Afghanistan unter den Taliban

Ein Land im Griff der Angst

22:21 Minuten
Mehrere Frauen sind komplett mit blauen Gewändern verhüllt, auch der Kopf, der in der Mundpartie ein kleines Gitter hat.
Frauen mit Burka in Kabul - Anfang Mai ließ der oberste Führer der Taliban bekannt geben, dass Frauen in Afghanistan künftig eine Burka tragen sollen, auch um Männer nicht zu provozieren. © imago images/Ton Koene
Von Peter Hornung · 19.05.2022
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Schließung von Schulen, Burkapflicht für Frauen, Lebensmittelhilfe, die nicht alle erreicht, Hunger und Dürre: Die Situation in Afghanistan unter den Taliban wird immer verzweifelter. Viele wollen einfach nur noch weg. Haben sie eine Chance?
Mut ist in diesen Tagen weiblich in Afghanistan. „Die Burka ist nicht unser Hidschab“, skandiert eine Gruppe Frauen auf einer Straße im Zentrum Kabuls.
„Macht Afghaninnen nicht zu Geiseln", fordern sie.

Kopftuch ja, Burka nein

Jemand hat diese Szene gefilmt, damit sie über soziale Netzwerke verbreitet werden kann. Die Botschaft der Frauen: Wir tragen ein Kopftuch, aber wir verhüllen nicht unser Gesicht.
Sie demonstrieren ganz absichtlich an diesem Ort, denn nebenan ist ein Ministerium, ein ganz besonderes. Es heißt „Ministerium zur Verbreitung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters“.
Eine Frau mit Kopftuch hält ein Plakat mit einer Frau in Burka empor.
Proteste gegen die Taliban und die Burka in Afghanistan gibt es auch weltweit immer wieder – hier von Exil-Afghaninnen in Neu-Delhi. © imago images/Hindustan Times
Nach ein, zwei Minuten tauchen mehrere Taliban auf. Sie stoppen die Frauen, fangen an zu diskutieren. Am Ende landen sie für einige Stunden auf einer Polizeiwache, meldet ein örtlicher Sender. Ein glimpflicher Ausgang eines mutigen Protests.

Wie das Tugendministerium befiehlt

Anfang Mai 2022, wenige Tage vor dieser Demo: vielleicht 100 Männer in einer Versammlungshalle. Sie waren zusammengekommen, um zu hören, wie Frauen sich künftig zu kleiden haben.  Der Beamte Shir Mohammad erklärte die neuen Vorschriften. Er ist vom Tugendministerium.

Für alle ehrenvollen afghanischen Frauen ist das Tragen des Hidschab notwendig. Zur Erläuterung des Hidschabs: Jede Kleidung, die den Körper bedeckt, ist ein Hidschab, aber die Kleidung sollte nicht so dünn sein, dass sie den Körper entblößen kann, oder so eng, dass Körperteile zu sehen sind.

Shir Mohammad

Hibatullah Achundsada, der oberste Führer der Taliban, wünsche, dass Afghaninnen idealerweise eine Burka tragen sollten, als spezielle Form des Hidschab. Eine oft blaue Ganzkörperbedeckung, über dem Gesicht ein Gitter aus Stoff, sodass die Trägerinnen zumindest noch ein wenig sehen können.

Zu Hause bleiben ist am besten

In einem Erlass heißt es klar, dass Frauen, „die nicht zu alt oder zu jung sind“, gemäß den Scharia-Richtlinien „ihr Gesicht mit Ausnahme der Augen“ bedecken müssen. Auf diese Weise sollten "Provokationen" bei der Begegnung mit Männern vermieden werden, die keine engen Verwandten sind. Ohnehin sollten Frauen "besser zu Hause bleiben", sofern sie nichts Wichtiges außer Haus zu erledigen hätten.
Will man wissen, wie die Taliban wirklich denken, dann sollte man hineingehen in das Tugendministerium.
Ein Mann mit Turban und schwarzem Bart sitzt neben einer Fahne in einem Büro.
"Stellen Sie sich mal vor, hier in meinem Büro würde eine Frau arbeiten": Mohammad Sadeq Akif ist Sprecher des Tugendministeriums.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Das Tugendministerium ist unter den Taliban dafür zuständig, die Vorstellungen der religiösen und politischen Führung durchzusetzen. So eine Behörde gab es schon im ersten Taliban-Regime von 1996 bis 2001. Sie hatte eine eigene Religionspolizei und war für ihre drakonischen Strafen gefürchtet.

