Im engsten Kreis

Von Susanne Mack · 25.05.2005
Familie steht immer noch hoch im Kurs. Nur die Vorstellung von Familie hat sich gewandelt, wovon die vielen "Patchwork-Familien" zeugen. Doch die junge Generation denkt in Sachen Familie durchaus traditionell, wie Studien zeigen. Mitunter stehen jedoch das geträumte Ideal von Familie und die gelebte Realität im Widerspruch zueinander.
Klaus Hurrelmann: " Familie steht hoch im Kurs. Das ist schon phänomenal: ob man sich ein ganz traditionelles Familienbild oder ein ganz modernes oder ein kombiniertes wünscht, das geht heute sehr bunt zu, und genauso bunt wird das Ganze ja auch gelebt. Aber Familie steht hoch im Kurs."

Herwig Birg: "Man muss auch die Vorteile dieser Lebensform sehen. Die sind nicht nur in der deutschen Kultur, in der abendländischen, sondern in allen Kulturen dieser Welt offensichtlich erkannt worden. Denn überall finden wir Familien vor."

Klaus Hurrelmann und Herwig Birg, beide kommen von der Universität in Bielefeld, dort gibt es ein Institut für Bevölkerungsforschung. Hurrelmann hat die letzte Shell-Jugendstudie geleitet. Da wurden 2500 Leute zwischen 12 und 25 Jahren befragt - und dies ist das Ergebnis der Studie: 85 Prozent der Jugend hierzulande ist überzeugt, zum Glücklichsein braucht der Mensch ganz unbedingt eine Familie.

"Wo kann man besser aufgehoben sein als im Schoße der Familie."

heißt es in einem Lustspiel von 1769. Da zieht schon die bürgerliche Gesellschaft herauf – mit ihrem Verständnis, was "naturgemäße Arbeitsteilung" ist und welche Rolle die Geschlechter da einzunehmen haben:

"Der Mann muss hinaus in’s feindliche Leben,
muss wetten und wagen,
das Glück zu erjagen.
- Und drinnen waltet
die züchtige Hausfrau,
die Mutter der Kinder,
und herrschet weise
im häuslichen Kreise."

Karen Pfundt: "Ja, das ist natürlich ein Bild, was erst im Zeitalter der Industrialisierung so entstanden ist. Weil früher ja tatsächlich... das Haus, der Haushalt war ja wirklich ein größeres Ganzes, wo Mann und Frau miteinander gearbeitet haben und die Kinder gewissermaßen nebenbei erzogen wurden. Dann, während der Industrialisierung, haben sich diese Sphären getrennt. Es kam eben dazu, dass es den Haushalt gab, wo die Frau wirkt, und der Mann ging nun aus dem Haus zum arbeiten. Das jedenfalls war so die bürgerliche Familie. Und in der wurde es dann eben auch eine Frage des Status, dass die Frau eben nicht zu arbeiten hatte."

Karen Pfundt. Sie hat ein Buch geschrieben über die Geschichte des bürgerlichen Familienideals und über die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben.

Dolly: " Kommst rein? Es geht um Familie. Darfst Dich reinsetzen und musst gleich was sagen. Wie sieht Deine perfekte Familie aus?" (Lachen)

Wir sind zu Gast in der Leipziger Nikolaikirche. Genau: bei der Jungen Gemeinde. Die Leute hier sind zwischen sechzehn und achtundzwanzig Jahre alt – und auch, und zwar durchweg - begeisterte Anhänger des Konzepts "Familie". Natürlich weil sie Christen sind, aber wahrscheinlich deshalb: sie haben schöne Erinnerungen an ihre Kindheit:

Mandy: "Ich komm aus ’ner Familie, wo beide gearbeitet haben, aber wo ich dennoch sehr viel Zeit mit meinen Eltern hatte, also hochwertige Zeit, diese "quality time"...Na ja, und durch die Erfahrungen auch, die Christian, mein Mann, mit eingebracht hat in die Ehe, hab‘ ich mir schon gedacht: jawohl, Familie hat für mich Priorität, weil ich’s so erfahren hab. "

Dolly: "Meine beiden älteren Geschwister stammen aus der ersten Ehe meiner Mutter. Und mit meiner Mutter ihrem zweiten Mann, also mit meinem Vater: Wir sind noch zu dritt.- Also, ich hab‘ vier Geschwister, bin in einer wirklichen Großfamilie groß geworden."

