Holocaust und Kolonialismus

Parallelen treffen sich in der Unendlichkeit

34:17 Minuten
Ein Palästinenser schleudert einen Stein über die iraelische Grenze, 25.08.2021.
Protest an der israelischen Grenze © Getty Images / SOPA Images/ Mahmoud Issa
Natan Sznaider im Gespräch mit René Aguigah · 15.05.2022
Audio herunterladen
Wie stehen Holocaust und Kolonialismus zueinander? Sind Vergleiche angemessen oder befeuern sie einen Konkurrenzkampf um Erinnerung und Aufarbeitung? Der israelische Soziologe Natan Sznaider bringt eine neue Perspektive in die Debatte.
Im Streit um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe entlud sich vor zwei Jahren ein seit Längerem schwelender Konflikt der Erinnerungskultur. Mbembe, ein profilierter Denker des Postkolonialismus, wurde mit Vorwürfen konfrontiert, er relativiere den Holocaust, bestreite das Existenzrecht Israels und argumentiere antisemitisch. Der Angegriffene wies die Anschuldigungen zurück.

Erinnerung an zwei Menschheitsverbrechen

Aber was bedeutet die Aufarbeitung des Kolonialismus für die Erinnerung an den Holocaust? Welchen Platz sollten diesen beiden Menschheitsverbrechen im öffentlichen Gedenken einnehmen? Und treten sie dabei in ein Konkurrenzverhältnis?

Hören Sie hier das knapp einstündige Gespräch mit Natan Sznaider in voller Länge .

Der israelische Soziologe Natan Sznaider nimmt eine neue Perspektive auf das komplexe Verhältnis von Shoah und Kolonialismus ein. In seinem Buch "Fluchtpunkte der Erinnerung" zeichnet er die Vorgeschichte der Debatte nach. Er erinnert an die Bedeutung der Dreyfus-Affäre für das Streben nach einem jüdischen Nationalstaat und lässt zahlreiche Stimmen zu Wort kommen, die das Nachdenken über Holocaust und Kolonialgeschichte bis heute geprägt haben, darunter Claude Lanzmann und Frantz Fanon, Hannah Arendt und Edward Said.

Eine Frage des eigenen Standpunkts

Hannah Arendt ist die Denkerin, die Sznaider dabei am stärksten begleitet. Im Anschluss an sie versucht er stets, die richtige Balance zu finden: Einerseits geht es ihm darum, die Phänomene jeweils aus ihrem eigenen historischen Kontext heraus zu verstehen, andererseits will er ihre darüber hinausreichende Bedeutung für die Menschheit erfassen.
Arendt habe den Holocaust nicht umsonst als "ein Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Körper" bezeichnet, betont Sznaider. Den eigenen Standpunkt, von dem aus sie schrieb, habe sie dabei nie aus dem Blick verloren: Arendt sei immer als jüdische Denkerin erkennbar geblieben, sagt Sznaider, und habe sich gegen das gestemmt, "was sie die 'Soße des Allgemeinen' nannte".

Verständnis über Trennendes hinweg

Diese Haltung erscheint Sznaider deshalb so wichtig, weil in den gegenwärtigen Debatten über Kolonialismus und Holocaust, Rassismus und Antisemitismus oft der Eindruck entstehe, dass die Erfahrungen und Interessen spezifischer Gruppen mit einem Anspruch auf universale Geltung in Konflikt gerieten. Sznaider meint dagegen: "Es ist kein Konflikt des Universalismus und Partikularismus, es ist ein Konflikt zwischen verschiedenen Formen des partikularen Denkens."
Sznaider ist davon überzeugt, "dass Gewalterfahrungen uns nicht miteinander verbinden, sondern uns in erster Linie trennen". Bildlich verstanden sollten Holocaust und Kolonialismus daher so betrachtet werden, "dass sie auf parallelen Schienen laufen und sich in der Unendlichkeit treffen, in der Fantasie, in der Illusion". Wenn man es so sehe, sagt Sznaider, können man sich auch "eine gewisse Bewegungsfreiheit erlauben und vom eigenen Standpunkt aus andere Standpunkte betrachten, sie verstehen aber nicht einnehmen, sondern wieder auf den eigenen Standpunkt zurückkommen."

Ein Plädoyer für Ambivalenz

Mit Blick auf die aktuelle Debatte zeigt sich Sznaider verärgert darüber, dass Juden im gegenwärtigen postkolonialen Diskurs, gerade wenn es um Israel und den Zionismus gehe, "als weiße Europäer, die nichtweiße Menschen im Nahen Osten unterdrücken" dargestellt würden. Dabei gerate jede Ambivalenz aus dem Blick.
Natürlich treffe es zu, dass "Juden, die in Israel politisch souverän sind", dort staatliche Gewalt ausübten und dass dabei auch manche Ungerechtigkeit verübt werde, so Sznaider. Es werde aber völlig ausgeblendet, dass historisch betrachtet "dieses zionistische Projekt selbst ein antikolonialistisches Emanzipationsprojekt war".

Natan Sznaider: "Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus"
Carl Hanser Verlag, München 2022
256 Seiten, 24 Euro

(fka)
Mehr zum Thema