Klassismus: Ausgegrenzt wegen Armut

"Es geht um verinnerlichte Vorurteile"

37:21 Minuten
Illustration eines Kopfes, auf dem von Arbeitern abgetragen wird, dort wo eigentlich das Gehirn ist.
Vorstellungen über Klassenunterschiede sitzen tief und können unser Urteil über andere Menschen beeinflussen, selbst wenn wir glauben, dass sie eigentlich keine Rolle mehr spielen. © imago images / Ikon Images / Gary Waters
Francis Seeck und Klaus Dörre im Gespräch mit Stephanie Rohde · 20.06.2021
Audio herunterladen
Soziale Ungleichheit verschärft sich, doch der Widerstand dagegen ist so schwach wie nie. Die Politik habe das Thema ignoriert, kritisieren der Soziologe Klaus Dörre und Kulturanthropolog*in Francis Seeck: Höchste Zeit, wieder über Klasse zu reden.
"Klassenkampf", ist das nicht eine marxistische Vokabel aus längst vergangenen Zeiten? In unsere hoch individualisierte Gesellschaft mit flexiblen, von häufigen Wechseln bestimmten Erwerbsbiografien scheint sie gar nicht mehr zu passen. Irrtum, sagt der Soziologe Klaus Dörre: "Der Klassenbegriff ist hochaktuell."

Verteilung von Wohlstand – ein klassenspezifischer Konflikt

Nach wie vor werde zwischen "herrschenden Klassen, die über die Produktionsmittel verfügen", und anderen, "die deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen", ein Kampf um die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands ausgetragen, erklärt Dörre, der als Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena forscht und lehrt. Um gerechte Löhne und angemessene Sozialstandards entspinne sich "ein traditioneller klassenspezifischer Verteilungskonflikt" zwischen Kapital und Arbeit.
Politik und Wissenschaft hätten jedoch seit Langem aufgehört, diese gesellschaftliche Dynamik beim Namen zu nennen. "Ich glaube, dass wir 30 Jahre lang – mitverschuldet durch die Soziologie – Klassenfragen zu wenig beachtet haben", sagt Dörre, "und diese Klassenvergessenheit rächt sich in gewisser Weise." Wie der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch "Rückkehr nach Reims" überzeugend dargelegt habe, komme es zu einer "Verschiebung von sozialen Fragen in eine Richtung, die es ermöglicht, dass sie von der radikalen Rechten aufgegriffen wird."

Soziale Ungleichheit im Licht der Pandemie

Im Zuge der Coronapandemie ist das Thema soziale Ungleichheit mit einigem Nachdruck in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. In der Krise wurden die dürftige Bezahlung, schlechte soziale Absicherung und bereits im Normalbetrieb einkalkulierte Überlastung vieler Menschen, deren Arbeit für die Grundversorgung einer Gesellschaft unverzichtbar ist, allzu offensichtlich.
Für Supermarktangestellte, Pflegekräfte und medizinisches Personal gab es Applaus von Balkonen. Die Missstände in der Fleischindustrie sorgten für Empörung. Geändert hat sich für die Betroffenen, denen das Etikett "systemrelevant" verliehen wurde, bisher jedoch ebenso wenig wie für Alleinerziehende oder Menschen, die Angehörige pflegen und deshalb von der Pandemie besonders hart getroffen wurden, die meisten von ihnen Frauen.

Kulturelles und soziales Kapital

Den Zusammenhang von sozialer Lage, Diskriminierung, Sorgearbeit und Geschlechterverhältnissen hat Francis Seeck intensiv erforscht. Seeck hat eine Vertretungsprofessur für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Neubrandenburg inne und führt in diesem Rahmen auch Antidiskriminierungs-Trainings für angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter durch.
Porträt von Francis Seek in einem blauen Hemd.
Francis Seeck untersucht das Phänomen Klassismus aus Sicht der Kulturanthropologie und Geschlechterforschung.© Lotte Ostermann
Klassismus, also die Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, setze an vielen verschiedenen Punkten an, sagt Seeck. Ökonomische Aspekte lägen dabei auf der Hand: "Erwerbslose Menschen werden in unserer Gesellschaft ganz massiv abgewertet unter dem Begriff der 'Hartzer' oder der 'Hartz IV-Familie'." Daneben spiele aber auch kulturelles Kapital eine wichtige Rolle, also die Frage, welchen Bildungsabschluss jemand vorweisen könne, und – nicht zu vergessen – soziales Kapital in Form von Netzwerken und Zugang zu Ressourcen und attraktiven Positionen, kurz "Vitamin B" genannt.