Christian: "Ich muss sagen, dass ich sehr viele gute Vorbilder habe, was Beziehungen angeht, wo ich viele intakte Familien kennen darf. Wo ich eben sehe: okay, die funktionieren und auch, warum die funktionieren. "

Georg: "Und ich find‘ es auch nicht schlimm, wenn meinetwegen der Mann auf die Kinder aufpasst und die klassischen Rollen sich irgendwie umdrehen, die sind ja auch sehr gesellschaftsbedingt. Dass man eben sagt: der Mann geht jagen oder verdient das Geld, und die Frau sammelt und gehört an den Herd, und die Kette darf nicht länger als vom Bett zum Herd reichen oder so ähnlich: das hat ja nichts mit christlichem Ehe-Verständnis zu tun."

Mandy und Dolly, Christian und Georg: Die junge Generation ist pro familia, das hatte ja Klaus Hurrelmann in seiner Studie festgestellt. Aber diese Studie hat auch noch andere Ergebnisse geliefert:

Klaus Hurrelmann: "Es fällt auf, dass das Selbstständigkeitsbestreben sehr hoch ist. Man möchte ein Individuum sein, man möchte eigentlich, wenn man da mal etwas kritisch und leicht spöttisch da rangeht, man möchte eigentlich ein verheirateter Single sein. Also: Wunsch nach Harmonie, nach festem sozialen Halt sehr hoch. Aber die Bereitschaft, sich auf eine Beziehung einzulassen mit all dem, was das bedeutet, mit den Kompromissen, mit den Rücksichtnahmen, mit der Bindung, die damit einhergeht: das ist nichts für diese Generation. "

Christian: "Also, wir haben gesagt: als erstes Gott, dann die Beziehung und die Familie und dann kommt die Arbeit. Die Arbeit ist schon letztlich dazu da, die Familie zu ernähren, aber es soll natürlich auch Spaß machen. Es soll schon beides zusammenlaufen und schon beides einen auch ausfüllen."

Mandy: " Und da bin ich richtig froh, dass wir zusammen sind, also dass ich hier nicht unbedingt allein, individuell rumkämpfen muss als Single und nur meine Bedürfnisse..., sondern dass wir gemeinsam den Weg beschreiten und uns da auch irgendwie einteilen, welche Aufgaben es gibt."

Christian und Mandy sind, schenkt man der Shell-Studie Glauben, nicht eben typisch für ihre Generation. Die beiden sind Mitte zwanzig, verheiratet und haben sich zumindest vorgenommen, in Zukunft alles unter einen Hut bringen: Christians Beruf - er wird Lehrer für Mathe und Sport, das Familienleben und auch Mandys Pläne:

Mandy: "Hab‘ jetzt noch ’n Studium angefangen, aber möchte trotzdem Kinder, mindestens zwei, und wahrscheinlich das erste auch während des Studiums. "

Auch Katharina, sie ist Kindergärtnerin von Beruf, verrät in dieser Runde ihre sehr bestimmten Vorstellungen von persönlicher Zukunft:

Katharina: "Wir sind jetzt, mein Mann und ich, ein Jahr ungefähr verheiratet. Wir würden halt schon gern Kinder haben wollen, wenn’s geht sofort. Aber ich sag' mal: Ich hab‘ meine Arbeit jetzt seit anderthalb Jahren, und ich möchte schon gern noch ’n bisschen weitermachen und Erfahrungen sammeln, weil im Moment gerade so ’n Aufbruch ist bei uns im Kindergarten. Außerdem würde es sowieso nicht gehn, weil mein Mann im Moment noch seine zweite Ausbildung macht. Mal gucken, wenn er dann ‘ne Arbeit gekriegt hat, dass wir einfach auch finanziell abgesichert sind, dann denk‘ ich, geht das los. Und, ja: es sollten mindestens... nicht nur eins, nicht nur zwei, sondern drei Kinder sein." (lacht)

Klaus Hurrelmann: "Das muss man sich immer klar machen bei solchen Befragungen über Wert-Orientierungen: Das sind Wünsche, die geäußert werden. Und es kann sein, dass das ein Wunsch bleibt, eine Sehnsucht, die man gar nicht nachher einholen kann in der Realität. "

