Karen Köhler: "Miroloi"

Drohbild einer entzivilisierten Gesellschaft

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Das Cover des Buches "Miroloi" von Karen Köhler.
Bezwingend anschaulicher Detailreichtum kennzeichnet den Roman "Miroloi von Karen Köhler. © Hanser Literaturverlag / Deutschlandradio
Von Ursula März · 26.08.2019
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Es geht ums Überleben. Doch der Roman "Miroloi" von Karen Köhler ist mehr: Ein poetischer Appell, von einer Insel zu fliehen, auf der die Errungenschaften der Zivilisation, die Menschenwürde und die Selbstbestimmung der Frau nicht zählen.
Am Ende des Romans, der auf einer namenlosen Insel spielt, geht die Icherzählerin zum Strand, um über das Meer zu fliehen. Heimlich hat sie sich schwimmen beigebracht, ebenso lesen und schreiben. All dies ist den Frauen der Insel verboten.
Schon Wochen zuvor sammelte sie angeschwemmte Plastikflaschen. Sie weiß, dass Plastik im Meer schwimmt. Deshalb hat sie sich eine Weste mit großen Taschen genäht, in die sie nun die Flaschen steckt.

Kunstwelt auf einer Insel

Sie sind ein entscheidendes Signal. Plastikflaschen wurden bekanntlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfunden. Die Welt aber, in der Karen Köhlers Roman "Miroloi" spielt, erinnert an die einer vormodernen Kastengesellschaft.
Diese Gesellschaft ist religiös, aber nicht monotheistisch. Sie wird beherrscht von einem patriarchalen Stammesdenken mit grausamen archaischen Sitten. Sie befindet sich im mediterranen Raum und ist zugleich orientalisch eingefärbt. Sie lebt von einer Agrarwirtschaft, die weit vor das 20. Jahrhundert zurückweist – und doch gibt es Plastikflaschen.
Es handelt sich folglich um eine eklektische Kunstwelt, die zugleich als Parabel auf die Gegenwart zu verstehen ist. Damit geht Karen Köhler in ihrem ersten Roman nach dem gefeierten Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" aus dem Jahr 2014 ein beträchtliches Risiko ein. Denn überzeitliches Erzählen birgt die Gefahr der Beliebigkeit. Gerade weil es der historischen und kulturellen Realität nicht standhalten muss, kann es im Nichtssagenden verpuffen.

Detailreich und unmittelbar

Die Icherzählerin ist ein Findelkind. Eine junge Frau, die in der Inselgesellschaft als Aussätzige gilt und keinerlei Rechte besitzt. Schutz vor Gewalt findet sie nur bei dem Vorstand des Bethauses, der sie aufgenommen hat. Nach seinem Tod lebt sie wie Freiwild, ihr Geliebter wird zum Tod durch Steinigung verurteilt. Sie schneidet sich die Haare ab, verkleidet sich als Mann und rebelliert immer offensiver gegen die zunehmend restriktiven Gesetze des männlichen Inselregimes.
Der Eindruck, Karen Köhler mache es sich etwas zu einfach, indem sie der geschichtlichen und politischen Festlegung ihrer Romangeschichte ausweicht, verflüchtigt sich bei der Lektüre schnell. Das liegt zum einen am bezwingend anschaulichen Detailreichtum, mit dem sie den fiktiven Inselkosmos ausstattet, zum anderen an der szenischen Unmittelbarkeit der Darstellung.
Köhlers lange Erfahrung als Theaterautorin kommt dem Roman spürbar zugute. Vor allem die langen Figurendialoge ziehen den Leser mitten hinein ins Geschehen, machen es zu einer glaubwürdigen Saga. Eine Gattung, die aufs Universelle zielt, aber vom Konkreten lebt.

Plädoyer für Menschenwürde

Beidem wird "Miroloi" auf souveräne Weise gerecht. Vorgetragen in einer märchenhaften Sprache mit poetischen Wendungen wie "Tausendaugenmenge" oder "Wassertropfenspur" entfaltet sich Köhlers Roman zu einem politisch aktuellen Plädoyer für die Errungenschaften der Zivilisation, für Menschenwürde und Selbstbestimmung.
Auf der namenlosen Insel gibt es sie nicht. Sie ist das Drohbild einer entzivilisierten Gesellschaft – weniger fern und fiktiv als wir glauben möchten.

Karen Köhler: "Miroloi". Roman
Hanser Verlag, München 2019
462 Seiten, 24,70 Euro

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