Kinderheime in der DDR

Das Recht des Stärkeren

40:10 Minuten
Mitarbeiter Michael Wildt von der Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau e.V. steht vor einer Zellentür im Dunkelzellentrakt des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau.
"Schlimmer als Knast": So beschrieben jugendliche Insassen ihre Zeit im Jugendwerkhof Torgau. Er wurde von 1964 bis 1989 als Geschlossener Jugendwerkhof genutzt. © picture-alliance / dpa / Peter Endig
Angelika Censebrunn-Benz und Florian von Rosenberg im Gespräch mit Christian Rabhansl · 17.09.2022
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Schöne Kindheit, heile Welt? Tausende Kinder und Jugendliche haben DDR-Heime und -Krippen anders erlebt. Die Historikerin Angelika Censebrunn-Benz und der Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg erkennen Gemeinsamkeiten beider Einrichtungen.
Schikane, Gewalt, Übergriffe, systematischer Missbrauch: Es ist grauenhaft, was Kinder und Jugendliche in deutschen Kinderheimen durchgemacht haben. Natürlich nicht überall, aber doch viel zu oft, um von Einzelfällen zu sprechen.
Zu den Krippen und Kinderheimen in der DDR gibt es zwei neue Bücher. Der Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg hat über das Krippensystem der DDR geforscht, die Historikerin Angelika Censebrunn-Benz hat über die Kinder- und Jugendheime geschrieben.

Nach heutigen Maßstäben Folter

Die grundsätzliche Unterscheidung, bevor ein Kind ins Heim kam, war: Ist das Kind "normal" oder "nicht normal", berichtet Angelika Censebrunn-Benz. Die Gründe, für die Kinder ins Heim kamen, waren ihr zufolge vielfältig: Mitunter habe es genügt, dass die Eltern politisch nicht gefallen hätten, weil sie etwa Republikflucht planten oder begingen. Einige fielen in der Schule auf. Ein Großteil der Kinder stammte jedoch aus "desaströsen" Familien.
Die Jugendhilfe griff ein, wenn Gewalt, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung in den Familien vorkamen. Im Jugendheim hätten die Jugendlichen dann aber oftmals wenig Fürsorge erfahren, „da ging dann die Spirale eigentlich los“, sagt Angelika Censebrunn-Benz.

Die Historikerin Angelika Censebrunn-Benz ist Initiatorin und Projektleiterin des Projektes „Zeitzeugenarchiv ehemaliger Heimkinder der DDR“ an der Gedenkstätte des berüchtigten Jugendwerkhofs Torgau. Für das Buch "Stiefkinder der Republik" hat sie viele Interviews mit ehemaligen Heimkindern geführt.

Das wohl bekannteste Heim der DDR, der Jugendwerkhof Torgau, sei nach heutigen Standards ein Gefängnis, sagt Angelika Censebrunn-Benz. „Die dortigen Rahmenbedingungen entsprechen, wenn man nach den Genfer Konventionen geht, Folter.“ Allerdings sei Torgau die Spitze des Heimsystems der DDR und eine Disziplinierungseinheit innerhalb des Systems gewesen.
Eine Informationstafel neben dem Gebäude des ehemaligen Jugendwerkhofes und der heutigen "Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof" in Torgau (Sachsen). In der Gedenkstätte finden regelmäßig Treffen ehemaliger DDR-Heimkinder statt.
Never forget: Der ehemalige Jugendwerkhof Torgau ist heute eine Gedenkstätte.© picture alliance / ZB / Hendrik Schmidt
Brutale Strafen, zum Beispiel für Bettnässen, habe es genauso auch in der Bundesrepublik gegeben. Leider müsse man feststellen, dass in der Jugendhilfe bis heute an manchen Stellen altmodische Vorstellungen herrschten: „Da wird mit sehr viel Druck versucht, das auszumerzen, statt Hilfestellung zu geben.“ Geschlossene Einrichtungen seien überall und auch heute anfällig für Machtmissbrauch.
Angelika Censebrunn-Benz hat etliche Interviews mit ehemaligen Heimkindern geführt. Etwa mit Sanny, die von Geburt an im Heim lebt, weil ihre Eltern bei der Republikflucht erwischt wurden. Oder mit Maik, der ins Heim gekommen ist, weil er in der Schule auffällig war – da hat niemanden interessiert, dass er zu Hause zusehen musste, wie der saufende Stiefvater seine Mutter verprügelt hat.

Die Kinder müssen funktionieren. Und wenn sie das nicht tun oder sich immer wieder dagegen wehren aus Verzweiflung, Wut, Trauer, dann gelten sie mitunter als schwer erziehbar und kommen dann in das nächstschlimmere Heim.

