Im Beziehungsgeflecht zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem

Von Ruth Jung · 06.12.2011
Er stammte aus Martinique und kämpfte als 18-Jähriger in der französischen Armee gegen Nazi-Deutschland. Einen Schritt, den er schnell bereute und der seinen weiteren Lebensweg prägte. Der Rassismus in der französischen Gesellschaft und die Folgen der Kolonisation beschäftigten den Psychiater, Schriftsteller und Revolutionär Frantz Fanon bis an sein Lebensende.
"Vor einem Jahr habe ich Fort-de-France verlassen. Warum? Um ein falsches Ideal zu verteidigen. Ich zweifle an allem."

Frantz Fanon 1944 in einem Brief an seine Eltern. Achtzehnjährig hatte er heimlich seine Heimat Martinique verlassen, um als Freiwilliger im Mutterland Frankreich gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen.

"Falls ich nicht zurückkehren sollte, sagt nie: Er ist für die gute Sache gestorben, denn diese falsche Ideologie soll uns nicht mehr zum Vorbild dienen. Ich habe mich geirrt! Nichts hier rechtfertigt meine plötzliche Entscheidung, mich zum Verteidiger der Interessen des Grundbesitzers zu machen, wenn er selbst darauf pfeift."

Die Enttäuschung über den französischen Rassismus prägte das Leben des am 20. Juli 1925 in Fort-de-France geborenen Psychiaters, Schriftstellers und Revolutionärs. Zurück auf Martinique holt Fanon das Abitur nach und engagiert sich für die Kandidatur seines Lehrers Aimé Césaire zur französischen Nationalversammlung. In Lyon studiert Fanon Medizin, er spezialisiert sich auf Psychiatrie und beschäftigt sich mit Literatur und Philosophie. In einem ersten Text beschreibt der junge Arzt die psychischen Leiden von algerischen Arbeitern. Jahrzehnte vor einer Psychiatriereform entwickelt Fanon Anfang der 1950er-Jahre neue Methoden im Umgang mit den Kranken. Ihre Leiden seien eine Folge der Kolonisation, die beide deformiere: den Kolonisierten und den Kolonisator.

"Der Neger ist nicht. Ebenso wenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann","

schreibt er in "Peau noire, masques blancs" - übersetzt: "Schwarze Haut, weiße Masken"-, erschienen 1952. Fanon analysiert das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem: Die Leugnung des Rassismus mache krank. Diesen Befund findet er bestätigt in der psychiatrischen Anstalt von Blida in Algerien, wo er 1953 die Stelle eines Chefarztes antritt. Dort lernte ihn die Psychoanalytikerin Fanon-Biografin Alice Cherki kennen:

""Rückblickend denke ich, dass das Zusammentreffen mit Fanon kein Zufall war, für mich war es eine echte Begegnung. Ich war auf der Suche, es ging darum, die Entfremdung in allen Lebensbereichen aufzudecken und herauszufinden, wie die Bedingungen beschaffen sein müssten, damit Menschen sich erfahren und sich kollektiv dieser Entfremdung bewusst werden könnten, um sie zu überwinden."

Seit 1830 stand Algerien unter französischer Herrschaft. Der Ruf nach Unabhängigkeit wurde immer lauter, erinnert sich Alice Cherki:

"Meine Zusammenarbeit mit Fanon war eine zweifache, die psychiatrische und psychologische Arbeit mit den Geisteskranken und den unter Neurosen leidenden Menschen, um die man sich kümmern musste. Und die politische Reflexion, das praktische politische Engagement, das Schreiben von Artikeln."

Fanon arbeitete mit Folteropfern und mit denjenigen, die gefoltert hatten. Für ihn gab es nur einen Ausweg aus den Zwängen des Kolonialismus: die Revolution. Er schloss sich der algerischen Befreiungsbewegung an. 1956 hielt er eine Rede über Rassismus und Kultur auf dem "Ersten Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler" in Paris. Nachdem der Krieg 1956 offen ausgebrochen war, wiesen die französischen Behörden Fanon aus Algerien aus. Im Exil in Tunis wurde er 1957 Mitglied der provisorischen algerischen Regierung. 1959 erschien sein zweites, in Frankreich sofort verbotenes Buch: Aspekte der algerischen Revolution.

"Vergeuden wir keine Zeit mit leerem Gerede oder abstoßenden Versuchen der Anpassung. Wenden wir uns ab von diesem Europa, das endlos von der Würde des Menschen redet und sie doch überall mit Füßen zertritt. Wenn wir wirklich wollen, dass die Menschheit auch nur einen Millimeter auf einem besseren Weg vorankommt, als jenem, den Europa beschritten hat, müssen wir erfinderisch sein und neue Entdeckungen machen",

resümiert Frantz Fanon in "Les Damnés de la terre" - übersetzt: "Die Verdammten dieser Erde". Das nur wenige Tage vor seinem Tod am 6. Dezember 1961 erschienene Buch ist das Vermächtnis eines zornigen schwarzen Denkers und Revolutionärs. Die Unabhängigkeit war erreicht, doch die Folgen des Kolonialismus seien nur zu überwinden, wenn es den Afrikaner gelänge, aus eigener Kraft eine Zivilgesellschaft aufzubauen.