"Macron ist schon genial"
Bei der Stichwahl um das französische Präsidentenamt am Sonntag hält auch der Rest Europas den Atem an: die rechtsextreme Marine Le Pen gegen den linksliberalen Emmanuel Macron. Wir sprechen mit Daniel Cohn-Bendit über diese Richtungswahl.
Könnte die Rechtspopulistin Le Pen in den Élysée-Palast einziehen? Was würde das für Frankreich bedeuten – und für Europa? Könnte ein Wahlsieger Macron die aufgewühlte Grande Nation einen? Und was bedeutet es für die französische Demokratie, dass kein Kandidat der großen Volksparteien es in die Stichwahl geschafft hat? Darum geht es am Vorabend der Stichwahl in der Sendung Tacheles mit dem deutsch-französischen Politiker und Publizisten Daniel Cohn-Bendit.
1968 stand er bei den Studentenunruhen in Paris auf den Barrikaden, wurde deswegen nach Deutschland ausgewiesen. Heute unterstützt Daniel Cohn-Bendit, langjähriger Europaabgeordneter und grünes Urgestein mit deutschem wie französischem Pass, bei der Präsidentenwahl in Frankreich den liberalen Kandidaten Emmanuel Macron. Dessen Politikstil bedeute eine "politische Kulturrevolution" für Frankreich, sagt Cohn-Bendit im "Tacheles", denn Macron wolle seinen Landsleuten Kompromisse zumuten. Ungewohnt in einem Land, wo seiner Meinung nach "praktisch alle politischen Kräfte in den Schützengräben sich versteckt haben".
"Genial" findet Cohn-Bendit Macrons Strategie, nicht mit einem etablierten Parteiapparat anzutreten, sondern mit seiner über das Internet aufgebauten Bewegung En Marche, ein gelungenes Beispiel horizontaler Demokratie sei das. Und damit werde Macron nicht nur die Präsidentschafts-, sondern auch die nächste Parlamentswahl gewinnen. Zumal seit dem TV-Duell zwischen Macron und seiner rechtsextremen Kontrahentin Marine Le Pen viele Franzosen schockiert seien über das aggressive Auftreten der Front National-Kandidatin. Cohn-Bendit über le Pen: "Die ist nicht ganz dicht."
Daniel Cohn-Bendit wurde als Sohn emigrierter deutscher Juden 1945 in Montauban/ Frankreich geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Frankfurt/Main, danach studierte er in Paris. Als einer der Wortführer der Studentenproteste 1968 wurde er von der französischen Regierung ausgewiesen und schloss sich der Frankfurter Sponti-Bewegung an. Ab 1978 Engagement bei den Grünen, 1994-2014 Europaabgeordneter, abwechselnd für die deutschen und französischen Grünen. Umfangreiche publizistische Tätigkeit.
Das gesamte Gespräch:
Deutschlandfunk Kultur: Frankreich vor der Stichwahl – Tacheles heute aus Paris mit Jürgen König und Daniel Cohn-Bendit. Seien Sie gegrüßt.
Daniel Cohn-Bendit: Guten Tag!
Deutschlandfunk Kultur: Daniel Cohn-Bendit, Publizist und Politiker, er wuchs in Frankreich auf, erlebte die Pariser Studentenunruhen im Mai 1968 nicht nur mit, sondern sorgte selber für erhebliche Unruhe als Sprecher und Führer dieser Pariser Mai-Revolution, und zwar so sehr, dass er von der französischen Regierung des Landes verwiesen wurde. Daniel Cohn-Bendit zog nach Frankfurt am Main. Heute ist er ebenso deutscher wie französischer Staatsbürger, ist ebenso Mitglied von Bündnis 90/ Die Grünen wie von Europe Écologie – Les Verts in Frankreich.
Daniel Cohn-Bendit war zwanzig Jahre lang Mitglied des Europäischen Parlaments. Bei Wikipedia steht, dass er sich, Zitat, "2014 aus der aktiven Politik zurückzog". Aber das ist natürlich völlig falsch. Einen Daniel Cohn-Bendit, der nicht politisch aktiv ist, kann man sich nicht vorstellen. Und gerade jetzt ist er politisch außerordentlich aktiv unterwegs für den unabhängigen Kandidaten für die französische Präsidentschaft, Emmanuel Macron.
Herr Cohn-Bendit, es heißt immer, Sie würden ihn "unterstützen". Das liest sich immer so schön. Was genau machen Sie für Macron?
