Frauenrechtlerin aus Afghanistan

„Hier sind wir gar nichts“

09:06 Minuten
Eine Frau in Vollverschleierung guckt in die Kamera in St. Gallen.
Symbol der Unterdrückung von Frauen in Afghanistan: die Vollverschleierung. © AFP
Von Larissa Niesen · 10.07.2022
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Noch immer warten Zehntausende, die in Afghanistan für westliche Einrichtungen gearbeitet haben, auf ihre Ausreise. Der Anwältin Freshta Ahmadi gelang die Flucht vor den Taliban. Sie macht sich große Sorgen um die Frauen in ihrer Heimat.
„Freshta Ahmadi, defense lawyer, women rights advocat.“ Sieben Jahre lang hat Freshta Ahmadi sich so vorgestellt. Es war ihr Beruf, ihr Leben, und sie war so stolz darauf.
Jetzt muss sie weinen, wenn sie es ausspricht. In Afghanistan hat sie für eine Frauenrechtsorganisation als Verteidigerin gearbeitet, hat vor Gericht afghanische Frauen vertreten. Sie war sich sicher: Ihr Land war auf einem guten Weg.

Die Taliban fürchten starke Frauen

Dann übernahmen die Taliban im August 2021 erneut die Herrschaft, und für Freshta Ahmadi war erst einmal alles vorbei.
„Es gab mal einen Wissenschaftler, der gesagt hat, wenn du ein Land ruinieren willst, musst du die Frauen einschränken. Denn wenn eine Frau stark wird, wird sie eine starke Familie aufbauen. Also glaube ich, gerade jetzt ist es das, wovor die Taliban Angst haben.“
Die erste Herrschaft der radikal-islamistischen Terrorgruppierung ist inzwischen beinahe dreißig Jahre her. Ihre zweite begann vor etwa einem Jahr, nachdem sich die Militärtruppen der Vereinten Nationen aus dem Land zurückgezogen hatten.

Erste Flucht 1994

Jetzt ist Freshta Ahmadi in Deutschland. Seit November lebt sie in einem Wohnheim für Geflüchtete nahe Köln. Morgens besuchen sie und ihr Mann Integrationskurse, nachmittags gibt es Tee, und sie machen gemeinsam ihre Aufgaben.

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Freshta Ahmadi ist eine schmale kleine Frau, Jahrgang 1991. Sie hat warme braune Augen und läuft barfuß, ihr Kopftuch ist locker um das braune Haar geschlungen. Als die Taliban 1994 das erste Mal an die Macht kamen, floh ihre Familie mit ihr nach Pakistan. Dort ging sie zur Schule.

Die Tante wurde von den Taliban verprügelt

Erst nach dem 11. September kehrte die Familie zurück. Ahmadi lernte, die Taliban zu fürchten – durch die Erzählungen ihrer Verwandten.
„Meine Tante erzählte, wie sie ohne männliche Begleitung nach draußen gehen wollte und die Taliban sie verprügelten. Sie nutzten Lederstriemen wie Peitschen.”
Sie entschied sich für ein Jura- und Politikstudium an der Universität Kabul. Durch die wachsende Aufmerksamkeit für Frauenrechte kam auch sie zu diesem Thema. Als Verteidigerin in einer deutschen Organisation begann ihr Tag um sechs Uhr früh, sie traf Klientinnen und arbeitete an ihren Fällen.
Einer der Fälle war der der Studentin Zahra Khawari. Nachdem ihr Lehrer an der Universität ihre Doktorarbeit wiederholt abgelehnt hatte, nahm sich die Veterinärstudentin das Leben. Sie gehörte zur Ethnie der Hazara, die in Afghanistan häufig Opfer von Diskriminierung ist. Letzten Endes wurde der Professor freigesprochen.
„Wir waren zu dritt bei diesem Fall, und ich versuchte alles, weil ich sicher war, dass das Gericht und die Verteidigung sich auf die Seite des Lehrers schlagen würden, die Person, die den Selbstmord verursacht hatte. Es war, als ob die Richter Verteidiger wären. Aber ich bin froh, dass ich alles getan habe, was ich konnte und was möglich war.”

Einsatz gegen die "Jungfräulichkeitsprüfung"

Freshta Ahmadi hat ihre Arbeit über alles geliebt. Sie war so stolz auf die Fortschritte in ihrem Land. Bis zur Übernahme der Taliban setzte sie sich für das Verbot der sogenannten Jungfräulichkeitsprüfung ein. In Afghanistan war es lange geläufig, dass junge Frauen vor ihrer Hochzeit gezwungen wurden, sich von einem Arzt auf ihre vermeintliche Unberührtheit untersuchen zu lassen.
„Ich erinnere mich, dass, als ich das erste Mal vor Gericht über die Jungfräulichkeitsprüfung sprach, die Richter zu mir sagten: Sie sollten sich schämen, warum sprechen Sie öffentlich über dieses sensible Thema?”