Frauen und Männer bitte trennen

Man sei nicht so radikal wie damals, meint Ministeriumssprecher Mohammad Sadeq Akif. Aber es gehe darum, Frauen und Männer zu trennen.
„Afghanistan ist ein muslimisches Land. Und außerdem hat unser Prophet gesagt, dass Frauen und Männer nicht zusammen sein sollten, wenn sie nicht zu einer Familie gehören. Stellen Sie sich mal vor, hier in meinem Büro würde eine Frau arbeiten“, sagt er.
„Ich bin der Sprecher des Tugendministeriums und ich gebe Menschen Ratschläge, wie sie den richtigen Weg einschlagen. Aber wenn hier eine Frau arbeiten würde, was wäre denn, wenn ich etwas für sie empfinden würde? Das würde für sie große Probleme schaffen und für mich auch.“
Es ist ein Land, in dem die Frauenrechte mit atemberaubender Geschwindigkeit beschnitten werden. Der Burka-Erlass war nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Ausgrenzung von Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben des Landes.
Zwar dürfen Studentinnen inzwischen wieder zur Uni, natürlich getrennt von männlichen Studenten. Doch Schülerinnen höherer Klassen sind noch immer vom Unterricht ausgeschlossen. Frauen dürfen noch nicht zu ihren Arbeitsplätzen in Behörden und Ministerien zurück. Und alleinreisende Frauen werden zuweilen gestoppt und nach Hause geschickt, wie vor einigen Wochen am internationalen Flughafen von Kabul.

"Die Taliban haben uns die Freiheit genommen"

Es herrscht Angst. Keiner will mit seinem wirklichen Namen im Radio zu hören sein. Deshalb nennen wir diese beiden jungen Frauen Samira und Ayla. Sie kommen aus Herat im Westen Afghanistans.
Seit dem vergangenen Herbst jedoch sind sie in Kabul, sagt Ayla. „Wir fühlen uns nicht mehr sicher. Wir haben Angst. Die Taliban haben uns längst unsere Freiheit genommen. Das ist sehr bitter für uns. Und deshalb müssen wir gehen.“
Die Schwester der beiden lebt schon lange in Hamburg. Auch deshalb wollen Samira und Ayla weg. Doch seit Monaten verstecken sie sich in einer Wohnung unweit des Zentrums von Kabul. Zwei Zimmer haben sie da. Samira ist Anwältin, Ayla Journalistin. Als Frauen aber, sagt Samira, hätten sie keine Chance mehr in Afghanistan.

Bisher hatten wir Jobs, haben gearbeitet. Aber jetzt lassen sie uns nicht mehr. Es gibt kaum mehr Möglichkeiten für Frauen zu arbeiten. Wir dürfen ja nicht einmal mehr aus dem Haus. Inzwischen haben wir uns versteckt. Die Taliban haben ja schon Frauen festgenommen, die so leben wie wir. Wenn sie uns finden, dann werden sie auch uns einsperren. All das bringt uns dazu, das Land zu verlassen.

Samira

Eigentlich waren sie nach Kabul gekommen mit der Hoffnung, zunächst nach Italien ausgeflogen zu werden. Ayla hatte früher für das italienische Militär gearbeitet, das im Rahmen der Afghanistan-Mission in Herat einen Stützpunkt hatte.
Doch noch nicht lange nach dem Gespräch schrieb ihnen ihr Unterstützer aus Italien: Er könne nichts mehr für sie tun. Er engagiere sich nun für die Ukraine.
        
Eine lange Schlange wartender Menschen mit Papieren in der Hand.
Ausreise als Lösung: Tausende warten täglich vor dem Passamt in Kabul und wollen vor dem Taliban-Regime fliehen.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Es herrscht eine aggressive Stimmung, hier vor dem Passamt von Kabul. Afghanistan ist dieser Tage voll von Menschen, die wie Ayla und Samira wegwollen – und die dafür das Dokument benötigen, das hier ausgestellt wird: einen afghanischen Reisepass.