Daniel Cohn-Bendit: Also, unterstützen? Ich habe sehr früh gesagt, dass er große Chancen hat zu gewinnen, vor Monaten, als er anfing seine Bewegung zu gründen. Unterstützen bedeutet, ich habe ihn des Öfteren getroffen. Wir telefonieren manchmal miteinander. Und wir tauschen uns aus und er fragt mich, was ich zu bestimmten Punkten denke und von der Situation. Das sage ich ihm. Er macht sich Notizen oder nicht. – Und das ist es.
Zweitens, in der Öffentlichkeit erkläre ich, argumentiere ich, warum ich glaube, dass er, wenn man sich die politischen Angebote ansieht, die auf dem Markt waren, dann ist er der Beste.
Deutschlandfunk Kultur: Er hat ja sehr gute Chancen die Wahl zu gewinnen. Er braucht und sucht Personal für seine Regierung. Hat er Sie schon gefragt, ob Sie mitmachen wollen?
Daniel Cohn-Bendit: Nein, hat er nicht. Er hat gesagt, er will die Erneuerung. Er will hier nicht mit einem 73-Jährigen – 72-, 73-Jährigen – in die Regierung. Nein.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ein Daniel Cohn-Bendit als zuständig für deutsch-französische Beziehungen, das könnte ich mir schon gut vorstellen.
Daniel Cohn-Bendit: Ja, das ist alles gut. Ich weiß, die Journalisten träumen oft davon. Das ist eine Frage, die mir oft gestellt wird. Nein! Das ist nicht mein Leben. Ich will weder Minister noch dies. Ich will nicht in eine Regierung. Ich will argumentieren. Und wenn ich dann mit ihm nicht einverstanden bin, wenn er Präsident ist, dann werde ich es genauso sagen. Also, keine Angst, ich werde nichts.
Deutschlandfunk Kultur: Macron ist ein leidenschaftlicher Europäer. Wenn wir schon beim Deutsch-Französischen sind, er hat von Anfang an gesagt, ich glaube, er war einer der Wenigen, wenn nicht der Einzige, der das so klar gesagt hat, dass Frankreichs Zukunft nur innerhalb des europäischen Rahmens gedeihen kann. Er sucht besonders die Nähe zu Deutschland, ein Land, das in den Augen nicht weniger Franzosen innerhalb der EU zu dominant ist, viel zu dominant ist, mit seinen großen Handelsüberschüssen ein auskömmliches Miteinander der EU-Länder schwer macht.
Welche Herangehensweise würden Sie einem Emmanuel Macron empfehlen? Was müsste Deutschland wiederum tun, um einem Präsidenten Macron, den in Deutschland ja jetzt schon alle bejubeln, auch helfen zu können?
Europäische Fahnen in einer Präsidentschaftswahl
Daniel Cohn-Bendit: Es gibt zwei Dimensionen. Erstens haben Sie völlig Recht: Nicht nur von seiner Position aus hat er die Notwendigkeit Europas, die Notwendigkeit europäische Souveränität zu stärken, um die nationale Souveränität schützen zu können, sehr früh ausgesprochen. Das ist sein Credo, eines seiner Credi. Aber noch dazu: Bei seiner ersten großen Kundgebung, die er gemacht hat, war das Überraschende die europäischen Fahnen. Das ist das erste Mal, dass in einer französischen Präsidentschaftswahl europäische Fahnen zu sehen waren. Das gab es vorher noch nie.
Deutschlandfunk Kultur: Auch bei Hollande gegen Sarkozy – niemals?
Daniel Cohn-Bendit: Auch bei Hollande, bei Sarkozy, nie, nie, nie! Das war die Überraschung. Das ist nicht nur eine inhaltliche, das ist eine starke symbolische Geste, die in Frankreich nicht so einfach ist. Denn, Sie können sich erinnern, 2005 wurde ja der Verfassungsentwurf abgelehnt. Und von den elf Kandidaten waren neun euro-skeptisch beziehungsweise zehn haben argumentiert von den elf, die dann im ersten Wahlgang waren, gegen den Verfassungsvertrag.
Das heißt, er riskiert auch was mit Europa. Es ist nicht so: Europa ist ganz toll und so einfach, sondern er hat eine politische Position. Die verteidigt er in einer euro-skeptischen Stimmung in Frankreich. Das ist das erste.
