

Nicht nur zu Hause – auch im Restaurant ist eine offene Küche heute fast ein Muss. Immer bessere Dunstabzugstechniken haben sie möglich gemacht. Marco Müller verrät es nicht genau, aber die Küche im Rutz Zollhaus hat eine sechsstellige Summe verschlungen – um die 100 000 Euro verbaut auf nur 35 Quadratmetern.
Jedes Detail hat der Sternekoch mitgeplant. Eingeflossen ist seine jahrzehntelange Erfahrung. Herausgekommen ist eine ziemlich schöne, vor allem aber effiziente Profiküche: türkisfarbene Kacheln, zwei parallel laufende Gänge mit Edelstahlarbeitstischen für die verschiedenen Küchenposten und jede Menge verbaute Technik. Kühl- und Abzugssysteme, Konvektoren zum Warmhalten der Speisen, Wasserbad- und Dampfgarer, Grill- und Wärmelampen.

Wir haben die Küche so effizient wie möglich gemacht. Das war auch in der Tat relativ schwierig, weil uns überall ganz, ganz wichtige Zentimeter gefehlt haben: Um das reinzubringen auch mit der Technik, mit der Spüle, und so aus diesem relativ kleinen Raum, wirklich einen logistischen Raum zu erstellen.

Marco Müller, Dreisternekoch

15 Kilometer Strecke pro Kochschicht

Vier bis fünf Köche arbeiten hier pro Abend, und jeder macht dabei rund 15 Kilometer Strecke, erzählt der Chef. Fünf Kilometer mehr als ein Fußballer im 90-Minuten-Spiel. Die besten Köche sind die faulsten, heißt es in der Gastronomie. Meint: Sie sind am besten organisiert.
Marco Müller selbst setzt zu Hause bei seiner Küche auf „weniger ist mehr“. Als er nach der ersten Tochter noch mal Vater von Zwillingen wurde, ist er mit der Familie in ein Haus am Stadtrand umgezogen. Und die Küche darin?
„Die Küche, die wir haben, ist sehr funktionell. Bei mir ist es aber auch so – all das, was andere Leute vielleicht mit einem Souvide Gerät machen, hat bei mir viel Erfahrung. So was kann ich mit einfacher Technik umschiffen. Und von daher habe ich auch, wo wir das Haus saniert haben, eher noch das Geld erst einmal in andere Sachen reingesteckt, als dass ich mir die teuerste Küche reinpacke“, erzählt er.

Familieninsel zum Kochen und Essen

Wie inzwischen bei mehr als 90 Prozent aller Neubauten ist die Küche auch bei Marco Müller kein abgeschlossener Raum mehr. Wenn er mal frei hat, versammeln sich im Hause Müller alle um den Esstisch, der zugleich als Arbeitsplatte dient.
„Wir stellen uns dann auch, wenn wir mit den Kindern schnippeln, um den Holztisch. Ich habe immer gesagt bei mir, wo es Esszimmer und Küche in einem ist, muss der Esstisch einfach benutzbar sein“, sagt er. „Es darf jetzt kein Lack drauf sein, der sofort zerkratzt. Der Tisch, auf den du eine Kerze pur draufstellen kannst und der das verträgt, ist der richtige Tisch für unsere Familie.“
Marco Müller erzählt, er habe oft erlebt, dass Leute sich die tollsten Küchen einbauen und dann kaum kochen: „Umso größer die Jacht, umso weniger Zeit, damit zu fahren. Dieses Sprichwort ist wahrscheinlich von Menschen abgeleitet worden und bedeutet: Umso mehr Geld man hat, umso mehr ist man damit beschäftigt, das heranzuholen. Ich glaube, da steckt dann schon viel Wahrheit drin.“

Tipps vom Kochprofi

Seiner Meinung nach sollte man jedoch nicht bei den Elektrogeräten sparen und eine große Spüle einplanen, selbst wenn sie viel Platz einnimmt. Nichts sei ärgerlicher, als Bleche und Töpfe in zu kleinen flachen Spülen zu reinigen.
„Ich würde auf jeden Fall raten, sich vernünftige Messer zu kaufen. Man muss kein Vermögen ausgeben. Aber vernünftige Messer sind recht dankbar beim Kochen, weil man sie recht häufig benutzt“, empfiehlt er.
Wenn gute Messer und eine große Spüle laut dreifachem Sternekoch reichen, um den Hobbykoch glücklich zu machen und die Funktionalität der Küche um Welten zu verbessern – was wird dann aus all den Verheißungen der Zukunft? Den Geräten, die sich untereinander „connecten“? Den Küchenrobotern, die alleine Chicken Curry zubereiten oder dem Kühlschrank, der sich selbst befüllt?
Der intelligenten Zukunftsküche sind in der Fantasie der Hersteller kaum Grenzen gesetzt: „Also wir versuchen grundsätzlich, solche Geräte zu vermeiden, weil es genau die Geräte sind, die eigentlich auch in einer absehbar kurzen Zeit kaputt gehen“, sagt er.

Maschinen können Sinnlichkeit nicht ersetzen

Die „Arbeitsgemeinschaft Moderne Küche“ beziehungsweise ihr Geschäftsführer Volker Irle schränkt diese Sicht natürlich gern etwas ein.
„Ich glaube schon, dass es immer wieder Innovationen geben wird, um lästige Sachen abzunehmen. Ich erzähle es immer so als Beispiel: Es wird irgendwann die Computerarme geben, die für Sie kochen. Da sage ich: Ja, aber es wird auch nicht den Computer geben, der für mich den Kinofilm guckt“, meint er.
Und erklärt: „Weil das Erlebnis möchte ich ja noch immer selber haben. Ich glaube, dass dieses Geborgenheitsgefühl – Cocooning als dieses Modewort – das vielleicht sehr, sehr gut beschreibt. Ich glaube, dass dieses Grundbedürfnis bleiben wird.“

Autorin: Tina Hüttl
Sprecher:
Romanus Fuhrmann
Sprecherin: Juliane Hempel
Technik: Hermann Leppich
Komposition und Regie: Frank Merfort
Redaktion: Franziska Rattei

Mehr zum Thema