Ohne Pass kommt man nirgends hin

Tausende warten hier jeden Tag, es gibt Absperrungen, überall stehen Taliban mit Kalaschnikows. Manche Antragsteller lassen sie durch, viele nicht. Ein System ist nicht erkennbar.
So ein Reisepass ist ein begehrtes Dokument, schon deshalb, weil die Passbehörde lange Zeit kaum mehr welche ausgestellt hatte. Ohne Pass allerdings kommt man nirgends hin. Bekommt kein Visum für eines der Nachbarländer Afghanistans. Und schon gar nicht für den Schengenraum oder die Vereinigten Staaten.
Ein vermummter Mann steht auf einem Fahrzeug mit einer Fahne, die Waffe im Anschlag.
Gut bewachtes Passamt in Kabul - überall stehen Taliban mit Kalaschnikows.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Schon deshalb ist Alam Gul Haqqani ein mächtiger Mann. Er ist Leiter der Passbehörde im Range eines Ministers. Regelmäßig tritt er vor das Gebäude und hält Hof, umringt von Bewaffneten und bedrängt von Antragsstellern. Manche Anträge unterschreibt er, manche weist er zurück.

Dubiose Agenten vermitteln Pässe

Alles sei ganz streng geregelt, sagt Haqqani. Wenn er hier vor dem Gebäude Passanträge abzeichne, dann seien das Notfälle. Ansonsten gebe es ein klares Verfahren – online. Aber, ja, es gebe auch dubiose Agenten, die für die Vermittlung von Pässen Hunderte Dollar verlangten.
„Wir lassen nicht zu, dass irgendwelche Vermittler Geld kassieren. Wir haben schon 300 von ihnen aus dem Verkehr gezogen und den Sicherheitsbehörden übergeben“, sagt er.
„Deshalb bitten wir alle, sich auf dem regulären Weg zu bewerben. Wenn man den Antrag so eingereicht hat, dann ist das Verfahren ganz sauber.“
Einige Meter entfernt von Haqqani steht eine junge Frau. Sie sei 25, sagt sie.
„Wir haben vor sechs Monaten die Pässe beantragt. Seither haben wir nichts mehr gehört. Jetzt kommen wir das erste Mal hierher und haben es immerhin schon bis zur zweiten Absperrung geschafft“, erzählt sie.
„Aber gerade habe ich rausgefunden, dass nur diejenigen einen Pass bekommen, die in Kabul gemeldet sind. Ich bin aus einer anderen Provinz, deshalb geht das offenbar nicht.“
Warum sie weg wolle? „Ich war Polizistin und habe im Drogendezernat gearbeitet, am Flughafen. Aber jetzt bin ich arbeitslos. Mein Mann lebt in Deutschland und deshalb möchte ich auch nach Deutschland.“

Ortskräfte im Visier der Taliban

Nach Deutschland will auch Ahmad, auch er heißt eigentlich anders. Er will sich nur an einem sicheren Ort treffen, in einem Haus, in das man nur durch vier schwere Stahltüren kommt.
Ahmad ist einer von vielen Tausend, die für die Deutschen gearbeitet haben, eine ehemalige Ortskraft. Er war nur einige Wochen lang Übersetzer für die Bundeswehr im nordafghanischen Kunduz. 2010 war das. Er zeigt Dokumente von damals. Aber das, sagt er, habe schon gereicht, um ins Visier der Taliban zu geraten.
„Die Taliban haben zweimal Drohbriefe geschickt, in denen gefragt wurde, wo ich denn sei. Sie wollten mich sprechen, hieß es“, erzählt er. „Sie wollten mich verhaften, glaube ich. Jetzt suchen sie mich.“

Viele Mails an die Bundeswehr geschickt

Mit seiner Familie hat er Unterschlupf in Kabul gefunden, hat Helfer in Deutschland, die ihm aus dem Land helfen wollen. Doch Kabul wurde nicht zu einer Zwischenstation von einigen Tagen oder vielleicht Wochen. Es wurde zur Endstation für Ahmad.
„Ich habe viele E-Mails an die Bundeswehr geschickt: Helft uns. Wir sind in Gefahr. Wir haben Familie hier. Was können wir hier tun? Wir haben Angst vor den Taliban. Wenn sie uns finden, bringen sie uns um“, erzählt er.
Natürlich gebe es Korruption bei der Ausstellung der Pässe. Er selber sei schon 600 Euro losgeworden, die ihm seine Unterstützer aus Deutschland geschickt hätten.

Ich habe online Pässe beantragt. Fünf oder sechs Monate ist das her. Ich habe einem Agenten Geld gegeben. Bis jetzt habe ich nichts gehört. Ich warte und warte und warte, um endlich Pässe zu kriegen.