Zu Deutschland: Die Kritiker oder die, die ihn angreifen in Frankreich, machen einen Fehler. Es wird ja immer gesagt, wir müssen gegen Deutschland dies und jenes machen. Und er hat gesagt: Wir müssen mit Deutschland.
Das heißt, er hat verstanden, und das war schon in seiner Humboldt-Rede in Berlin, wenn man genau zugehört hat. Er hat gesagt: "Wir müssen wieder Vertrauen herstellen." Das heißt, wir Franzosen haben bestimmte Reformen zu machen, damit die französische Wirtschaft sich öffnen kann oder sich entwickeln kann. – Gleichzeitig, das ist sein Credo, en même temps, was belächelt wurde, das eine machen und gleichzeitig das andere auch in Angriff nehmen.
Und das Gleichzeitige ist: Er wird Deutschland klarmachen, er wird Frau Merkel klarmachen, er wird Herrn Schäuble klarmachen, sie tragen mit eine Verantwortung an der euro-skeptischen Stimmung und – das sieht man in den Wahlergebnissen, die stimmen für Marine Le Pen, die stimmen für Jean-Luc Mélenchon, extrem links – mit ihrer Politik.
Mit Deutschland die Politik in Europa verändern
Das heißt, er will "mit" Deutschland, denn nur so geht es, die Politik in Europa verändern. Er will eine Eurozone, die investieren kann, soziale Konvergenz endlich in Angriff nehmen. Er will eine demokratische Kontrolle der Eurozone und er will gleichzeitig mit Deutschland an die Ungleichheit, an die Unwuchten, die es in Europa gibt, ran.
Deutschlandfunk Kultur: Er will eine gemeinsame europäische Energiepolitik, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, die Eurozone haben Sie schon erwähnt, mit einem eigenen Budget. Diese Ideen gibt es ja alle schon länger. Und dass das alles noch nicht so verwirklicht wurde, zeigt ja, wie schwer es ist. – Für wie machbar halten Sie diese kühnen Pläne?
Daniel Cohn-Bendit: Also, ich glaube, wenn die alle nicht auf den Kopf gefallen sind, und ich schätze, dass Frau Merkel, Herr Schäuble – ich weiß nicht, ob Herr Schäuble weiter Finanzminister sein wird ...
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben auch noch Wahlen in Deutschland. Das kommt ja erschwerend noch hinzu oder vielleicht auch doch erleichternd.
Daniel Cohn-Bendit: Genau. Da haben Sie Recht. Denn es ist egal. Aber ich glaube, es wird eine Große Koalition geben. Und mit einer Großen Koalition – Schulz, SPD – wird Europa nicht das Problem sein.
Das heißt, wenn sie nicht alle auf den Kopf gefallen sind, sehen sie ja, dass sie eine Politik machen müssen, die die Menschen anders erreicht, eine europäische Politik. Das heißt, die Frage von Investitionen, von Solidarität, die Frage, wie regelt man das mit den Schulden, muss in Angriff genommen werden. Das wissen alle. Frau Merkel wird vor dem September wahrscheinlich nicht viel machen, aber es ist ganz klar, davon bin ich überzeugt, dass der Rhythmus in Europa zunehmen wird nach der Bundestagswahl. Da bin ich überzeugt.
Und Macron muss sich vorbereiten, wird sich vorbereiten, wird einige Reformen sogar in Angriff genommen haben in Frankreich, wo er dann Frau Merkel sagen wird: "So, jetzt müssen wir gemeinsam. Wir können nicht stehenbleiben." Dieser berühmte Spruch "Europa ist wie Radfahren", wenn man stehen bleibt, fällt man um, ist heutzutage noch wichtiger.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist Macron ja noch nicht Staatspräsident. Kommen wir mal zurück auf den Kandidaten Emmanuel Macron. Seine Bewegung "En Marche" gibt es seit gut einem Jahr. Er hat sie praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Inzwischen hat En Marche etwa 250.000 Mitglieder, mehr als die Sozialistische Partei Mitglieder hat. Es ist doch eigentlich ein Wunder, dass Macron es gleich im allerersten Anlauf bis in die Stichwahl geschafft hat mit den Chancen, die er hat. – Wie hat er das erreicht?
Daniel Cohn-Bendit: "Wunder" ist nicht schlecht. Man hat den Eindruck, also, wenn man ihn belächeln will, sagt man, das ist so wie Moses, der aufs Wasser zugeht, und dann teilt sich das Wasser.
Deutschlandfunk Kultur: Ein bisschen entsteht der Eindruck in der Tat.
