Kommentar zur Präsidentschaftswahl in Frankreich

Entscheidung zwischen Freiheit und Sicherheit

Eine französische Flagge weht vor dem Eiffelturm in Paris.
In der Stichwahl um das Präsidentenamt kommen die traditionellen politischen Lager, Sozialisten und Republikaner, nicht vor - eine folgenreiche Verschiebung der Werte, findet der Journalist Alexandre Lacroix. © Peter Kneffel/dpa
Von Alexandre Lacroix, aus dem Französischen von Catherine Newmark · 07.05.2017
Ein Sieg der Nationalistin Marine Le Pen würde Frankreich weder mehr Freiheit noch mehr Sicherheit bringen, nur eine Rückkehr zu "brutalem Autoritarismus", meint Alexandre Lacroix, der Chefredakteur des französischen "Philosophie Magazine".
Keine der beiden großen Parteien, die sich die Macht in Frankreich seit 1981 teilen, hat es in die Stichwahl geschafft. Weder die Sozialistische Partei von François Mitterrand und François Hollande noch die Republikaner von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy werden den nächsten Präsidenten stellen. In der Stichwahl stehen sich nicht die traditionelle Linke und die traditionelle Rechte gegenüber, sondern das von Emmanuel Macron vertretene Zentrum und die extreme Rechte von Marine Le Pen.
Mit dieser neuen Konstellation ist nicht nur das traditionelle politische Links-Rechts-Schema obsolet geworden. Es hat sich, damit einhergehend, eine folgenreiche Verschiebung der Werte vollzogen.

Freiheit und Gleichheit brauchen den Kompromiss

In seinem Werk "Rechts und Links: Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung" definiert der italienische Philosoph Noberto Bobbio rechts und links mit Blick auf ihr jeweiliges Verhältnis zu zwei zentralen Werten, nämlich Freiheit und Gleichheit. Beides Werte von eminenter Wichtigkeit – und doch: Eine Welt in der Freiheit total wäre, würde in die Anarchie führen, genauso wie eine Welt, in der wir alle in allem gleich sein müssten, in einen kollektivistischen Albtraum münden würde.
Die beiden Werte Freiheit und Gleichheit haben also die Eigentümlichkeit, dass sie nie absolut gesetzt werden können. Vielmehr brauchen sie den Kompromiss, müssen gegeneinander abgewogen werden. Bobbio unterscheidet nun klassische linke und rechte Politik nach der Art, wie sie diesen Kompromiss vornimmt: Ein Linker wird sich überall da, wo Freiheit und Gleichheit in Konflikt geraten, für die Gleichheit entscheiden, während ein Rechter im gleichen Fall der Freiheit Priorität einräumen würde.

Gleichheit in der Krise, Sicherheit im Fokus

Wer nun den diesjährigen französischen Wahlkampf beobachtet hat, muss feststellen: Gleichheit wurde von keinem der beiden Lager, die den ersten Wahlgang überstanden haben, ernsthaft vertreten. Ja, noch viel grundlegender: als Zivilisationswert ist die Gleichheit seit geraumer Zeit in der Krise. Die Einkommensunterschiede werden immer größer; die Ungleichheiten zwischen Stadt und Land, zwischen Bürgern und illegalen Einwanderern, zwischen Eliten und Volk, zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen verschärfen sich zunehmend. Selbst die traditionelle Arbeiterklasse will die Steuern für den Wohlfahrtsstaat nicht mehr bezahlen. Als politischer Leitwert ist Gleichheit kurz gesagt so gut wie passé.
Hingegen ist schon seit den New Yorker Anschlägen 2001 ein neuer Wert ins Zentrum der politischen Debatte gerückt: die Sicherheit. In Frankreich, das sich nach den Attentaten auf Charlie Hebdo, das Bataclan und Nizza noch immer im posttraumatischen Schockzustand befindet, erscheint die Forderung nach Sicherheit als drängend und berechtigt.

Freiheit vs. Sicherheit

Wenn wir also Noberto Bobbios Analyse vor dem Hintergrund dieser Verschiebung der Werte aktualisieren, dann ist die politische Frage heute nicht mehr ein Abwägen zwischen Gleichheit und Freiheit, sondern vielmehr eines zwischen Freiheit und Sicherheit. Der mit dem Zentrum sympathisierende Wähler wäre demnach einer, der im Fall eines offenen Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit die Freiheit vorziehen würde, während der Wähler der extremen Rechten in der gleichen Situation einer nationale Sicherheit, die sich gegen den globalen Liberalismus in Stellung bringt, den Vorrang einräumen würde.
Die Frage, der sich jeder Franzose heute also stellen muss, ist die folgende: Gibt er dem Lager der Freiheit oder demjenigen der Sicherheit den Vorrang? Helfen wir ihm bei seiner Entscheidung. Denn so berechtigt der Wunsch nach Sicherheit auch sein mag: die Mittel, mit denen Marine Le Pen diese zu gewährleisten verspricht – Schließung der Grenzen, Ausstieg aus der EU, verschärfte Polizeipräsenz, sofortige Ausweisung all derjenigen, die unter Radikalisierungsverdacht geraten – wirken wenig vertrauenserweckend.
Die identitäre Vision der Gesellschaft, die der Front National vertritt, riskiert eher den Krieg zu schüren als den Frieden zusichern, verschärft sie doch Spannungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und schafft ein Klima des Misstrauens. Gewinnt der Front National, soviel erscheint klar, wird es weder Freiheit noch auch die versprochene Sicherheit geben, sondern einzig und allein die Rückkehr zu einem brutalen Autoritarismus.
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