Ahmad

Er will weg, hofft, dass ihn Deutschland doch noch aufnimmt. Einige Zeit später bekommt er zwar die Pässe für sich und seine Familie. Doch wie er nach Deutschland kommen soll, weiß er bis heute nicht.
Die deutsche Botschaft in Kabul ist immer noch geschlossen. Dass es in Afghanistan viele Menschen wie Ahmad gibt, das wissen die Taliban natürlich. Immer wieder betonen sie, dass den ehemaligen Ortskräften nichts geschehe.

Ausreise nur aus wirtschaftlichen Gründen?

Die meisten von ihnen seien gar nicht bedroht, sagte ein hoher Taliban-Vertreter in einem Gespräch, das nicht aufgenommen werden durfte. Diese Drohbriefe seien zumeist gefälscht.
Die Leute wollten doch nur weg, weil es ihnen wirtschaftlich schlecht ginge. Man solle sie eher mal fragen, so der Talib, wer weggehen würde, wäre die wirtschaftliche Situation eine bessere.
Ein junger Mann mit Vollbart sitzt vor dem Laden auf der Straße neben Sträußen von bunten Blumen in Vasen.
Am Valentinstag haben die Taliban seinen Laden geschlossen, erzählt ein Blumenverkäufer im Viertel Darul-Aman im Süden Kabuls.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Eine Einkaufsstraße im Viertel Darul-Aman im Süden Kabuls. Hier kann man sehen, dass es den Menschen nicht nur ums Geld geht. Jeder der Händler hat eine Geschichte zu erzählen, wie die Taliban das Land verändert haben.
Der Besitzer eines Bekleidungsgeschäftes, der keine engen Damenjeans mehr verkauft. Der Cafébesitzer, der Pärchen auffordern muss zu gehen, weil ihm die Taliban sonst den Laden schließen. Oder der Blumenhändler, den sie heute gerade mal in Ruhe lassen.
„Sie haben hier noch nicht kontrolliert, insofern haben wir eigentlich gerade normales Business. Aber es gab ja den Valentinstag, den die Menschen hier die letzten Jahre immer gefeiert haben“, erzählt er.
„Am 14. Februar hatten wir offen. Aber als die Taliban das rausgekriegt haben, haben sie die Läden geschlossen und verboten, den Valentinstag zu feiern.“

"Jeder versucht nur, das Land zu verlassen"

Auch in Mohammads Laden waren sie schon. Er ist eigentlich Journalist, inzwischen aber verkauft er unweit des Blumenladens Kunsthandwerk.
„Wenn eine Gesellschaft keine Hoffnung für die Zukunft mehr hat, dann sind die Menschen nur noch wie Hüllen, die irgendwie leben. Ohne Leidenschaft. Wir haben uns sehr ins Zeug gelegt, wie haben studiert, uns angestrengt, um eine gute Zukunft zu haben. Haben das mit Leidenschaft getan“, sagt er.
„Aber jetzt ist das alles weg. Und jeder versucht nur, das Land zu verlassen. Es geht wirklich nicht nur ums Geld. Kunst und Hoffnung gehören zusammen. Wenn die Menschen keine Hoffnung mehr haben, kaufen sie keine Kunst mehr.“
Mohammad zeigt eine kleine Metallfigur, zusammengeschweißt aus Schrauben und Muttern. Eine Frau, die eine Geige hält. Die Taliban seien gekommen und hätten gesagt, dass so eine Frau aus Metall nicht in der Auslage stehen dürfe. Jetzt habe er sie eben weiter hinten versteckt.

Eingriff in alle Lebensbereiche

Musik hört man nur selten im Kabul dieser Tage, und ein Straßenmusiker wie hier ist eine Rarität. Er sei 60, sagt er, und er mache das schon ziemlich lange.
„Unter der alten Regierung war ich glücklich. Die Leute haben mich unterstützt, wenn ich hier gespielt habe. Sie haben mir Geld gegeben. Jetzt können die Menschen nicht mehr viel geben“, erzählt er.
„Dann haben die Taliban vor ein paar Tagen eine meiner besten Flöten zerbrochen. Ein paar von denen sind in Ordnung. Die nehmen dann sogar auf, wenn ich spiele. Aber dann gibt es die Extremisten und die machen mir Ärger.“
Sie greifen ein in alle Lebensbereiche, die neuen Herren im Land. Und sie nehmen den Menschen die letzten Freuden.
Ob das tatsächlich die Politik der Taliban sei, einem Flötenspieler auf der Straße sein Instrument zu zerbrechen? Nein, das sei es keinesfalls, sagt Mohammad Sadeq Akif, Sprecher des Tugendministeriums.
„Der Auftrag unseres Ministeriums ist es nur, Ratschläge zu geben. Wir bestrafen sie nicht. Wir zerbrechen nicht ihre Instrumente“, erklärt er.
„Nur wenn die Musik zu laut ist und die Leute in der Gegend stört, dann gehen wir hin und beenden das. Aber noch mal: keine Bestrafung, kein Zerstören der Instrumente.“

