Knut Hamsun: "Hunger"
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Männlich, beleidigt und voller Hass
05:49 Minuten
Knut Hamsun
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
HungerManesse, München 2023256 Seiten
25,00 Euro
Knut Hansums Roman "Hunger", der nun neu übersetzt wurde, ist ohne Frage ein Klassiker. Doch was für einer? Der hungernde, vagabundierende Protagonist des Werks gibt uns bis heute Rätsel auf.
Wenn der moderne Roman wirklich, wie der jiddischen Schriftsteller Isaac Bashevis Singer auf dem Rücken der Neuausgabe zitiert wird, mit Knut Hamsun und “Hunger” beginnt, dann steht diese Form auf beeindruckend wackelnden Beinen. Bei den großen modernistischen Meisterwerken, die von Hamsun auf die eine oder andere Weise geprägt sind, geht es um viele Dinge auf einmal, das weiß nicht nur die Literaturwissenschaft.
“Hunger” hingegen ist ein monomanisches Buch, das mit glühender Schärfe eine bestimmte Sache einfangen will. Doch über die Natur der Sache wird bis heute gestritten: Fängt diese Ich-Erzählung eines vagabundierenden jungen Intellektuellen im heutigen Oslo die spirituelle Unbehaustheit in der modernen Welt ein? Geht es um hilflosen Nationalismus in der Zeit der schwedisch-norwegischen Union? Eröffnet Hamsun einen literarischen Streit mit seinen Zeitgenossen? Oder geht es wirklich einfach nur um einen ganz unmetaphorischen Hunger?
Hamsun kannte die bittere Armut selbst
Hamsun jedenfalls griff direkte Armutserfahrungen auf. Er hatte mehrere Jahre in Amerika gelebt und war schließlich verstört nach Norwegen zurückgekehrt. Das Leben des Protagonisten im Roman - zwischen verschiedenen Unterkünften, gelegentlichen Aufträgen von Zeitungen, zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Überheblichkeit und extremen Hunger - war auch Hamsuns.
“Hunger” erzählt nicht von einem Fall, sondern einem Auf-und-ab, mit einem Erzähler, der mal mit und mal gegen den Strom schwimmt, sich mal als Heiliger fühlt und dann als Dämon.
Ob selbst erlebt oder stilisiert, Hamsun findet für diese Randexistenz immer noch sich einbohrende Bilder, wie jene berühmte Szene, in der der Erzähler buchstäblich vor die Hunde geht und in einem Hinterhof einen Knochen abnagt: “Ich weinte, dass der Knochen von den Tränen nass und schmutzig wurde, übergab mich, fluchte und nagte erneut, weinte, als würde mir das Herz brechen, und übergab mich wieder. Und verfluchte lauthals alle Mächte der Welt und wünschte sie in die Hölle.”
In ihrem klugen Nachwort schreibt Felicitas Hoppe, dass der Erzähler “zwischen Schuldzuweisung und Selbstanklage fortlaufend getriggert” durch die Welt läuft. Wir wissen nicht erst seit Theweleit, wozu sich diese emotionale Disposition mit Körperekel, Nihilismus und fast kindlichen Reinheitsphantasien, wie hier der Sehnsucht nach der märchenhaften Ylayali, leicht zusammensetzt. “Hunger” ist, in einer Lesart wenigstens, ein proto-faschistischer Roman.
Faschist und Hitlerverehrer
Dass Hamsun später zum realen Faschisten und Hitlerverehrer wurde, ist dabei nur zweitrangig. Wichtiger ist, warum Hamsun so angeekelt Amerika verlassen hat. Parallel zu “Hunger” erschien sein Bericht “Vom Geistesleben des modernen Amerika”.
Hamsuns Ekel bezog sich dabei nicht, wie der zuverlässig falsch liegende Karl Ove Knausgård in einer Hamsun-Hommage schreibt, auf den Konflikt zwischen Masse und Individuum. Hamsun störte sich an der Anwesenheit schwarzer Menschen, die er mit allerlei rassenwissenschaftlichen Invektiven belegte, von denen “Affe” noch die harmloseste ist.
All das ist kein Grund, “Hunger” nicht zu lesen, vor allem in der neuen Übersetzung durch Ulrich Sonnenberg. Denn Hamsun hat mit seinem Erzähler zehn Jahre vor der Jahrhundertwende eine Urfigur des 20. Jahrhunderts geschaffen.
Sie begegnet uns bei anderen Faschisten wie den Kollaborateuren Pierre Drieu La Rochelle und Louis-Ferdinand Céline, hat ihre Echos auch bei politisch Unverdächtigen wie Bruno Schulz oder B. Traven. Und schließlich hat sie ihre Wiederkehr in den Romanen von Christian Kracht und Bret Easton Ellis, dessen Grundproblem ist, dass er zu viel Essen auf dem Tisch hat. Mit der Hamsun-Liebe von Knausgård und dessen Romanzyklus “Min Kamp” schließt sich nur ein Kreis.
Am Ende heuert der Erzähler auf der “Copégoro” an, ein mysteriöser Name, der ein bisschen nach Koprophagie klingt, dem Verzehr von Fäkalien. Es geht nach Leeds, also ins Hamsun verhasste Albion.
Es wäre schön, sagen zu können, dass er unterwegs verschollen gegangen ist. Leider ist er immer noch unter uns: männlich beleidigt, von stiller Wut auf alles unwerte Fremde. Immerhin: Gut erzählen kann er. Wie viel das wert ist, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.