Stigma, Scham, Selbstakzeptanz

Intime Bücher von Promis

10:34 Minuten
Die im Artikel besprochenen Bücher auf Asphalt
Die Auswahl an Büchern von Promis ist groß. Aber viele von ihnen sind überraschend gut. © Deutschlandradio / Stefan Mesch
Von Stefan Mesch · 26.07.2022
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Die Aufmerksamkeit für etwas Gutes nutzen: Viele Prominente und Influencer veröffentlichen in letzter Zeit Bücher, in denen sie Tabuthemen aus dem eigenen Alltag ansprechen, um auf dieser Weise Stigmata zu bekämpfen. Wir haben uns die Wichtigsten angesehen.
In eigenen, oft sehr persönlichen Büchern leuchten Promis, Influencerinnen und Influencer hinter die Kulissen ihres Aufstiegs: um anderen Mut zu machen und als Bildungsarbeit. Wir empfehlen acht kurze, nahbare Bücher, erschienen seit Ende 2020, von Menschen mit Fangemeinde, die sich öffnen und über Rollenbilder und Essstörungen sprechen, über Trauma und Ruhm, Queerness und Behinderung.

"Du schaffst das nicht" von Gnu

"SaftigesGnu" ist der Name, mit dem sich Jasmin Sibel mit elf Jahren bei Online-Spielen und in Foren registrierte. 2021 wurde Sibel/"Gnu" mit einer Million Abos zur erfolgreichsten Deutschen, die Gaming-Videos für YouTube filmt. In "Du schaffst das nicht" zeigt sie mit Schwung, Witz und viel Klarheit über sexistische Strukturen, warum sie sich viele Dinge im Leben früh zutraute - doch anderes nie oder erst traurig spät.
Buchcover zu "Du schaffst das nicht. Über Kontrollverlust, Kampfgeist und unstillbaren Hunger".
Macht toxische Gesellschaftsstrukturen sichtbar Jasmin Sibel alias Gnu in "Du schaffst das nicht".© Riva Verlag
Im Zentrum steht dabei zwar Sibels Bulimie und die Angst, von Partnern verlassen und ersetzt zu werden. Doch alle, die generell über Normen, Frausein und Geschlechterrollen nachdenken und darüber, wer wann welche Dinge wagt oder lieber schweigt, finden hier griffig formulierte, klug ausgewählte Episoden und Denkanstöße: Gnu, geboren 1989, erklärt, was und wer sie klein hält und macht toxische Gesellschaftsstrukturen toll plausibel sichtbar - einladend auch für Leute, die bei Formulierungen wie "toxische Gesellschaftsstrukturen" gern vorschnell die Augen rollen.

Gnu (Jasmin Sibel, mit Co-Autorin Lisa Ludwig): "Du schaffst das nicht. Über Kontrollverlust, Kampfgeist und unstillbaren Hunger"
Riva Verlag, München 2022
288 Seiten, 20 Euro 


"Immer noch ich. Nur anders" von Kristina Vogel

Ein harter Blick: Radsportlerin und Olympiasiegerin Kristina Vogel, geboren 1990, liebt Tempo, messbaren Erfolg und Ziele. In kurzen und oft erschreckend pragmatischen Sätzen erzählt sie, wie sie bei Bahnradrennen Bundes- und Weltmeisterin wurde - und alles, das bremste, dramatisch schroff umging. Seit einem Trainingsunfall 2018 ist sie querschnittsgelähmt, nutzt einen Rollstuhl und engagiert sich in der CDU.
Buchcover zu "Immer noch ich. Nur anders. Mein Leben für den Radsport"
Unsentimentale Stimme: Kristina Vogel in "Immer noch ich. Nur anders. Mein Leben für den Radsport".© Malik Verlag
Wer einen Überblick sucht, aus welchen strukturellen und politischen Gründen Behinderte gewaltvoll am gesellschaftlichen Rand gehalten werden, liest besser Bücher der Disability Studies: Kristina Vogel führt (als Sportlerin und heute) ein Ausnahme-Leben, erlebt alles als Kampf, Überwindung und wie im Tunnelblick. "Kalt" sind Vogels harte, schroffe, fast immer nur aufs Weiterkommen gerichtete Gedanken nie - sondern voll trockenem Witz und kluger, humaner Aha-Momente. Doch wer Ernest Hemingway oder Actionheldin Ellen Ripley zu soft und mausig findet: Hier erklärt sich eine der unsentimentalsten Stimmen der Promi-Welt. Und der Literatur!