"Wir geben da schon Ratschläge"

Wie aber gehen die Taliban dann mit Musik um. Ist sie vollkommen verboten?
„Wenn sie in der Stadt waren, dann haben sie ja vielleicht festgestellt, dass die Leute Musik spielen in ihren Autos. Von CDs oder USB-Sticks. Es gibt Veranstaltungen, Hochzeiten, wo jemand Musik macht. Da gehen wir nicht hin, halten die Leute davon ab oder machen Instrumente oder Player kaputt“, sagt er.
„Aber wir geben da schon Ratschläge, das tun wir. Früher wurde in der Öffentlichkeit Musik gespielt. Aber nun mit dem Regimewechsel haben sich auch die Menschen geändert. Akademische Konferenzen zum Beispiel beginnen mit der Lesung aus dem Koran. Aber es ist keineswegs so, dass Musik komplett verboten wäre in Afghanistan.“
Tatsächlich ist Musik noch im Autoradio zu hören, aber nur religiöse. Und wenn dieser Talib sagt, sein Ministerium gebe nur Empfehlungen, wenn es „unislamisches Verhalten“ feststelle, dann ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ja, räumt er auf Nachfrage ein, eine Empfehlung sei nur der erste Schritt.
„Es gibt praktisch vier Stufen, wie wir Menschen dazu bringen zu gehorchen. Das erste Mal geben wir ihnen ein Ratschlag. Beim zweiten Mal wiederholen wir diesen Ratschlag. Beim dritten Mal verwarnen wir. Beim vierten Mal schicken wir dem Betroffenen eine schriftliche Anordnung, darin steht: Wir haben es dir jetzt schon dreimal gesagt: Das ist eine Sünde. Das ist schlecht. Und das muss dir jetzt bewusst sein“, sagt er.
„Wenn das nicht fruchtet, halten wir den Betroffenen 48 Stunden fest, stellen alle Papiere zusammen und übergeben ihn dem Gericht. Unser Ministerium setzt keine Strafen fest, das ist Aufgabe des Gerichts.“

Auspeitschen, Amputationen, Galgen

Und dieses Gericht funktioniert im Islamischen Emirat auf Basis der Scharia – mit allen Strafen, die darin vorgesehen sind: von Auspeitschen über die Amputation einer Hand bis hin zum Tod am Galgen.
Vier ältere Männer mit Kopfbedeckung halten ihre Identitätsnachweise in die Kamera.
Desolate humanitäre Situation: Hungernde stehen am Flüchtlingsamt in Herat an, der Großstadt an der Grenze zum Iran.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Doch es ist nicht nur die schwindende Freiheit, die die Menschen aus dem Land treibt, oder die Angst vor drakonischen Strafen. Es ist auch die pure Not, der Hunger, wie hier in der Großstadt Herat an der Grenze zum Iran.
Leila steht hier vorm Flüchtlingsamt, wie viele andere auch. Sie hoffen, dass sie Lebensmittel bekommen, für sich und ihre Kinder.

Meine Familie hat nichts mehr zu essen. Wir leben eigentlich in einem Bezirk weit weg von hier. Von dort sind wir Richtung Iran geflohen. Dort aber haben sie uns verhaftet und nun sind wir zurück in Afghanistan. Deshalb sind wir jetzt hier, weil wir vom Amt Hilfe wollen. Alles würde uns helfen.