Angelika Censebrunn-Benz

Es habe immer wieder auch Erzieher gegeben, die den Kindern wirklich helfen wollten, die dann aber unglücklich feststellen mussten, dass das eigentlich gar nicht gewünscht war.
Maik habe es inzwischen aus eigenem Antrieb geschafft, von der Gewalt loszukommen, erzählt die Historikerin. Er möchte am Leben teilhaben und merke, wie schwierig das an vielen Stellen sei. „Das berührt schon sehr.“

Putzdienst und sexuelle Gewalt

In fast allen Heimen galt das Recht des Stärkeren, berichtet Censebrunn-Benz: Die Kleinen haben Putzdienst zu leisten und den Größeren etwas zu bringen, je nach Heim kam sexuelle Gewalt dazu. Ebenfalls häufig: die Entwürdigung der eigenen Bedürfnisse durch das Personal.
"Es ist immer auf Leistung und Funktion ausgelegt“, sagt die Historikerin.
Blick auf eine Originalinschrift auf einer Liege des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau, wenige Tage vor dem Mauerfall. Darauf steht in falscher Rechtschreibung: "Gott weiß alles – die Erzieher alles besser"!
Blick auf eine Originalinschrift auf einer Liege des ehemaligen Jugendwerkhofes in Torgau: "Gott weiß alles – die Erzieher alles besser"!© picture-alliance / ZB / Peter Endig
Dahinter stehe ein bestimmtes Menschenbild: Man forme sozialistische Persönlichkeiten, die funktionieren sollen. Der Staat steht an erster Stelle, Kinder sollen ihre Pflicht erfüllen. "Wenn einer versagt, wird die ganze Gruppe bestraft. Und: Die Gruppe bestraft mit." Das sei in der DDR anders gewesen als in der BRD.

Dadurch wird versucht, keine Strukturen zuzulassen, die außerhalb dieser Hierarchie des Heimsystems Mut oder Kraft zur Rebellion oder Widerstand gibt.

Historikerin Angelika Censebrunn-Benz

Die Kleinen waren resistenter gegen Einflussnahme

Das sei in den Krippen anders gewesen, sagt Florian von Rosenberg, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Uni Erfurt. Krippen seien in den 50-ern und zu Beginn der 60er-Jahre nicht als pädagogische, sondern eher als medizinische Einrichtungen verstanden worden.

Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg hat das Krippensystem der DDR erforscht und darüber das Buch "Die beschädigte Kindheit" geschrieben. Aus seiner Sicht wurde bislang zu wenig erforscht, wie es seinerzeit den Kindern ergangen war. Er wertete dafür die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen von 1949 bis 1989 aus.

Der gravierende Unterschied hänge mit dem Alter der Kinder zusammen: Anders als erhofft hätten sich Kinder bis drei gegen ideologische Einflussnahme relativ resistent gezeigt.
Der Kollektivierungsgedanke spiele auf anderer Ebene eine Rolle:

Es geht im Grunde eher darum, dass die Kleinkinder alltäglich an eine Kollektivierung, eine Einordnung gewöhnt worden sind, ohne dass es explizite Propaganda in die Richtung gegeben hätte.

Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg

Kollektive Ansprache in der Krippe

Die Unterfinanzierung des DDR-Krippensystems habe dazu geführt, dass Erzieherinnen mit mindestens fünf, aber in der Regel zehn und mehr Kindern konfrontiert waren. Die Kinder hätten daher eine „kollektive Ansprache“ bekommen. Für den Spracherwerb bedeutete das, dass bei Krippenkindern die Sprachmöglichkeiten unter denen der Familienkinder gelegen haben, sagt von Rosenberg. Das hätten Untersuchungen gezeigt, die die DDR selbst vorgenommen hätte.
Es gehe ihm nicht darum zu sagen, was er selbst über das Krippensystem denke, sondern aufzuarbeiten, was die DDR-Entscheidungsträger selbst über die Defizite des Krippensystems wussten und wie sie entscheiden hätten.
Die materielle Versorgung sei weder in Krippen noch in den Familien in den 1950er-Jahren gut gewesen. Die Funktionäre hätten aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht, sich darum zu kümmern. Die medizinischen Versorgungsmaßnahmen in den 50er- und 60er-Jahre seien aber nicht dieselben wie in späteren Jahren.

Viele Kinder in einem kalten Raum, Infektionsrisiken, schlechte Versorgung und Anpassungsprobleme der Kinder hätten dafür gesorgt, dass Kinder maßgeblich krank wurden.

Insgesamt sei aber wenig bekannt über den Krippenalltag. Das liege auch daran, dass Kinder zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr nicht erzählen könnten, was passiert ist.

Strukturelle Probleme, die sich auswirken

Der Buchtitel „Die beschädigte Kindheit“ solle den ehemaligen Krippenkindern keine psychologischen Beschädigungen attestieren: „Es geht nicht darum, pauschal irgendwelche Psychologisierungen vorzunehmen oder hier einen Teil der Bevölkerung abzuqualifizieren oder Ähnliches. Darum geht es in dem ganzen Buch nicht.“
Heutige Kitas und damalige Krippen wolle er zwar nicht gleichsetzen, sagt der Erziehungswissenschaftler. Er empfiehlt aber, aus der Vergangenheit zu lernen: Je größer die Kindergruppe, desto größer auch das Krankheitsrisiko durch Infektionen.
Und wenn Erzieher mit zehn Kindern gleichzeitig sprechen müsse, dann sei das eine andere Ansprache als gegenüber zwei oder drei Kindern. „Das sind strukturelle Probleme, die nichts mit der DDR oder mit der Bundesrepublik zu tun haben, sondern das sind Probleme, die sich generell im Krippensystem zeigen und die immer bekannt sind und mit denen man umgehen muss.“

Angelika Censebrunn-Benz: "Stiefkinder der Republik. Das Heimsystem der DDR und die Folgen"
Herder Verlag 2022
240 Seiten, 20 Euro

Florian von Rosenberg: "Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen"
Verlag C.H. Beck
288 Seiten, 18 Euro

(ros)
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