Kristina Vogel (mit Matthias Teiting): "Immer noch ich. Nur anders. Mein Leben für den Radsport"
Malik Verlag, München 2021
272 Seiten, 20 Euro


"Mama, ich bin schwul" von Riccardo Simonetti und Anna Simonetti

Als Kind hörte Riccardo, geboren 1993, von ganz Bad Reichenhall, er sei zu feminin, zu auffällig, zu provokant un-jungenhaft: auch von der eigenen Mutter. Anna Simonetti ist alleinerziehend und beteuert heute in herzigen, langen Kapiteln mit viel Selbstkritik und ohne ein einziges schlechtes Wort über ihren Sohn, dass sie "den Rick" immer nur schützen wollte und alles für ihn täte. Für Riccardo ist Anna das Zentrum, und weil sie traurig wird, falls er erzählt, dass man ihm vor der Schule den Parka in Brand steckte oder ihm die Nase brach, weil er Blumen im Haar trug, schweigt er möglichst und hofft, als Entertainer und Fashion-Blogger so berühmt zu werden, dass ihn das Star-Sein vor Übergriffen schützt. 300 Seiten wirken zunächst viel zu lang, um ein Mutter-Sohn-Verhältnis, wie es oft gern als "schwules Muttersöhnchen"-Schieflage pathologisiert wird (Norman Bates!), von zwei Seiten ausufernd und manchmal redundant in vielen Einzelheiten zu zerpflücken (ohne, es per se als problematisch eng abzuwerten).
Mama ich bin schwul von Riccardo Simonetti
Durch-reflektiert wie bei Marcel Proust: "Mama ich bin schwul" von Riccardo und Anna Simonetti.© Goldmann Verlag
"Mama, ich bin schwul" ist das beste, intensivste Buch unserer Auswahl - weil es Gewalt, Scham und Emanzipation nicht einfach kurz schildert. Sondern hyper-präzise, ehrlich und schmerzvoll Dynamiken sichtbar macht, die jedem Kind, das sich geschlechtsuntypisch verhält, das Leben unnötig erschweren - in Szenen und Überlegungen, so spezifisch, tief und kleinteilig durch-reflektiert wie bei Marcel Proust. "Dieses Buch wird Leben retten", wird über schwule Coming-of-Age-Berichte manchmal gesagt. Ein Weckruf - besonders auch an Eltern, die sich bereits für "tolerant" und hilfreich halten.

Riccardo Simonetti, Anna Simonetti (mit Lena Schindler): "Mama, ich bin schwul. Was mein Coming-out für uns bedeutete"
Goldmann Verlag, München 2021
304 Seiten, 12 Euro


"Queer as F*ck" von Jochen Schropp 

Wer sich "queer" nennt, steht in mindestens einer Hinsicht schräg zu den sexuellen und/oder den geschlechtlichen Normen der Mehrheitsgesellschaft: Die Person könnte trans sein und/oder asexuell, sie könnte lesbisch sein und/oder intersex. Schauspieler Jochen Schropp, geboren 1978, ist "nur" schwul. Verständlich darum Stimmen wie: "Bei diesem Titel habe ich mir etwas mehr erwartet, als hauptsächlich Erfahrungsberichte von einem schwulen Mann zu lesen." Tatsächlich ist Schropp, bekannt als Moderator von "Promi Big Brother", kein fordernder, provokanter Systemsprenger.
Buchcover zu "Queer as F*ck" von Jochen Schropp 
Pflichtlektüre für alle, die Verantwortung tragen: "Queer as F*ck" von Jochen Schropp.© Edition Michael Fischer
Sein kurzes, freundliches Buch kann Leuten ab ca. 14 Mut machen. Vor allem aber holt es alle ab, die bisher wenig über queere Schamgefühle, queere Sichtbarkeit und Marginalisierung hören wollten: Ein gesucht ruhiger, rationaler und sprachlich gut vorbereiteter, angenehmer, meist privilegierter schwuler Mann erklärt sich (und größer: erklärt queere Kämpfe gegen Normen) in einem Tonfall, den auch ein queerfeindlicher Gemeinschaftskundelehrer, ein zynischer Pfarrer oder ein ablehnender Vater nicht verteufeln oder verlachen kann. Ein sehr kontrolliertes Buch - für queeres Publikum wohl etwas langweilig. Doch eine Pflichtlektüre für alle, die Macht ausüben über oder Verantwortung tragen für queere Menschen.