Daniel Cohn-Bendit: Es ist ganz witzig. Also, er hat eine Chuzpe gehabt. In einem bestimmten Moment hat er etwas, und das scheint man in Frankreich zu brauchen, wenn man Staatspräsident werden will, er war überzeugt, dass er die Fähigkeit hat, als Staatspräsident Frankreich endlich zu reformieren. Mit dieser inneren Überzeugung ...
Deutschlandfunk Kultur: Die hat er wirklich?
Horizontale Demokratie mit einem Kandidaten
Daniel Cohn-Bendit: Ja, die hat er. Darüber haben wir des Öfteren gesprochen. Das ist das, wo ich staune. Ich mache auch Witze darüber, auch mit ihm. Aber man braucht diese Überzeugung. Er hätte so einen Wahlkampf nicht durchgestanden ohne diese innere Überzeugung, die Überzeugung seiner Fähigkeit.
Dann haben Sie diese geniale Idee. Das muss man erklären. Er hat nicht mal eine Partei gegründet. Er hat gesagt: "Passt mal auf. Ich mache eine Internetplattform und ihr könnt mitmachen. Ihr klickt euch ein. Und dann habt ihr horizontal alle Informationen der Bewegung." – Das heißt, wenn Sie in irgendeinem Städtchen, in irgendeinem Stadtviertel in Paris oder in einer anderen Stadt sind, können Sie rein klicken und sehen, wer in ihrer Umgebung En Marche ist. Und ihr könnt selbständig dann handeln.
Das ist eine komische Organisationsform, horizontale Demokratie mit natürlich einem Kandidaten, der darüber steht. Das ist die Gefahr einer autoritären Struktur, längerfristig. Das heißt, die Umwandlung nach der Wahl, nach den Wahlen zum Parlament, die gleich danach kommen werden im nächsten Jahr, das wird die große Aufgabe für En Marche sein.
Deutschlandfunk Kultur: Darauf kommen wir nachher noch. – Ist das, was wir erleben, eine Revolution?
Explosion der politischen Landschaft in Frankreich
Daniel Cohn-Bendit: Das ist eine radikale Veränderung. Das ist eine Explosion der politischen Landschaft in Frankreich. Und dann hat er sich entschieden und hat das Glück herausgefordert. Denn er hatte auch Glück, unwahrscheinliches Glück.
Deshalb: Er hat sich entschieden, En Marche entwickelt sich, viele Leute glauben nicht dran. Dann sagt Hollande, "ich werde nicht kandidieren". Dann kommt Fillon, gewinnt die Vorwahlen bei den Rechten. Alle haben gesagt, "der ist Staatspräsident und wir gehen nach Hause, wir kommen wieder, wenn alles vorbei ist". – Dann kommen die Affären und dann verliert Fillon. Und dann ist plötzlich Emmanuel Macron im Zentrum der ganzen Veränderungen der politischen Landschaft.
Und wenn er dann noch, ob absolute Mehrheit, aber stärkste parlamentarische Fraktion wird, die sich andeutet jetzt in Umfragen, dann muss ich sagen, es war schon genial, es ist schon genial, was er macht.
Deutschlandfunk Kultur: Erinnert Sie das manchmal, was jetzt gerade passiert, an Ihre Versuche, die Gesellschaft zu verändern 1968? Ich meine, da gab's ja auch das Ziel, die Regierung von Staatspräsident de Gaulle zu stürzen. Also, auch da gab's ja, es war ja nicht irgendwie eine Demonstration, da ging es um sehr, sehr viel. – Gibt's manchmal in Ihrem Kopf Parallelen, die entstehen, Entsprechungen. Sprechen Sie mit Monsieur Macron über so was?
Daniel Cohn-Bendit: Ja. Aber der Unterschied ist, die ganze Bewegung spitzte sich zu dann zum Generalstreik. Und wir waren aber politisch nicht vorbereitet. Wir hätten dann einen bestimmten Höhepunkt mitgestalten müssen, eine politische Alternative zu den Kommunisten und zu de Gaulle. Das wollten wir nicht. Wir waren die, die sagen, "Wahlen sind nicht die Lösung der Probleme". Und deswegen waren wir politisch schwach. Und die Intelligenz von de Gaulle war durch diese Parlamentswahlen zu sagen: "Die Alternative ist zwischen den Kommunisten und mir." Die Kommunisten, das waren die Stalinisten, das war die dunkelste Zeit der Sowjetunion, also nicht stark.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn ich einmal unterbrechen darf: Sie haben damals gesagt: Die organisierte Avantgarde, und das haben Sie gesagt mit Bezug auf die Kommunisten, mit einer organisierten Avantgarde könne man nicht die Gesellschaft verändern. Das ginge nur mit der "unkontrollierten Spontaneität".