Und - das, was die Mehrheit der Jugend heute unter dem Begriff "Familie" faßt, unterscheidet sich ganz deutlich von der Tradition. Noch vor fünfzig Jahren wußte man: "Familie". Das sind die Eltern samt ihrem Nachwuchs, dazu die Großeltern beiderseits, Cousins und Cousinen...Verwandtschaft also:

Klaus Hurrelmann: " Wenn man genau hinschaut, dann stellen sich heute viele unter einer Familie das Zusammenleben mit einem Partner oder einer Partnerin vor, auch ohne Kinder. Das ist eine ganz eigenartige Entwicklung der letzten Jahre, dass mit dem Begriff "Familie" nicht mehr Kinder verbunden werden. Das ist aber eine semantische und kulturelle Wort-Umdrehung, denn Familie hieß immer: Kinder haben, sonst kann ich von einer Partnerschaft sprechen, aber ich kann nicht von einer Familie sprechen."

Karen Pfundt: "Es gibt in Deutschland einen "Kinderwunsch-Stau". Seit Jahrzehnten ist der durchschnittliche Wunsch der Menschen: zwei Kinder. Das ist das Ideal - und es wird nicht erreicht. Ergo: man kann es sich irgendwie nicht leisten. Das ist eben dieses Klima: dass der biographische Preis, heutzutage eine Familie zu gründen, so enorm hoch geworden ist."

Klaus Hurrelmann: " Kinder sind teuer. Da gibt’s ja interessante Modell-Rechnungen. Kinder kosten soviel wie ein Einfamilienhaus. Ich muss zwanzig Jahre lang in die Kosten des Kindes investieren, das bekomme ich durch Steuerermäßigungen und Kindergeld niemals zurück. Das hat zur Folge, dass Kinder sehr schnell ein Armutsrisiko werden, wenn ich in wirtschaftliche Schwierigkeiten komme. "

Dolly: "Das ist ja eine verbreitete Vorstellung, und die hasse ich absolut. Das ist aber schon ein Problem, denk‘ ich, in diesem Sozialstaat. "

Karen Pfundt: "Also, ich sage immer: "Kinder sind ein Armutsrisiko": Das klingt so, als müsste der Staat jetzt den Familien ganz viel Geld geben. Ich sage lieber: Kinder sind ‘n Arbeitsmarktrisiko. Also, heutzutage gibt es das eben nicht mehr: Früher gab es den Arbeitnehmer, im Westen, der mit seinem Betrieb verheiratet war wie mit seiner Frau. Silberne Hochzeit und vierzigjähriges Betriebsjubiläum fielen dann vielleicht zusammen. Das gibt es einfach nicht mehr. Und wenn bei einem Paar wirklich nur noch der Mann einen Job hat, dann kann es - selbst für Mittelstandsfamilien - wirklich gefährlich werden. Wenn eben nur ein Einkommen da ist, und das eine fällt nun weg, dann kann man verstehen, warum es heißt: Kinder sind ein Armutsrisiko."

Georg: " Und das find‘ ich ziemlich traurig. Das ist kein kinderfreundliches Klima hier."

An der Familienpolitik in diesem Lande müsste sich einiges ändern, befinden die jungen Leute in der Nikolaikirche. Und die Wissenschaftler geben ihnen Recht.

Klaus Hurrelmann: "Kindererziehung wird bei uns, traditionell geprägt, als eine private Sache angesehen, da sollen die Eltern selbst sehen, wie sie damit zurechtkommen. Das ist keine Familienpolitik, und das ist auch keine Gesellschaftspolitik! "

Die deutschen Familienpolitik orientiert sich bis heute an den Idealen des Bürgertums im 19. Jahrhundert: Der Mann geht arbeiten, die Ehefrau indes betreut die Kinder und pflegt ein "trautes Heim", das "Glück allein" beschert:

Karen Pfundt: "Dieses Familienideal hat sich in der Weimarer Republik erhalten, und an das hat nun nach dem zweiten Weltkrieg die Bundesrepublik ganz stark angeknüpft. Und zwar unter Bedingungen, unter denen dieses Ideal nun auch verwirklicht werden konnte aufgrund des gesellschaftlichen Wohlstands."