Leila

Iran behandelt Menschen aus Afghanistan schlecht

Im Nachbarland habe man sie auch nicht haben wollen. Sie seien schlecht behandelt worden, sagt sie. Tatsächlich gibt es immer wieder Berichte von Folter und von Morden iranischer Sicherheitskräfte an afghanischen Flüchtlingen.
Überprüfen lässt sich das nicht, aber viele erzählen davon. Auch Leila machte ihre Erfahrungen.
„Wir sind gar richtig nicht in den Iran reingekommen. Weil die Grenzpolizei auf uns geschossen hat. Und deshalb mussten wir zurück nach Afghanistan“, erzählt sie.
Ein rechteckiger schummrig beleuchteter Raum, der von allen Seiten von dunkelblauen hängenden Burkas eingerahmt wird.
Burkapflicht als Symbol für die Unterdrückung der Frauen: Die Hoffnungen auf „geläuterte“ Taliban sind seit ihrer erneuten Machtübernahme im August enttäuscht worden.© Peter Hornung, ARD-Studio Neu-Delhi
Was passiert, wenn Menschen ihre Kinder nicht mehr ernähren können, sieht man auf der Intensivstation des Kinderkrankenhauses von Herat. Es ist voll, viele Kleinkinder, teilweise Säuglinge.
„Alle zwischen zwei und 59 Monaten.“ Die Ärztin Solveig Köbe arbeitet hier für Ärzte ohne Grenzen. Diese Hilfsorganisation betreibt dieses Krankenhaus in Herat.
„Wir haben zwei Räume Intensivstation mit jeweils fünf Betten. Häufig tatsächlich auch eher zwölf oder 15 Patienten, die hier behandelt werden“, erzählt sie.

24 Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe

Mütter sitzen am Bett ihrer Kinder, streicheln deren Stirn. Hier sind die, denen es besonders schlecht geht, aber es sind eben auch die, die noch hierhergebracht werden konnten.

Ein einjähriger Patient, der gestern gekommen ist, gestern bewusstlos gebracht wurde, kommt von weiter weg aus dem Nachbardistrikt. Und wir haben heute tatsächlich schon angefangen, ihn wieder zu ernähren über eine Magensonde. Man sieht eben, dass er heute schon tatsächlich seine Lebensgeister wiedergefunden hat.

Solveig Köbe

24 Millionen Menschen in Afghanistan brauchen dringend humanitäre Hilfe, heißt es in einer jüngst veröffentlichten US-Studie. Fünf Millionen mehr als vergangenes Jahr.

Es leiden Alte, Kranke und Kinder

Viele von ihnen hungern. Es leiden die Schwächsten: die Alten, die Kranken und eben die Kinder.
Draußen vor dem Krankenhaus warten die Väter. Es darf immer nur einer mit rein, und das ist meist die Mutter. Dieser Mann hier kommt aus der Provinz Baghdis, er wartet auf seine dreijährige Tochter.
„Wir haben nicht genug, um unsere Kinder zu ernähren. Weil es in unserer Provinz einfach nichts gibt. Wir haben auch keine guten Ärzte dort“, erzählt er.
„Wir wussten gar nicht, was wir tun sollen – mit unserer Tochter in eine andere Provinz zu gehen oder vielleicht sogar ins Ausland?“
Etwa 70 Prozent der Haushalte seien nicht in der Lage, den Grundbedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken. Die Gründe: Das Haushaltseinkommen ist massiv gesunken und die Versorgungslage prekär.

Aber manchmal wird es doch wieder gut

Internationale Lebensmittelhilfe erreicht die Menschen nicht überall gleich. Eine Dürre, wie es sie seit drei Jahrzehnten nicht mehr gab, macht alles noch viel schlimmer. Und die Auswirkungen, die sieht man dann eben hier im Kinderkrankenhaus von Herat.
„Der Eindruck ist, dass das meiste, was wir hier sehen, eine chronische Unterernährung ist, die jetzt durch einen akuten Ernährungsmangel verschlimmert wird“, sagt Solveig Köbe.
15 von 100 Kindern überlebten es nicht, schätzt sie, selbst wenn ihnen hier professionell geholfen wird. Hoffnung, so die deutsche Ärztin, gäben jedoch die vielen anderen, bei denen sie sieht, dass es aufwärtsgeht. Am Anfang gehe man ganz langsam vor.
„Dann kommt der schöne Teil. Wenn wir tatsächlich anfangen können, auch wieder feste Nahrung einzuführen. Und wenn man dann auch sieht, dass es den Kindern besser geht“, erzählt sie.
„In der Regel ist es so, wenn man sieht, dass die Kinder wieder sitzen und lächeln, dann weiß man, dass es auch gut wird.“

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