Daniel Cohn-Bendit: Genau. Das war der Fehler. Die Spontaneität schafft eine Bewegung. Diese Bewegung hat das Bewusstsein vieler Franzosen verändert. Aber das wurde dann nicht wieder aufgefangen in einer politischen Artikulation, die sich dann bei den Wahlen durchsetzen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Und wenn Sie das jetzt auf Macron beziehen?
Eigenständige grüne Bewegung
Daniel Cohn-Bendit: Dann gibt es einen zweiten Fehler, den wir gemacht haben, also ich gemacht habe. Dann haben wir bei der Europawahl 2009 einen Riesenwahlerfolg, 16 Prozent. Und da haben wir nicht die Fähigkeit gehabt, das, was er gemacht hat mit En Marche, eine eigenständige – raus aus diesen traditionellen Grünen – eine eigenständige grüne offene Bewegung zu machen, wie er mit einer Internetplattform. Das hatten wir angedacht. Es ist aber im Kern erstickt worden, sodass wir keine Alternative zur etablierten politischen Landschaft durchsetzen konnten.
Es ist nicht eine Revolution, aber das Revolutionäre ist, dass er die ganzen Schritte so vollzogen hat, dass die politische Landschaft, die traditionellen politischen Parteien, die Frankreich fünfzig Jahre lang, sechzig Jahre lang regiert haben, plötzlich beiseitegeschoben werden. – Und das ist, muss ich sagen, beeindruckend.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Cohn-Bendit, die Aufgaben, vor denen ein Präsident Macron stehen würde, sind enorm. Bei einer Arbeitslosigkeit von etwa zehn Prozent den Sozialstaat umbauen, das ganze Wirtschaftssystem neu justieren, liberalisieren – die Demonstrationen gegen solche Versuche haben wir im letzten Jahr hier in Frankreich schon erlebt. Das Ausbildungssystem ist wenig effizient, wird den Anforderungen des digitalen Zeitalters nicht gerecht, muss auf neue Füße gestellt werden, und das alles in einem Land, in dem es große Angst vor der Zukunft gibt ganz allgemein.
Noch mal die Frage: Sie haben gesagt, Emmanuel Macron habe schon die innere Überzeugung, Staatspräsident sein zu können. Das heißt auch, dass er wirklich weiß, was er da macht und in welchem Maße er Hoffnungsträger werden wird für die einen mit unglaublichen Erwartungen an ihn, zumal er auch wirklich alleine auf weiter Flur steht und andererseits er auch eine große Hassfigur für viele sein wird? Aber darauf kommen wir vielleicht noch mal später, zuerst mal diese Heilsbringer-Geschichte, die sich mit ihm verbindet. Das ist doch eine unglaubliche Belastung.
Daniel Cohn-Bendit: Also, Sie sprechen in der Tat eine richtige Gefahr an. Eines der letzten Male, das war vor einem Monat, wo ich ihn getroffen habe, ich war mit einem Freund, wir waren bei ihm und als wir raus kamen, haben wir beide gesagt: Zum ersten Mal haben wir gemerkt, dass so ein Gewicht auf seinen Schultern anfängt, ihm Schwierigkeit zu bringen. Also, er spürt jetzt, dass er etwas herausgefordert hat, was eine unheimliche Energie und eine Politikfähigkeit benötigt. Und natürlich ist er da nicht immer sicher ...
Deutschlandfunk Kultur: Was ihn ja geradezu sympathisch macht.
"Frankreich ist sehr schwer zu reformieren"
Daniel Cohn-Bendit: Ja, eben, dass er eine Maschine ist und genau alles vorprogrammieren kann. Sie haben Recht. Frankreich ist sehr schwer zu reformieren. Am Anfang wird er ein, zwei Signale setzen müssen. Sie haben von Liberalisierung gesprochen. Die Liberalisierung der Wirtschaft wird nur funktionieren, wenn er die Sicherheit für die Menschen auch stärkt. Das heißt, das nennt man auf gut Deutsch "flexy security". Das ist das, was sie in Dänemark gemacht haben. Und das ist wichtig für Frankreich.
