Koran und Frauenrechte

Das völlig verzerrte Islamverständnis der Taliban

Junge Frauen demonstrieren für das Recht auf Bildung in Herat, Afghanistan, 2021.
Das Bildungsverbot für Frauen in Afghanistan ist unerträglicher Höhepunkt ihrer Diskriminierung und Entrechtung, kritisiert Ahmad Milad Karimi. © Getty Images / Anadolu Agency / Stringer
Ein Einwurf von Ahmad Milad Karimi · 05.01.2023
Wie die Taliban Religion verstehen, widerspricht dem erkennbar frauenfreundlichen Geist des Koran, erklärt Ahmad Milad Karimi. Der Professor für Kalam, Islamische Philosophie und Mystik fordert die Muslime auf, die Taliban religiös zu isolieren.
Seit über einem Jahr leiden die afghanischen Frauen unter der Schreckensherrschaft der Taliban. Doch der unerträgliche Höhepunkt ihrer Diskriminierung und Entrechtung ist mit dem Erlass erreicht, dass Frauen keine Bildung mehr erfahren dürfen.
Der Frau ist untersagt, sich universitär oder schulisch zu bilden. Jeder Widerstand dagegen wird gewaltsam und brutal niedergeschlagen.
Für ihre frauenfeindlichen Maßnahmen behaupten die Taliban die eine, endgültige Begründungsinstanz: den Islam. Sie sind bereit, für die radikale Umsetzung ihrer totalitären „Wahrheit“ buchstäblich alles zu opfern, und die Unterdrückung von Mädchen und Frauen gehört zum Inventar ihrer Ideologie.
Denn das Frauenbild der Taliban ist eindeutig: Frauen sind insbesondere zur sexuellen Befriedigung der Männer da, zur Fortpflanzung und für häusliche Aufgaben. In allem aber sind sie Männern unterstellt.

Frauenbild der Taliban in religiöser Hinsicht „pervers“

Dieses Frauenbild stellt in religiöser Hinsicht eine Perversion dar. Denn ob religiös, ethisch oder geistig - der Koran macht keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Jedes Geschlecht ist ein gleichwertiges Geschöpf Gottes mit Verantwortung und Pflicht zur Erkenntnis und Einsicht in allen Belangen des Lebens. Eine spezifische Frauenrolle ist dem Koran fremd.
Aber auch der Koran ist ein Zeugnis der Zeit seiner Erscheinung – er wurde in der patriarchalen Stammesgesellschaft des 7. Jahrhunderts offenbart – und enthält uneindeutige Stellen und Hinweise, die auf eine Bevormundung der Frauen schließen lassen können. Etwa wenn es um das Erbrecht geht, wo dem Wortlaut nach Frauen weniger zugesprochen wird als Männern.

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Der Buchstabe ist aber das eine und das andere der Geist des Textes. Und dieser Geist des Textes tritt mit klarer Haltung für Rechte der Frauen ein, die sie zuvor nicht besaßen, sodass Frauen zum Beispiel überhaupt als erbberechtigt gewürdigt wurden.
Für unsere Zeit kann nicht bloß der Wortlaut, der geschlechtsunsensibel überwiegend von Männern eben gedeutet wurde, Geltung beanspruchen.

Den Geist des Korans berücksichtigen

Vielmehr muss der Geist des Korans, der mit klarer Haltung für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen zu lesen ist, berücksichtigt werden. Dies fällt aber nicht vom Himmel.
Dafür müssen wir Muslime theologisch, rechtlich und ethisch argumentativ Sorge tragen. Nicht verschwiegen werden dürfen daher die Ungleichbehandlung und Diskriminierung der Frauen innerhalb der islamischen Traditionen und Gesellschaften bis heute, auch wenn sie kein spezifisch islamisches Problem darstellen.
Die Taliban hingegen sind besessen von der Idee, dass es ihre religiöse Pflicht sei, das weibliche Geschlecht in seiner leiblichen Präsenz, in seiner visuellen Gegenwart vollständig zu kontrollieren, zu beherrschen und aus dem öffentlichen Raum auszuschließen.
Sollen wir zuschauen, wie junge Frauen vor Schulen und Universitäten für ihre fundamentalen Rechte demonstrieren und dabei jegliche Gewaltanwendung in Kauf nehmen? Nein! Wir müssen uns alle gegen dieses Unrecht stellen.

Die Taliban religiös isolieren

Spätestens jetzt ist eine klare Grenze erreicht, die nicht mehr hinnehmbar ist. Also nicht den Mund halten, wegschauen und sie bemitleiden, sondern klar und deutlich für die Rechte der Frauen eintreten.
Der religiöse Fanatismus der Taliban ist zugleich ihr Schwachpunkt, weil sie darin zu widerlegen sind. Insbesondere dürfen daher die muslimischen Institutionen, Verbände, Bildungseinrichtungen, Theologien und Staaten nicht erneut schweigen, sondern sie müssen die Taliban religiös isolieren, um überhaupt glaubwürdig zu bleiben.

Ahmad Milad Karimi, geboren 1979 in Kabul, studierte Philosophie und Islamwissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau. Er ist Stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2019 erhielt er den Voltaire-Preis für „Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ der Universität Potsdam.

Prof. Ahmad Milad Karimi in Kitzingen.
© Daniel Biskup
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