Drohbriefe gegen die Familie

Am 15. August des vergangenen Jahres waren sie und ihr Mann gerade bei der Bank, um ein Problem mit ihrem Konto zu lösen. Es war der Tag, an dem die Taliban Kabul einnahmen.
„Plötzlich gab mir der Mann in der Bank all meine Papiere zurück und sagte, Sie müssen gehen, wir können keine Verantwortung für Sie übernehmen, die Bank schließt jetzt, die Taliban sind hier. Als wir rauskamen, sahen wir, wie alle rannten, versuchten, nach Hause zu kommen, ihre Geschäfte zu schließen… Diesen Tag werden wir nie vergessen.”
Eine Woche nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul bekam sie mitten in der Nacht einen Anruf: Sie soll ihren Pass bereithalten, es habe Drohbriefe gegeben, gegen sie und ihre Familie. Freshta ist da gerade im zweiten Monat schwanger.
„Hier ist die Übersetzung: Sie haben die Regeln des Islam verletzt. Wir haben Informationen erhalten, dass Sie in den meisten Familien Regeln der Ungläubigen angewandt haben. Sie haben ohne Grund Frauen von ihren Männern geschieden und die meisten Männer ohne Grund ins Gefängnis gebracht. Im Namen des Islam informieren wir Sie, dass man berechtigt ist, Sie und Ihre Familie zu töten.”

Warten auf das Asylverfahren

Obwohl sie über deutsche Behörden mit ihrem Mann hätte ausreisen können, da sie auf einer Liste für gefährdete Frauenrechtlerinnen des Auswärtigen Amtes stand, wartete Freshta auf ein Angebot der polnischen Regierung, um ihre 14-köpfige Familie nicht zurücklassen zu müssen: Eltern, Schwiegereltern, Geschwister und Schwägerinnen mit Kindern.
Freshta und ihr Mann können daraufhin legal nach Deutschland einreisen. Der Rest ihrer Familie folgt illegal, weil sie nur ein Aufenthaltsrecht für Polen haben. Sie sind in verschiedenen deutschen Städten untergekommen und warten auf ihr Asylverfahren. Nur Freshta und ihr Mann haben bereits Aufenthaltsgenehmigungen: Sie für drei Jahre, er für eines mit Aussicht auf Verlängerung.

"Jetzt bin ich gar nichts"

In Köln sind Freshta und ihr Mann vorerst sicher. Im Nebenzimmer liegt ihre kleine Tochter, sie ist in Deutschland geboren. Neben der Sorge um ihre Großfamilie trauert Freshta vor allem um ihr Land, um ihr Afghanistan, und um die Frauen, die jetzt alles verlieren, wofür sie jahrzehntelang gekämpft haben.
„Ich weiß noch, wie hart ich gearbeitet habe, nicht nur ich, alle arbeitenden afghanischen Frauen. Und jetzt sind sie alle, nicht nur die, die noch in Afghanistan sind, sondern auch die, die wie ich hier sind, gar nichts. Wir hatten Positionen. Freshta Ahmadi, Verteidigerin, Frauenrechtlerin. Jetzt bin ich gar nichts.”

Die Taliban machen ihre eigenen Regeln

Es schmerzt sie auch, dass die Terrorgruppe der Taliban mit ihren Handlungen ihre Religion in den Dreck zieht.
„Es gibt keine Unzulänglichkeit im Islam, sie liegt bei einzelnen Muslimen. Und die Taliban, die jetzt sagen, ein Mann hat das Recht, seine Frau zu schlagen – der Islam sagt das nicht. Es sind eigene Regeln, die die Taliban machen, nicht der Islam. Der Islam sagt, du hast die Freiheit der Entscheidung, es wird dir nicht aufgezwungen, deinen ganzen Körper zu verdecken. Die meisten der Taliban können den Koran nicht mal lesen, wie können sie sagen, das stünde da.”

Der Tochter soll es besser gehen

Im Augenblick versucht sie sich darauf zu konzentrieren, dass ihre Tochter trotz allem in einem einigermaßen sorgenfreien Umfeld aufwächst.
„Manchmal, wenn ich meine Tochter füttere, denke ich an meine Familie und muss weinen. Eine Nachbarin hat mal zu mir gesagt, wenn du weinst, füttere sie nicht, denn die Traurigkeit wird auf sie übergehen. Also spiele ich mit ihr, ich tanze mit ihr, um sie glücklich zu machen. Sie liebt es, den Koran-Rezitationen zuzuhören. Als ich schwanger war, war das das einzige, das mich beruhigen konnte, ich habe mir das Handy auf den Bauch gelegt und wir haben zusammen zugehört.”
Freshtas Leben in Afghanistan ist Vergangenheit. Hier in Deutschland muss Freshta Ahmadi sich alles noch einmal neu aufbauen. Ihr Situation wünsche sie niemandem auf der Welt, sagt sie.
„Niemand, Muslim oder nicht. Nicht von den Liebsten getrennt sein, nicht ein falsches Lächeln aufzusetzen, damit die Kinder nichts merken – das wünsche ich allen.”
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