Sie werden einen Teil der französischen Gesellschaft nur dann mitnehmen, wenn Sie das Gleichgewicht zwischen notwendiger Flexibilisierung des Arbeitsmarkts mit einem Sicherheitsnetz für die, die es nicht schaffen, verbinden. Und das muss gleichzeitig sein. Das kann nicht nacheinander sein. Und das kann nicht so plump wie Hartz IV sein. – Das ist die Schwierigkeit. Das muss er beweisen. Das ist der erste Punkt.
Und der zweite Punkt ist in dieser ganzen Auseinandersetzung: Wie schafft er die ökologische Transformation? Die Energiewende, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass wir eine europäische Energiewende ... Das heißt, er will, alle sollen nicht immer alle das Gleiche machen. Er will die Atomenergie reduzieren in Frankreich, schwer genug, und gleichzeitig die Entwicklung erneuerbarer Energien, weniger Energie konsumieren – das alles in einem Land, wo die kleinsten Schritte, zum Beispiel eine Ökosteuer, so bekämpft werden. Er muss also zeigen, dass er die Arbeit entlastet, also den Steuerdruck auf die Arbeit entlastet und das verlagert auf die ökologische Steuer.
Das sind, wenn man will, die Schritte von Hokuspokus, die er machen muss, um der französischen Gesellschaft mehr Sicherheit zu geben.
Deutschlandfunk Kultur: Nun sind ja viele Franzosen außerordentlich misstrauisch, um es mal vorsichtig zu formulieren. Da bin ich bei der Hassfigur. Der radikal Linke, Jean-Luc Mélenchon, Sie haben ihn schon erwähnt, hat dieser Tage für erhebliche Aufregung gesorgt durch seine Weigerung, eine konkrete Wahlempfehlung für Macron auszusprechen. Er hat gesagt, es gelte, unbedingt den Front National zu verhindern, aber er hat eben nicht gesagt, "wählt bitte Herrn Macron", sondern er hat nur gesagt, man müsse Frau Le Pen verhindern.
Woher kommt dieser Hass? Ich habe lange an diesem Wort auch herum gedacht. Ist das wirklich Hass oder nicht? Aber ich kam letztlich dazu doch. Viele hassen ihn regelrecht. – Warum?
Liberalismus - in Frankreich ein Teufelsbegriff
Daniel Cohn-Bendit: Ja, ja, weil es in Frankreich eine Teufelsfigur gibt oder einen Teufelsbegriff. Das ist Liberalismus.
Deutschlandfunk Kultur: Der ja keine Tradition hat in Frankreich, überhaupt keine.
Daniel Cohn-Bendit: Er hat keine Tradition. Deswegen wird Macron als neoliberal ... Wenn Sie neoliberal gesagt haben, brauchen Sie gar nix zu erklären.
Deutschlandfunk Kultur: Und Frau Le Pen wird ja nicht müde, von neo- und ultraliberal und so weiter ...
Daniel Cohn-Bendit: Und zweitens, was in Frankreich absolut nicht geht, ist eine Idee der Notwendigkeit von Kompromissen – auch zwischen den Sozialpartnern. Kompromiss heißt, sich kompromittieren. Diese beiden Momente, die er ja radikal verkörpert, er verkörpert nicht einen Neo-Liberalismus, sondern eine neue Idee einer solidarischen Politik, die fußt auf einer funktionierenden Wirtschaft. Und zweitens die Notwendigkeit, in der Gesellschaft Kompromisse einzugehen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, zwischen politischen Kräften, das war in Frankreich bis jetzt ein Tabu.
Weil er diese Tabus aufbricht, wird er gehasst. Auch viele Kommentatoren haben Schwierigkeiten, ihn zu fassen. Es wird immer gesagt, "er kann sich nicht entscheiden zwischen links und rechts", was dümmlich ist. Er sagt: "Es gibt Vorschläge, die liberal, sozial, die rechts sind, die Sinn machen, wenn sie einhergehen mit einer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, die von links kommt." Und diese beiden Momente versucht er zusammenzubringen. Und da erstaunen die Leute und sagen, das kennen wir nicht. Und dann hassen sie ihn.
Sie hassen ihn, weil er ihnen eigentlich am Ende andeutet: Eure politischen Vorstellungen sind von gestern und vorgestern.
