Freiräume für Jugendliche

Der wichtige Wunsch nach Selbstbestimmung

Gruppen von Jugendlichen sitzen auf einer großen Streintreppe mit breiten Stufen und unterhalten sich.
Jugendliche im öffentlichen Raum: auf der Suche nach Orten ohne Aufsicht und Kontrolle. © picture alliance / CHROMORANGE / Viennaslide
12.07.2023
Jugendliche, die sich in Gruppen irgendwo im öffentlichen Raum treffen, werden nicht selten von dort vertrieben. Der öffentliche Raum werde kapitalisiert und privatisiert, warnen Stadtforscher - und verweisen darauf, wie wichtig Freiräume sind.
Wo können sich Jugendliche treffen, unter sich und ohne Aufsicht sein, Quatsch machen, laut sein, ihre Themen diskutieren? Der öffentliche Raum, der sich eigentlich dafür anbietet, wird zunehmend reglementiert und verengt, beobachten Soziologen und Stadtforscher. Jugendlichen, die zusammen an einem Ort abhängen wollen, kann es schnell passieren, von dort vertrieben zu werden - sei es die Parkbank, ein städtischer Platz oder auch das Einkaufszentrum.
Doch gerade nach den strikten Kontaktbeschränkungen wegen Corona brauchen die Jugendlichen Freiräume - nur durch den Kontakt zu Gleichaltrigen und das Ausprobieren von Identitäten können sie weiter wachsen. Verdrängungsprozesse im öffentlichen Raum erschweren diese Entwicklung - können aber auch als Herausforderung dienen und die Jugendlichen im besten Fall dazu animieren, sich die Freiräume selbst zu nehmen.

Warum brauchen Jugendliche Freiräume?

Sich draußen mit Freunden treffen: Das ist für junge Leute essenziell, betont der Psychiater Rainer Papsdorf. Er leitet die Jugendstation an der Leipziger Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters. Seine Arbeit zeigt: Junge Leute müssen raus aus ihrem Elternhaus, Erfahrungen mit Gleichaltrigen sammeln. „Das ist enorm wichtig“, sagt Papsdorf.
Das ganze menschliche Leben bestehe aus Entwicklungsaufgaben, so der Psychiater. Das beginne schon mit der Geburt, „damit, dass man dann selber Luft holen und selber Nahrung aufnehmen muss“. Das ziehe sich durch die ganze Kindheit. Zwischen sechs und zehn Jahren mildere sich das Tempo ein bisschen ab. Doch mit der Pubertät gehe es „noch einmal richtig los“.
In der Pubertät stehen eine große Menge an Entwicklungsaufgaben an, die sehr fordernd und anstrengend sind und die oft gleichzeitig bewältigt werden müssen. Es geht um die Ablösung von den Eltern und die Entdeckung und Entwicklung der eigenen Identität.
„Diese beiden Aufgaben kann der Jugendliche nur gut erfüllen, wenn er auch wirklich aus der Familie rausgeht“, sagt Papsdorf. Er müsse sich lösen, um fit zu werden für das Leben als Erwachsener. „Das sind Lernaufgaben, die können nur in der Gruppe der Gleichaltrigen gut bewältigt werden.“ Wer an der eigenen Familie klebe, könne keine anderen Identitäten probeweise eingehen.
Jugendliche "hängen" in einer Hamburger Parkanlage ab und unterhalten sich. Im Hintergrund sind neugebaute Wohnhäuser zu sehen.
Einfach mal irgendwo abhängen: Sich mit Gleichaltrigen zu treffen, gehört zu den Grundbedürfnissen von jungen Menschen.© imago stock&people
Der Kontakt zu Gleichaltrigen ist ein Grundbedürfnis junger Menschen mit Beginn der Pubertät. Hierzu gehören auch Grenzüberschreitungen - also genau das Verhalten, das Erwachsene verärgert und von ihnen als unberechenbar und rücksichtslos empfunden wird.
Neurobiologisch kann man das Verhalten der Pubertierenden allerdings genau erklären. Es ist die Dysbalance zwischen dem „Anreizverarbeitungs- und Belohnungssystem“ und dem Frontalhirn, die dazu beiträgt, dass Jugendliche oft erst handeln und später nachdenken.
Hinzu kommen Umbauten im Gehirn. Neurotransmitter sorgen im jugendlichen Alter dafür, „dass neue, angenehme, aber vor allem aufregende und abenteuerliche Reize sehr gesucht werden“, erklärt Papsdorf: „Dass man sozusagen auf der Suche nach dem Kick ist.“

Wodurch werden die Freiräume von Jugendlichen bedroht?