Klaus Hurrelmann: "Und damit sind, das muss man ganz entspannt sagen, wir eigentlich ganz gut gefahren, solange die Frau in der Rolle der Hausfrau sich wohl fühlte. Das ist bestimmt bis in die 1970er Jahre hinein auch in Deutschland der Fall gewesen. In den anderen Ländern ging das schneller, da haben Frauen früher Abschied genommen von dem Leitbild der Hausfrauenrolle."

Mandy: "Ich hab‘ schon gemerkt, dass mir mein Beruf auch sehr wichtig ist, dass der auch viel Zeit in Anspruch nimmt."

Dolly: "In Schweden, hab‘ ich gehört, da gibt’s die Möglichkeit: Die Frauen bekommen die Kinder, aber die Männer bleiben zu Hause, weil: die Männer machen den Erziehungsurlaub. Also, die Frauen kriegen praktisch nur das Kind, gehen weiter arbeiten, und die Männer steigen aus und besorgen die Erziehung. Und haben aber die Sicherheit, dass der Job fest bleibt. Dort oben funktioniert das so, und warum das hier nicht funktioniert? Find‘ ich eigentlich bedauerlich. "

Karen Pfundt: " Genauso ist es. Also, es hat in Frankreich, auch in Schweden beispielsweise, nach dem Zweiten Weltkrieg schon auch dieses Ideal gegeben: die Mutter ist zu Hause, zieht die Kinder auf, der Mann ist der Ernährer der Familie. Aber in Skandinavien zuerst und auch später dann, in den siebziger Jahren, in Frankreich hat man die Weichen anders gestellt. Man hat eben gesagt: Wir können nicht mehr so tun, als ob, ja: als ob sich das Leben der Frau nicht gewandelt hätte.

Skandinavien, Frankreich waren und sind keine Paradiese, in denen man einfach ein Kind auf die Welt bringt und nun das irgendwo abgibt und das ist wunderbar, aber es ist eben so, dass...ja, man hat zum Beispiel die Gewissheit, dass man, wenn das Kind ein Jahr alt ist, einen Krippenplatz wirklich vorfindet. Und zwar ungefähr dort, wo man ihn braucht, nicht am anderen Ende der Stadt – und damit auch ‘ne größere Sicherheit, das "Risiko Familie" eben einzugehen."

Hätte da die neue Bundesrepublik nicht lernen müssen von der alten DDR? Professor Hurrelmann stammt zwar aus dem Westen der Republik, aber er nickt:

Klaus Hurrelmann: " Ja. Die DDR hatte ein, von den Strukturen her, modernes und fortschrittliches System der Kinderbetreuung und hatte auch eine ganz andere Ausrichtung der Familienpolitik, als das in der alten Bundesrepublik der Fall war. In der DDR war das nun schrecklich ideologisch geprägt, aber die Strukturen standen.

Und ich finde es also wirklich einen der größten Fehler, die bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten passiert sind, dass diese Struktur auf West-Niveau gebracht wurde, und West-Niveau war nicht "Welt-Niveau", um hier mal mit einem Begriff aus der DDR zu spielen. So allmählich, glaub‘ ich, lernen wir jetzt im Westen von den Modellen im Osten."

Karen Pfundt: "Ich denke, wenn man sich Familie, Freude und Last, teilen kann mit einem Partner und mit einem Staat, mit einer Gesellschaft, die signalisiert: Auch wir sind interessiert daran, dass diese Kinder auf die Welt kommen, dass sie ‘ne gute Bildung bekommen, dann wird’s einfach einfacher."

Wahrscheinlich aber wird’s in Zukunft eher noch größere Probleme geben, die letzte Shell-Jugendstudie deutet jedenfalls darauf hin. Schon deshalb, weil die Mehrzahl der jungen Männer völlig andere Vorstellungen vom Familienleben hat als die meisten jungen Frauen:

Klaus Hurrelmann: " Da kommt eine Frauen-Generation, die will was. Die will Karriere machen, berufliche Karriere und jetzt gleichzeitig will sie eine Familie gründen. Und dagegen fallen die jungen Männer auf. Die sind sehr zögerlich, in eine solche Mehrfachrolle hineinzugehen.