Deutschlandfunk Kultur: Ich meine, man muss ja auch sehen, dass ja eigentlich die gesamte französische politische Welt implodiert. Wenn man bedenkt, noch vor einem Jahr, wen gab es da alles noch? Nikolas Sarkozy, Alain Juppé, François Hollande, François Fillon, alles potenzielle Präsidentschaftsanwärter. Sie sind alle weg, auch aus der politischen Landschaft verschwunden. Und sie werden es wohl auch bleiben.
Nebenbei gefragt: Hinterlässt das eigentlich ein Vakuum? Auch die Parteien, die großen, sind ja implodiert, heißt es immer. Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, aber sie sind schon größter Irritation, müssen sich auch komplett neu sortieren. Es ist ja schon ein enormes Erdbeben, was Frankreich da derzeit erlebt.
Daniel Cohn-Bendit: Absolut. Da haben Sie Recht. Vakuum? Man wird sehen, wie En Marche dieses Vakuum ... Er hat behauptet, "die machen das, das weiß ich". Die Hälfte seiner Kandidaten für die Parlamentswahlen, also es gibt 577, glaube ich, Parlamentarier, also die Hälfte, werden Kandidaten sein, wie er sagt, aus der Zivilgesellschaft, also Kandidatinnen und Kandidaten, die noch nie Politik gemacht haben, sagen wir, nie Politik im traditionellen Sinn gemacht haben. Das ist schon mal eine Riesenprovokation.
Und das andere ist, das politische Personal muss sich daran gewöhnen, dass sie nicht so einfach – links oder rechts – immer Nein sagen können, die anderen. Weil, vieles wird etwas sein, was sie kennen, wo sie sagen, "das ist ja richtig, aber das wollen wir nicht". Aber die anderen wollen das. Das heißt ...
Deutschlandfunk Kultur: … was diese Kompromissfähigkeit wieder herbeiführen könnte.
Daniel Cohn-Bendit: ... die Kompromissfähigkeit. Ich glaube, das braucht Frankreich. Das ist eine politische Kulturrevolution, die notwendig war in Frankreich. Man lästert mit Recht in Deutschland über die Große Koalition, weil es Stillstand bedeuten kann. In Frankreich werden die verschiedenen Koalitionen, die möglich sein werden, auf alle Fälle Bewegung bedeuten in einem Land, wo praktisch alle politischen Kräfte in den Schützengräben sich versteckt haben.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben die Parlamentswahlen in unserem Gespräch erreicht. Sie sind mindestens so wichtig wie die Präsidentschaftswahlen. Das französische Parlament wählt den Ministerpräsidenten. Hat die Partei des Staatspräsidenten keine eigene Mehrheit, muss er unter Umständen mit einem ...
Daniel Cohn-Bendit: Es muss ihm die Mehrheit geben. Ernannt wird er vom Staatspräsidenten.
Deutschlandfunk Kultur: Gut. Es muss ihm die Mehrheit geben. Sie haben Recht. Aber sie wählen ihn. Also, der parlamentarische Akt findet schon auch statt.
Daniel Cohn-Bendit: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Hat die Partei des Staatspräsidenten keine eigene Mehrheit, muss sie mit möglicherweise einem Premierminister aus den Reihen der Opposition zusammenarbeiten, diese sogenannte Cohabitation. Es hat mehrere Beispiele, auch langjährige Beispiele solcher Formen der Zusammenarbeit gegeben. – Wie weit ist die En Marche auf dem Weg zu einer Partei, zu geschlossenen Strukturen, die dann auch wirklich diesen Namen Partei verdienen und vielleicht auch irgendwann auch wirklich übernehmen?
"Das Mehrheitswahlrecht ist ungerecht"
Daniel Cohn-Bendit: Also, ich glaube, die überbrücken diese Phase jetzt für die Parlamentswahl. Die werden nach dem Sonntag, also am 8. Mai, werden sie nicht Partei sein. Grundsätzlich werden da 577 Kandidaten sein. Und jetzt muss man wissen: Er hat das Glück, etwas zu haben, was ich hasse, nämlich das Mehrheitswahlrecht. Ich bin ja für ein Verhältniswahlrecht. Ich finde das ungerecht. Das Mehrheitswahlrecht ist ungerecht, weil Minderheiten können sich nicht durchsetzen.
Aber oder gleichzeitig, bei dieser Wahl, sagen wir, die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen nach einer Präsidentschaftswahl geht um zwanzig Prozent zurück, die die verloren haben, sind enttäuscht. Die mobilisieren sich weniger. Man versucht es immer mit dem gleichen Argument der Revanche, der Rache, aber das funktioniert bis jetzt nie.