Beispiel Magdeburg: Das größte Neubauviertel der Stadt heißt Kannenstieg. Beinahe 7.000 Menschen leben hier, über zehn Prozent davon sind Kinder und Jugendliche. Treffpunkte außerhalb der Wohnungen sind dort laut des Soziologen Daniel Kubiak in den letzten 30 Jahren deutlich weniger geworden.
Im Rahmen eines Forschungsprojektes hat Kubiak hier viel Zeit verbracht. Er war an den Orten, wo sich Jugendliche treffen, und hat auch mit vielen anderen Bewohnern des Viertels gesprochen.
Diese erzählen, dass die Kinder früher rausgegangen und in den Innenhöfen gespielt hätten. Doch seit der Wende sei das kaum noch der Fall. Es wurden Zäune gezogen und Spielplätze abgegrenzt, sogar bestimmten Wohnungsbaugesellschaften zugewiesen. „Es gibt sehr klare Spielzeiten mit Mittagsruhe und Abendruhe“, sagt Kubiak.

Auch die Kiesgrube wurde gesperrt

Neben den Innenhöfen gab es auch noch einen nahegelegenen See, eine alte Kiesgrube. Seit 2021 ist auch sie gesperrt. Die Jugendlichen gingen jetzt in die Innenstadt, berichtet Kubiak. Dort sei ein Einkaufszentrum der Anlaufpunkt. Doch auch hier würden sie eigenen Angaben zufolge immer wieder rausgeworfen: „in ihrer Wahrnehmung aus nichtigen Gründen“.
Das Beispiel illustriert einen generellen Trend: Wissenschaftler wie Kubiak sprechen von einer „Kapitalisierung des öffentlichen Raums“ beziehungsweise dessen Privatisierung, von Verdrängungsprozessen – und dann wiederum als Gegentrend dazu von der Rückgewinnung und erneuten Nutzung öffentlicher Räume, auch durch Jugendliche. Das Problem genießt unter Stadtsoziologen und anderen Experten viel Aufmerksamkeit.
Grundsätzlich muss um den öffentlichen Raum gerungen werden. „Der Bahnhof – ein paradigmatischer öffentlicher Verkehrsraum – wird zur privatisierten Shopping-Mall mit Hausrecht. Das private Einkaufszentrum wird von Architekten im Stil italienischer Plätze gestaltet, mit Springbrunnen und Parkbänken, und suggeriert so die Freiheit eines vermeintlich öffentlichen Raums. Der öffentliche Raum verschwimmt und entzieht sich“, schreibt die Stadtethnologin Kathrin Wildner.

Warum werden die Jugendlichen im öffentlichen Raum oft als Störung wahrgenommen?

Der Gewalt- und Extremismusforscher Dirk Baier verweist auf einen Trend: die Abnahme der Jugendkriminalität in Deutschland. Trotzdem würden Gruppen junger Menschen, vor allem junger Männer, die sich in Parks oder anderswo im öffentlichen Raum aufhalten, vielen Menschen Angst bereiten, sagt Baier, der das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften leitet. Zuvor war er stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover.
Streitereien, laute Gespräche, Gockel-Gehabe, körperliche Auseinandersetzungen: Das empfänden andere als Bedrohung für sich selbst. Und das führe dann dazu, dass Sicherheitsdienste engagiert und die Jugendlichen vertrieben würden. Die Toleranz gegenüber jungen Menschen im öffentlichen Raum sinke, hat Baier beobachtet: „Man geht teilweise repressiv gegen die jungen Menschen vor.“ Die jugendlichen Bedürfnisse würden nicht ernstgenommen.

Früher gab es mehr Jugendkriminalität

Baier hat eine These, auf welcher Basis sich diese Prozesse abspielen: Die Deutschen kennen Kriminalität vor allem aus den Medien und haben selbst kaum Kontakte damit. Die polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt das: Für das Jahr 2022 verzeichnet sie zwar einen deutlichen Anstieg der Jugendgewalt, verglichen mit dem Jahr 2021. Im langfristigen Vergleich scheint es aber keinen Grund zur Sorge zu geben. Denn in den Jahren 2007 bis 2009 war die Jugendkriminalität deutlich höher.
Doch Medienberichte beschränken sich oft auf Straftaten und Übergriffe. Gruppen braver junger Leute, die nur dasitzen und sich unterhalten, sind keine Meldung wert. Eine Schlägerei mit Verletzten hingegen schon.
Das führte zu Ängsten und „Unsicherheits-Wahrnehmungen“, sagt Baier. „Wir haben zunehmend Angst, dass sich aus solchen Wahrnehmungen von Unsicherheit echte Kriminalität entwickeln könnte.“ Ergo sollen dann Sicherheitskräfte das Problem lösen, die vermeintliche Bedrohung aus dem öffentlichen Raum entfernen. „Und dann fühlen wir uns besser. Das ist aus meiner Sicht der Prozess, der dahintersteckt.“

Weniger öffentlicher Raum für Jugendliche – was sind die Folgen?

