Kommentar: Iran-Proteste

Der westliche Trugschluss über das Ende der Revolution

Proteste im Iran: Von hinten ist eine Frau zu sehen, sie trägt kein Kopftuch und reckt ihren Arm in die Höhe: Neben ihr brennt ein Feuer.
Proteste der iranischen Demokratiebewegung 2022: Der Tod der Studentin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam löste die Demonstrationen mit aus. © picture alliance / AP / Uncredited
Einschätzungen von Ali Fathollah-Nejad · 09.10.2023
Über Monate protestierten Iranerinnen und Iraner. Nun wirkt es so, als habe das Regime die Ordnung wiederhergestellt. Das sei eine Fehleinschätzung des Westens, meint Politologe Ali Fathollah-Nejad. Er sieht das Land in einem revolutionären Prozess.
Vor einem Jahrzehnt urteilten westliche Medien und Experten, dass der Arabische Frühling zu einem Arabischen Winter verkommen sei: Bestrebungen nach Demokratie hätten ihr jähes Ende mit der Restauration dortiger Diktaturen gefunden. Im vergangenen Jahr dominierte dieselbe saisonale Lesart die westliche Wahrnehmung – und das politische Kalkül – gegenüber den Geschehnissen in Iran.

Das Ende des Arabischen Frühlings?

Als zum Jahreswechsel die Straßenproteste abflauten und die Islamische Republik die endgültige Niederschlagung der sogenannten „Unruhen“ verkündete, übernahm der politische Westen diese Einschätzung, um sodann zur Tagesordnung überzugehen und Gespräche mit dem Regime wiederaufzunehmen. Dabei haben wir es mit einem Trugschluss zu tun, der jene Entwicklungen saisonal betrachtet, anstatt sie als langfristige revolutionäre Prozesse zu begreifen.
Beim Arabischen Frühling entwickelte sich das weitverbreitete Klischee, dass dieser „eindeutig gescheitert ist“. Verwiesen wurde dabei auf die Wiederherstellung des Autoritarismus.

Ein revolutionärer Prozess in Iran

Die saisonale Lesart wurde durch das Auftreten einer zweiten Welle des „Arabischen Frühlings“ 2018/19 widerlegt – just in Staaten, die von der ersten Welle noch verschont blieben. Mit anderen Worten: Der saisonale Blick hat uns für den „langfristigen revolutionären Prozess“ blind gemacht. So verschwand die zweite Welle vom Radar unserer Aufmerksamkeit und lud unsere Politik zum business as usual mit den dortigen Potentaten ein.
Leugnen kann man nicht, dass die Volkserhebungen auf heftige Widerstände und autoritäre Gegenwehr stoßen. Oft vernachlässigt wird die Tatsache, dass die revolutionären Prozesse im Nahen Osten durch eine strukturelle Krise genährt werden: politischer Autoritarismus, der den Weg für dringend nötige Reformen und Mitsprache versperrt, und sozioökonomisches Elend, das den Großteil der Bevölkerung beutelt.
Im Fall Irans vertraten westliche Politiker die gleiche Sichtweise wie das Regime, dass die Demokratiebewegung besiegt wurde. Genau zu diesem Zeitpunkt hatten die USA mit Unterstützung der EU – trotz gegenteiliger öffentlicher Bekundungen – erneut Gespräche mit Teheran aufgenommen und damit ihren Willen bekräftigt, mit einem Regime, das für die allermeisten Iraner jegliche Legitimität verloren hatte, zur Tagesordnung zurückzukehren. Das Regime selbst jedoch hat diesen Aufstand – zurecht – als die bisher größte Gefahr für sein Überleben eingestuft.
Die Episode zeigt die politische Brisanz dieser bequemen saisonalen Betrachtungsweise, die politische Alternativen bewusst ausblendet.

Vorliebe für autoritäre Stabilität im Nahen Osten

Heute nun wird von einer neuen autoritären Ordnung im Nahen Osten gesprochen, die eine Ära autoritärer Stabilität einläuten soll: mit Verweis auf autoritäre Arrangements, wie die Wiederaufnahme Assads in die Arabische Liga, die Entspannung zwischen Teheran und Riad, sowie die Vorliebe für autoritäre Stabilität im Nahen Osten seitens aller Großmächte, ob autoritär oder demokratisch.
Der saisonale Trugschluss erinnert an das lange Zeit vertretene Paradigma der Robustheit des nahöstlichen Autoritarismus – welches mit dem plötzlichen Ausbruch und Dominoeffekt des Arabischen Frühlings wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.
Es gibt auch wenig Indizien, dass dortige Diktaturen ihre strukturellen Krisen durch engere Anbindung an Peking und Moskau lösen könnten. So ist bei genauerem Hinsehen die neue Ära autoritärer Stabilität fragiler als vermutet – und zwar solange die Strukturkrisen andauern. Ohne tiefgreifende, ja revolutionäre Veränderung wird unsere Nachbarregion wohl in einem instabilen, tumultreichen Teufelskreis aus Aufruhr und Repression gefangen bleiben. Das Ablegen der saisonalen Brille kann unsere Außenpolitik befähigen, besser auf künftige Schocks durch den Fortgang dieser revolutionären Prozesse vorbereitet zu sein.

Ali Fathollah-Nejad ist ein deutsch-iranischer Politologe mit Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten (insbesondere Iran), westliche Außenpolitik und post-unipolare Weltordnung.

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