Das heißt, es gibt einen Vorschuss für die Kandidaten, die unter dem Begriff Präsidentenmehrheit – majorité présidentielle – da gibt's immer einen Vorschuss. Und zweitens können im zweiten Wahlgang die beiden ersten und andere als Kandidaten bleiben, wenn sie 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis erreicht haben – 12,5 Prozent der Eingeschriebenen bei sechzig Prozent Wahlbeteiligung kommt ungefähr auf mindestens 20, 21 Prozent.
Das heißt, Emmanuel Macron, der 24 Prozent beim ersten Wahlgang hatte, wenn Sie das jetzt umrechnen auf eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent anstatt 78, 79, kommt ungefähr auf 30, 32 Prozent. In dieser Mehrheitslogik wird Emmanuel Macron stärkste Fraktion im Parlament sein. Die erste große Berechnung, die gemacht wird, er hat zwischen 250 und 289 Sitzen, also knapp unter der absoluten Mehrheit. Dahinter sind die traditionelle Rechte mit 210 Sitzen ungefähr und danach bricht alles zusammen: Die radikale Linke 20, Marine Le Pen 20 und die Sozialisten zwischen 19 und 40. Das sind Größenordnungen. Das heißt, ich glaube schon, dass er ...
Deutschlandfunk Kultur: Aber ich muss mal sagen: Das "könnte" so kommen. Es wird nicht so kommen. Oder wie verlässlich sind die Prognosen? Jetzt schauen Sie so, als ob das schon so gut wie sicher ist.
Daniel Cohn-Bendit: Nee, sicher ist es nicht. Aber es hat mich überrascht, wie klar diese Prognose ist. Es kann jetzt ein bisschen weniger sein. Es kommt drauf an, wie jetzt die Dynamik nach dem zweiten Wahlgang weitergehen wird. Und, da müssen wir wieder die Debatte vom letzten Mittwoch zwischen ihm und Marine Le Pen sehen, das hat schon unheimlich viele Leute schockiert, also das Verhalten von Marine Le Pen. Und ich glaube ...
Deutschlandfunk Kultur: ..., die sehr aggressiv war, sehr oft unterbrochen hat, die letztlich auch wirklich verantwortlich dafür gesorgt hat, dass ein Gespräch im klassischen Sinne gar nicht zustande kam.
"Le Pen ist nicht ganz dicht"
Daniel Cohn-Bendit: Die war verrückt. Die ist nicht ganz dicht. Es tut mir leid. Wie sie da gehandelt hat, also, sie war eine Kreuzung zwischen Trump, ihrem Vater Jean-Marie Le Pen und dann gibt's in Frankreich noch einen anderen, der so agiert hat, das ist Georges Marchais, der kommunistische Führer. Sie war eine Kreuzung dieser drei Männer. Und das war unerträglich. Von der ersten Minute an ist man erstickt und hat gesagt: Diese Frau, die soll Staatspräsidentin werden? Also, das war so unfassbar!
Ich war mit vielen Freunden und die Frauen unter uns haben sich geschämt. Vielleicht irre ich mich. Aber was die Konsequenzen dieser Debatte sein werden in der französischen Gesellschaft, können wir am Freitag, Samstag noch nicht genau messen.
Dieses Land kann sich im Grunde genommen nicht entscheiden zwischen es soll was passieren oder es soll alles beim Alten bleiben. Frankreich ist ein ganz merkwürdiges Land. Aber das gilt für alle Länder. Die Mehrheit der Menschen will Veränderungen, Reformen, die notwendig sind, wenn sie sie selbst nicht betreffen. Das ist der Widerspruch. Das ist die Schwierigkeit, wenn man dann Regierungschef sein will. Wie bricht man diesen Widerspruch? Bricht man ihn, um wirklich Bewegung in einer Gesellschaft durchsetzen zu können?
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie sind optimistisch, habe ich den Eindruck?
Daniel Cohn-Bendit: Was bleibt einem anderes übrig? Ich kann ja jammern. Man kann sich hinstellen und jammern: "Es ist so schwer, und so weiter". Das bringt einen nicht voran.
Ja, Emmanuel Macron hat Potenzial es zu schaffen. Wenn Sie mich fragen, sind Sie sicher, sage ich: Nein.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank. Herr Cohn-Bendit, danke dass Sie da waren.
Daniel Cohn-Bendit: Bitte sehr.