Am liebsten wollen die jungen Männer, auch die gut gebildeten, auch die sehr sensiblen, heute immer noch das alte Muster: Die Frau ist ‘ne Zeit lang berufstätig, dann hört sie auf, wenn wir zusammen sind, geschweige dann, wenn Kinder kommen. Der Haushalt wird dann von ihr gemacht, die Kinder werden von ihr erzogen, und sie ziehen sich zurück auf die traditionelle Männerrolle: das steckt immer noch ungeheuer stark in den Köpfen der meisten jungen Männer drin. Es gibt eine Gruppe, die das aus Überzeugung nicht macht, aber die ist sehr klein."

Georg: "Mein Schwager hat ’n Urlaubs-Semester gemacht, also: ein Baby-Semester für meinen Neffen. Also, der ist Professor in Berlin. Der sieht ’n bisschen mehr aus wie ’n Student als wie ein Dozent, ist auf keinen Fall so ’n Kragen-Schlips-Typ. Und ich kann die Auswirkungen in der Familie beschreiben: Er hat dadurch ein erhebliches Bindungs-Plus zu seinem Kind bekommen. Weil: gerade bei den Säuglingen ist ja die Mutter ein ganz naher Bezugspunkt. Aber das ist komisch: da dreht sich das so ’n bisschen um.

Das ist auch mal interessant, das zu sehen. Dass das kleine Kind immer zuerst mal zum Vater geht, weil es das eben so kennt, dass erstmal der Vater zu Hause ist. Und ich fand das eigentlich gut, und durch sein Vorbild könnt‘ ich mir das später auch vorstellen, mich nicht vor Kollegen zum Affen zu machen, wenn ich sag‘: "Ich mach jetzt ‘ n Baby-Jahr". Also, ich könnt‘ mir das durchaus vorstellen."

Die Masse der jungen Väter in Deutschland will sich das lieber nicht vorstellen. Auch hier also tut sich der Graben auf zwischen Ideal und Wirklichkeit, und dieser Graben zieht sich, so Klaus Hurrelmann, durch so ziemlich alle Gebiete, die das Thema "Partnerschaft" berühren:

Klaus Hurrelmann: " Wir haben heute sehr offene Beziehungen mit einem Wunsch auf Treue, aber faktisch wechselnde Beziehungen. Und eine große Trendwende in Richtung von stabileren Beziehungen oder von größerer Treue in den Beziehungen: die ist zurzeit nicht zu erkennen."

Obwohl sich Menschen vor dem Altar oder auch vor dem Standesbeamten die Treue schwören - und das zu diesem Zeitpunkt bestimmt auch genauso meinen – Fakt ist jedenfalls: jede dritte Ehe in Deutschland landet schließlich vor dem Scheidungsrichter. "Das kann und will ich nicht verstehen müssen", sagt Georg:

Georg: " Für mich bedeutet der Akt der Eheschließung eben, vor der Gemeinde und vor einem Pfarrer oder Priester Gottes sich gegenseitig das Ja-Wort zu geben. Und aus meiner Sicht ist dann auch Scheidung gar nicht möglich. Das ist zwar auf dem Standesamt möglich, aber was Gott zusammenführt, soll der Mensch nicht scheiden."

Aber die Menschen tun es trotzdem. Wie kommt es, dass Familien heutzutage so oft auseinander laufen? Ist es in erster Linie Unfähigkeit zu echter Partnerschaft? Oder gibt es vielleicht auch objektive Gründe? Was es auf alle Fälle gibt, sind zum Datum der Hochzeit eine Menge hochfliegender Erwartungen:

"Nun hat das Heiligtum der Ehe mir das Bürgerrecht im Stande der Natur gegeben. Deine Liebe kann nicht ewiger sein als die meine. – Einer sei dem andern das Universum!"

Friedrich Schlegel in seinem Roman "Lucinde" von 1799.

Herwig Birg: "Es gibt’ ne Romantisierung der Ehe. Seit dem 19. Jahrhundert ist die im Gange, und die Ideale an eine Familie, was die zu sein hat, und auch an 'ne Ehe- und Liebesbeziehung, werden eigentlich immer höher.

Die lassen sich immer schwerer verwirklichen, und gleichzeitig sind die Hürden auch immer höher, denn unsere moderne Wirtschaftsform, die auf Konkurrenz ausgerichtet ist, schließt eigentlich die Tugenden aus, die man für eine lebenslange Partnerschaft braucht. Sie schließt aus lebenslange Bindungen, das macht ja dann auch unflexibel.