Das Paradox der demobilisierten Klassengesellschaft

Ganz entscheidend sei zudem der Habitus einer Person, "also die verkörperte Klasse, die sozusagen in den Körper eingeschrieben ist." Anhand subtiler Merkmale, die damit verbunden seien, komme es zur Diskriminierung von Menschen ohne akademischen Hintergrund oder von Kindern aus dem Arbeitermilieu im Bildungssystem. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, sei unsere Gesellschaft nach wie vor von Klassenunterschieden geprägt, so Seeck.
Paradoxerweise komme es derzeit zu einer "Zuspitzung von klassenspezifischen Ungleichheiten", während der politische Widerstand gegen diese Entwicklung gleichzeitig rapide abnehme: "Gewerkschaften, politische Parteien, die traditionell um den Kapital-Arbeit-Gegensatz gebaut waren, sind in Europa so schwach wie seit 1945 nicht mehr." Dörre spricht deshalb von einer "demobilisierten Klassengesellschaft".
Porträt des Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre.
Klaus Dörre denkt soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zusammen.© dpa/ Michael Schinke
Könnte das auch daran liegen, dass andere Formen von Diskriminierung wie Rassismus und Sexismus weit mehr Raum in öffentlichen Debatten beanspruchen als Klassismus? Nein, sagt Francis Seeck, die emanzipatorischen Bewegungen, die gegen verschiedene Arten von Ausgrenzung eintreten, stünden nicht in Konkurrenz zueinander. Vielmehr sei der Begriff Klassismus selbst entscheidend vom Feminismus der 1970er-Jahre geprägt worden. Allerdings gebe es auch in der historischen Aufarbeitung des Phänomens noch viel Nachholbedarf.

Abwertende Glaubenssätze reflektieren

Dass etwa während des Nationalsozialismus auch sogenannte "Asoziale" in Konzentrationslager gebracht und ermordet wurden, sei bis heute wenig bekannt, die Geschichte dieser Opfergruppe bisher unzureichend untersucht. Der Begriff "Assi" werde als Schimpfwort weiterhin häufig verwendet. "Wir sind alle in einer Gesellschaft aufgewachsen, die durchzogen ist von klassistischen Vorurteilen und sozialdarwinistischen Vorstellungen", sagt Seeck. "Es geht um verinnerlichte Vorurteile."
Um ihnen entgegenzuwirken, sei es wichtig, ein Bewusstsein für Bilder und Glaubenssätze zu schaffen, die vielfach unreflektiert zu klassistischer Abwertung führen. Menschen, die aus vermögenderen Verhältnissen stammten, könnten dazu einen persönlichen Beitrag leisten, so Seeck, indem sie sich einmal intensiver mit der eigenen Geschichte auseinandersetzten und der Frage nachgingen, woher das Vermögen der Familie eigentlich stamme.

Gemeinsam für Steuer- und Klimagerechtigkeit

Auf gesellschaftlicher Ebene werde es darauf ankommen, den Wohlstand vor allem durch Steuergerechtigkeit fairer zu verteilen, sagt Seeck. Klaus Dörre stimmt zu und spricht dabei nicht von Umverteilung, sondern – mit einem Begriff der Schweizer Thinktanks "Denknetz" – von "Rückverteilung": Der gesellschaftliche Reichtum müsse denjenigen zurückgegeben werden, "die an wachsender Ungleichheit tatsächlich leiden."
Dabei komme es nicht nur auf materiellen Reichtum und Anerkennung an, so Dörre, es gehe auch um Entscheidungsmacht: Wenn ökonomische Weichenstellungen, etwa in der Automobilindustrie, nicht länger von "relativ kleinen Manager- Kasten" vorgenommen würden, stünden die Chancen zum Beispiel auch erheblich besser für eine klimafreundliche Kurskorrektur. Und die liege auch im Interesse einkommensarmer Menschen, pflichtet Francis Seeck ihm bei. Auch wenn es Klassismus leider auch innerhalb der Klimaschutzbewegung gebe, sei doch zu hoffen, "dass da in den nächsten Jahren noch weitere Bündnisse entstehen."
(fka)

Francis Seeck, Brigitte Theißl (Hgg.): "Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen"
Unrast Verlag, Münster 2020
280 Seiten, 16 Euro

Klaus Dörre, Madeleine Holzschuh, Jakob Köster, Johanna Sittel (Hgg.): "Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität"
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2020
336 Seiten, 29,95 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Blutspendeverbot für Homosexuelle: Generalverdacht gegen eine Gruppe
Die britische Regierung hat angekündigt, auch schwule Männer zur Blutspende zuzulassen. In Deutschland ist das noch immer untersagt. Andrea Roedig wundert sich über ein unzeitgemäßes Verbot.

Philosophische Flaschenpost: Simone de Beauvoir über das Frauwerden
Mädchen oder Junge? Spätestens mit der Geburt wird den meisten Menschen ein Geschlecht zugeordnet. Simone de Beauvoir aber wusste schon vor über 70 Jahren: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Was sagt uns das heute? Antje Schrupp öffnet die Philosophische Flaschenpost.

Mehr zum Thema