Jochen Schropp (mit Interviews mit Miriam Junge): "Queer as F*ck. Selbstbestimmung, Sex und Sichtbarkeit - und warum ihr nicht so tolerant seid, wie ihr denkt"
Edition Michael Fischer, Igling 2022
192 Seiten, 18 Euro


"Love on Tour" von Vanessa und Ina

"Ab 14", empfiehlt die Altersangabe auf Amazon - doch schon jedes zwölfjährige Kind sollte dieses freundliche, stärkende Buch in jeder Schul- und Klassenbibliothek ohne Angst ausleihen und lesen dürfen. Die Autorinnen (und Ehefrauen) Vanessa und Ina, geboren 1996, kennen sich nur vage aus der Schulzeit in Brandenburg. Warum sie erst mit ca. 20 sicher werden, dass sie lesbisch sind und heimlich ineinander verliebt, schreiben sie in kurzen, griffigen und präzisen Kapiteln und wechselnden Absätzen. Die Fragebögen zum Selbst-Ausfüllen, die Playlists, Backrezepte, Achtsamkeits-Übungen und in Pastell gedruckten "Glaub an dich!"-Zitate wenden sich an die ca. drei Millionen Fans, die sich Vanessa und Ina auf TikTok und Instagram erarbeiteten.
Buchcover zu "Together on Tour" und "Love on Tour" von Coupleontour
Chronik einer lesbischen Liebe: "Together on Tour" und "Love on Tour".© Community Editions
Wer mit 24, 25 während Corona-Lockdowns studiert und eine Abschlussarbeit schreibt, eine Hochzeit plant, einem Millionenpublikum online die Dynamiken von Queerfeindlichkeit erklärt (und tanzt, sich schminkt, albert!) und dazu einen kindgerechten, doch niemals zu seichten Sachbuch-Bestseller liefert über persönliche Ängste, Unsicherheiten und Zu-Sich-Selbst-Finden, darf nirgends übersehen oder abgetan werden - weil das Buchcover zartrosa ist oder ein paar Selfies normiert, konventionell wirken.

Coupleontour - Vanessa und Ina: "Love on Tour. Ein Buch übers Suchen, Finden und Festhalten"
Community Editions, Köln 2021
192 Seiten, 16 Euro


 "Together on Tour" von Vanessa und Ina

In einem zweiten Buch der selben Länge, schon ein Jahr später erschienen, beschreiben die lesbischen Influencerinnen den Stress und die Nervosität vor ihrer Hochzeit, die Einzelheiten der schicken Feier und die verschiedenen Möglichkeiten, als lesbisches Paar schwanger zu werden. Der Fokus in Buch zwei ist also enger, spezifischer: Auch die Entbindung wird nicht geschildert, da sie erst nach Drucklegung stattfand. Ältere Promis, besonders auch mit Therapieerfahrung, sprechen oft über Tiefpunkte, fatale Dynamik oder politische Wut und Enttäuschung.
Vanessa und Ina aber wollen stärkend, aufgeräumt, wohlwollend klingen - und wenn sie als Tiefpunkt meist nur benennen, erschöpft zu sein, aufgeregt oder schüchtern, fehlt oft der Verweis auf strukturelle Gründe: dass eine Gesellschaft queere Menschen, junge Menschen, Frauen erschöpft, aufregt und einschüchtert. Mehr Mut zur Wut! Mitte Juli 2022 brachte Vanessa das Kind zur Welt. Doch kurz davor teilte sie mit, dass Ina im Krankenhaus liegt: Ina hatte einen Schlaganfall. Inas Stil, Inas Sich-Sichtbar-Machen und Inas Aufklärungsarbeit kann man Respekt erweisen, indem man diese Bücher liest. Und besonders an Schulen weitergibt!