Wenn Mann und Frau beide erwerbstätig sind, führt in der Regel ein normaler Lebensweg beide in unterschiedliche Himmelsrichtungen in der Erwerbskarriere. Dann stehen sie vor dem Konflikt, wer zieht mit wem mit, dann wird häufig auch ‘ne Scheidung stattfinden, das heißt, es passt immer weniger zusammen: unser modernes Wirtschaftssystem und dieses romantisierte Ideal der Ehe und Familie, das sich entwickelt hat. Im Mittelalter war das gar nicht romantisch, das waren alles Zweckehen, die reine Liebesehe kam praktisch nicht vor."


In Deutschland entstehen heute immer mehr "Patchwork-Familien". Das ist der neudeutsche Ausdruck für Lebensgemeinschaften von Erwachsenen und Kindern, wo deren leibliche Eltern – meist einer von beiden - irgendwann vom Familienzug abgesprungen sind. Und dafür ist dann jemand anders eingesprungen. Auch in der Nikolai-Gemeinde erzählt man sich solche "Geschichten aus dem wirklichen Leben". Dolly zum Beispiel. Ihre Mutter war vor ihrer Geburt schon einmal verheiratet. Zwei Kinder aus der ersten Ehe hat sie in ihre zweite mitgebracht:

Dolly: "Ich weiß nicht, wie die Zeit für die war, wo dann die Trennung sich vollzogen hat, ich denke, das ist für jedes Kind 'n Horror. Aber die haben meinen Vater hervorragend angenommen. Und die sagen auch heute "Vati" zu dem."

Georg: "Ich kenn ’s von meinem Cousin. Der hat nie geheiratet, also, der ist viel älter als ich, vielleicht Fuffzig oder so. Der hatte aber immer mal ‘ne – neudeutsch oder westdeutsch würde man sagen: "Lebensabschnittsgefährtin". Und als er noch jünger war, hat er auch mal mit einer ein Kind bekommen, und sie hatte aber schon ein Kind mitgebracht. Die waren dann auch ein paar Jahre zusammen, das war alles ganz schön und gut, auf jeden Fall: im Endeffekt ist sie weg.

Und er hatte dann zwei Kinder, war aber nur von einem der Vater. So, und das war dann ‘ne Dreier-Familie: ‘n Junge, ‘n Mädel, und er halt als Vater. Und auch immer, wenn er dann ‘ne neue Freundin hatte, musste die sozusagen durch die Kinder abgesegnet werden. Also: wenn die Kinder gesagt haben: die is‘ nich gut, dann ging die auch nicht. "

Dolly: " Ich hab‘ zwei Scheidungs-Fälle in der Familie: meine Mutter und meine große Schwester. Und bei beiden lag ’s, denk‘ ich, an einer überstürzten Heirat. Also, bei meiner Schwester definitiv, bei meiner Mutter, die hat uns das mal so erklärt: Die hat lange in ihrem Elternhaus gewohnt und war dort, insbesondere für ihren Vater, das Mädchen für alles. Die wollte da raus, und die konnte das nur durch einen Mann. Und die haben sich eben kennengelernt, und es hat funktioniert, und später hat’s eben nicht funktioniert, nachdem sie aber dann zwei Kinder hatten. Das ist halt bedauerlich für meine beiden älteren Geschwister gewesen.

Und dadurch bin ich entscheidend geprägt: also, ich bin jetzt mit meinem Freund auch schon fast vier Jahre zusammen. Aber bevor ich jetzt sage, wir heiraten, möchte ich definitiv, dass wir ein Jahr zusammen in einer Wohnung gelebt haben, einen gemeinsamen Haushalt führen und mal gucken, wie sich‘s miteinander lebt. Dann auch Konflikte nicht irgendwie wegreden, sondern mit denen umgehen und behandeln und bearbeiten,... "

Zwischenruf Georg: "Mal so richtig fremdgehen und gucken, wie der andere reagiert?")

Dolly: "Nein, nein." (alle lachen ) "Ach, Mann! Ich meine eher so praktische Sachen. Das ist ja wie in ‘ner WG. Eine WG kannste auch nicht machen, wenn du nicht WG-tauglich bist. Also, wenn du nicht teilen kannst, oder irgend solche Sachen."