Was Kontaktbeschränkungen für Jugendliche bedeuten können, hat die Pandemie gezeigt. Die Folgen sind vielfach beschrieben worden: Vereinsamung, Perspektivlosigkeit, psychische Probleme. Auch in öffentlichen Räumen waren Treffen Jugendlicher über längere Zeit verboten.
Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche in der Corona-Zeit besonders gelitten haben. Wie aus Daten der Krankenkasse DAK hervorgeht, nahmen Depressionen und Essstörungen vor allem bei Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren stark zu. Bei vielen blieben die Probleme auch nach der Pandemie bestehen. Die Nachfrage nach Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die Kinder und Jugendliche behandeln, lag noch im Sommer 2022 um 48 Prozent höher als in der Vor-Corona-Zeit.
Drei Jahre Pandemie haben nicht zuletzt bei jungen Menschen Narben hinterlassen. Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren fühlten sich durch aktuelle Krisen psychisch deutlich stärker belastet als Menschen älterer Generationen, stellen die Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann sowie der Politikwissenschaftler Kilian Hampel in einer Studie fest.
Ursache für die hohe Belastung sei ein durch Corona-Pandemie, Klimakrise, Krieg und Inflation entstandener Dauerkrisenmodus. Fast die Hälfte aller 14- bis 29-Jährigen leidet demnach unter Stress, während das bei den 50- bis 69-Jährigen nur auf jeden Fünften zutrifft.
Dabei seien die Stresswerte bei den jungen Menschen in den letzten eineinhalb Jahren sogar gestiegen, sagt Hurrelmann. Auch fühlen sich mehr junge als alte Menschen erschöpft (35 Prozent im Vergleich zu 25 Prozent) und haben häufiger Selbstzweifel (33 Prozent im Vergleich zu 11 Prozent).
Nun hatten die Kontaktbeschränkungen während der Pandemie ein vollkommen anderes Ausmaß als solche, die durch das Schrumpfen öffentlicher Räume entstehen. Gleichwohl ist eines klar: Jugendliche brauchen mehr Freiräume und Unterstützung, nicht weniger. Die Bundesregierung hat ein Maßnahmenpaket beschlossen, das die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche abfedern soll. Ein Schwerpunkt: die psychische Gesundheit.

Wie können wieder mehr Freiräume für Jugendliche geschaffen werden?

Es gibt inzwischen viele lokale Initiativen, die sich jeweils vor Ort um das Problem kümmern. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung hat eine „Freiraumfibel“ herausgegeben. Motto: „Kreative Nutzung von Freiräumen in der Stadt“. Die Fibel zeigt Handlungsspielräume und die rechtlichen Rahmenbedingungen auf.
Die Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit Baden-Württemberg informiert über „Best Practise Beispiele“ der Rückgewinnung und Nutzung öffentlicher Räume im jugendkulturellen Kontext. In Rostock gibt es jedes Jahr einen Jugendaktionstag unter dem Motto "Reclaim your streets". Und der Stadtjugendring Potsdam hat ein Positionspapier zu Jugendlichen im öffentlichen Raum verfasst.
Stephanie Haury vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Referat „Stadtentwicklung“, berichtet auch von der Stadt Stuttgart und ihrem „Masterplan Räume für Jugendliche“. Auch in Hannover habe es einen großen Innenstadtdialog gegeben, bei dem den Jugendlichen Freiräume verschafft worden seien, lobt die Expertin.

Freiräume durch Leerstand in den Innenstädten

Haury hat eine interessante Idee, wie man dem Leerstand in den Innenstädten begegnen kann - wenn größere und kleinere Geschäfte schließen und sich kein Nachfolger findet. Sie will die leeren Läden als neue Freiräume im öffentlichen Raum verstehen. Für junge Leute sei das jetzt gerade eine gute Zeit, sich diese Räume anzueignen, sagt Haury. Nicht nur die Städte müssten sich kümmern, sondern auch die Jugendlichen selbst. Sie müssten lernen, wie das geht: ihr Recht auf Raum umsetzen.
Am Magdeburger Hasselbachplatz hat das geklappt. Hier haben sich junge Menschen tatsächlich ihren eigenen Freiraum geschaffen. Schon vor Beginn der Pandemie „sollte die letzte coole Kneipe hier am Hassel schließen“, berichtet Oliver Wiebe, der sich in der Stadt für die Rechte junger Leute einsetzt.
Dann wurde ein Verein gegründet, es wurden Spenden gesammelt, und nun gibt es einen Kiezladen samt Begegnungscafé und „wirklich Raum für alle“, wie Wiebe betont. Motto: „platz*machen in Magdeburg“.

Jugendliche wollen nicht "platziert" werden

Auch Jugendzentren sind eine Möglichkeit, den Heranwachsenden Freiräume und ein Stück Selbstbestimmung zu verschaffen. Allerdings werden genau solche Einrichtungen von den Jugendlichen oft nicht ausgewählt. Sie suchen eher nach Orten, an denen sie nicht kontrolliert werden und „komplett unter sich sein können“, sagt der Jugendforscher Dirk Baier. Frei von Aufsicht. Ohne Vorgaben. Sie zu „platzieren“: Das funktioniere bei Jugendlichen nicht.

Annegret Faber, ahe, dpa
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