Coupleontour - Vanessa und Ina: "Together on Tour. Eine regenbogenbunte Reise"
Community Editions, Köln 2022
192 Seiten, 16 Euro


"Ich bin Hanna" von Hanna Secret

Vier Geschwister, wenig Geld, Erwachsenwerden in der niedersächsischen Provinz: Hanna ist Pflegekraft, arbeitet mit Jugendlichen in der Psychiatrie und zieht sich auf einem Bezahl-Portal daheim vor der Webcam aus. Wenn Kunden private Sessions buchen, um ihr Anweisungen zu geben, verdient das Portal besonders viel an ihr und auch die selbstgedrehten Amateur-Pornos, manchmal mit ihrem Freund, lohnen sich. Nach etwa zwei Jahren in der Branche (und einer Trennung) ist Hanna, geboren 1996, gut im Geschäft und fühlt sich selbstbestimmt und finanziell frei.
Buchcover zu "Ich bin Hanna" von Hanna Secret
"Ich bin Hanna" von Hanna Secret verspricht "exklusive Einblicke" - und Sextipps.© Riva Verlag
Dabei ist "Ich bin Hanna" keine Geschichte einer sexuellen Selbstbefreiung: Als tüchtige, nüchterne und nie sehr fame-fixierte Unternehmerin freut sich Hanna recht neoliberal über die Karriere und das Geld und will vor allem den Fans und der Kundschaft konkret auf die Sprünge helfen: mit simplen Sex-Tipps, mit (oft flapsig-herablassenden) Beschreibungen einzelner Fetische ihrer Kunden und - man hört ihre Erschöpfung - mit vielen Erklärungen, wo Sexismus, dreiste Forderungen und eine "Die Frau als Ware"-Mentalität verletzen. Dass Hanna den virtuellen Freiern oft ähnlich viel Struktur und klare Ansagen geben muss wie den Jugendlichen in der Psychiatrie, ist Kernaussage des sympathischen, schwungvollen Buchs: "Sex work is work", und oft auch Benimm-Schule und Sorge-Arbeit.

Hanna Secret (mit Nicola Fischer): "Ich bin Hanna. Exklusive Einblicke in mein Leben als Webcam-Girl und Porno-Star"
Riva Verlag, München 2022
256 Seiten, 18 Euro 


"Size egal" von Caro Matzko und Tanja Marfo

Matzko, eine brünette Münchner Journalistin (geb. 1979), moderierte für Arte - doch wird in anderen Jobs, mit neuer blonder Frisur und zunehmendem Alter immer herablassender behandelt. Marfo ist Body-Positivity-Aktivistin und Mode-Unternehmerin in Hamburg (geb. 1980) und spricht über ihre Binge-Eating-Attacken: heimliches Essen als Trost. Beide sind Mütter, arbeiten Rollenbilder, Kindheitsmuster auf und zeigen, wie sie bis heute oft gegen ihre Körper kämpfen. Marfo hat Angst, dass ihre Instagram-"Sisters" sie fallen lassen, falls sie zu viel Gewicht verliert oder über Optimierung spricht, hadert also sehr mit (ihre Worte) "Filterblasen" und "Opferrollen".
Buchcover zu "Size egal" von Caro Matzko und Tanja Marfo
Authentischer Dialog über Körperzwänge: "Size egal" von Caro Matzko und Tanja Marfo.© Lübbe Life
Matzko liest die Tagebücher neu, die sie, wegen Anorexie stationär behandelt, Mitte der 90er-Jahre schrieb - und erklärt toll persönlich, was Wertungen von Familie und Gesellschaft mit ihr anrichten. Nur der Schreibstil von "Size egal" polarisiert: Mätzchen-Matzko hat, uffi, nen Clown gefrühstückt und lässt - hoppsala! - mit zwinkizwonki gestrigen "Dad Jokes" und Gefloskel Dampf ab. Wortwitz, der auflockern soll, wirkt an den meisten Stellen störend bis verloren. Authentisch und wichtig ist dieser schnelle Dialog über Körper-Zwänge trotzdem.

Caro Matzko, Tanja Marfo: "Size egal. Dein Selbstbewusstsein kann nicht groß genug sein"
Lübbe Life, Köln 2020
256 Seiten, 16,90 Euro

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