Georg: "Ich find‘ das gut, was die Dolly sagt mit dem Überstürzten. Das liest man dann auch ab und zu in der Presse, dass die meisten Ehen geschieden werden, die, weiß nicht, am 9.9.99 geschlossen werden oder am 03.03.2003. - Also, tja, da find‘ ich den Sinn und Zweck der Ehe ‘n bisschen verfehlt. Da kann man vielleicht auf’n Rummel gehen an so einem Tag, aber nicht heiraten."

Christian: "Ich denke, dass da auch Vorbilder fehlen. Gerade wenn wir die Medien nehmen. Da wird auch wenig an guten Beziehungen gezeigt. "


Dolly denkt da gleich an diverse Pop-Stars. Bridney Spears zum Beispiel:

Dolly: "Wir rennen mal fix in irgendeine Vegas-Kathedrale, tun da so ’n Plaste-Blumenstrauß hinhalten, sagen "Ja" und lassen uns zwölf Stunden später wieder scheiden. - Na, was wirft denn das für ’n Licht darauf? Entschuldige mal bitte! Also, da sag‘ ich nur: "Bild"-Zeitung oder "Gala", oder "Bunte", das woll’ mer doch alle lesen, und dadurch wird das doch vermittelt:... Macht ‘mer das mal, ‘ne Heirat, das ist chic, da hat mer ‘n großes Fest, das ist irre, da trägt man ‘n rassiges Brautkleid, für das ‘mer sonst was für’n Geld hingeblättert hat - man kann da aber schnell wieder raus. Wenn das einfach mal nicht funktioniert, hat ‘mer eben ‘n bisschen ‘nen Fehler gemacht "

Georg: "Und wahrscheinlich noch Geld verloren! "

Dolly: "Ja, Mist, Mist! "

Georg: "Es gibt auch gute Beispiele, aber das interessiert einfach keinen. Also, unser oberster Deutscher, Horst Köhler, ist ein sehr vorbildlicher Ehemann und Vater, und unser Wirtschaftsminister macht vielleicht komische Politik, ist aber auch fünfmal Vater von derselben Frau und auch seit fünfunddreißig Jahren verheiratet, das gibt’s schon auch."

Dolly: "Das ist doch aber langweilig. Es ist doch viel cooler, wenn wir ’n bisschen Schlammschlacht haben: schon die vierte Frau am Wickel, oder den vierten Mann, und da vielleicht schon das dritte Kind... "

Georg: "Dafür ham‘ wir ja unseren Kanzler! "

Dolly: "Ja, hallo!" (alle lachen)

Georg: "Und Herrn Fischer, whatever... Und die sind ja auch alle Achtundsechziger, Frankfurter Schule! "

Dolly: "Ja. Hey " (alle lachen)

Georg: "Also, ‘ne Trennung ist um vieles einfacher als sich eben hinzusetzen und zu sagen: "Hallo, was verbindet uns denn?" oder "Was macht denn aus dem "du" und "ich" ein "uns"? oder "Warum haben wir uns mal verliebt?". Das ist wesentlich anstrengender als einfach zu sagen: "Finito, und dort wartet die Nächste." Das ist wesentlich einfacher. Und da hab‘ ich dann wieder ein christliches oder fast sakrales Verständnis: "Man soll sich lieben und ehren in guten und in schlechten Tagen ". "

Mandy: "Ich will’s mal dem Menschen an sich unterstellen, dass er sich sehnt nach so Liebe und Geborgenheit und so ’ner Vertrauensbasis."

Christian: "Also, für mich ist die Familie ein dynamisches Konstrukt, wo beide fifty-fifty Mitspracherecht haben und man sich immer einigen muss. Und sobald da jemand unzufrieden ist, muss sich hingesetzt und drüber geredet werden. "

Georg: "Wenn da jeder täglich sich ‘n Stück weit aufgibt und rein begibt, und das eben jeder macht, dann mal hier ein Schwergewicht fällt und mal beim anderen, dass sich nicht einer total unterbuttert: dann denk‘ ich, ist das sehr erfolgversprechend."
Mutter mit Kind
Mutter mit Kind© AP
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Ausspannen mit Kind© AP
Kindergartenkinder in Frankfurt machen einen Ausflug
Kindergartenkinder© AP
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