Aleida Assmann und Susan Neiman zur Causa Mbembe

Die Welt reparieren, ohne zu relativieren

49:57 Minuten
Der Schriftsteller Achille Mbembe 2015 in der Ludwig-Maximilians-Universität in München
Kritiker kolonialer Verhältnisse: der in Kamerun geborene Philosoph Achille Mbembe. © dpa / picture alliance / Matthias Balk
Moderation: René Aguigah · 26.04.2020
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Die Kritik an Achille Mbembe hält an. Argumentiert er antisemitisch? Relativiert der Philosoph den Holocaust? Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und die Philosophin Susan Neiman diskutieren die Vorwürfe.
Achille Mbembe, dem in Südafrika lebenden Philosophen und Vordenker der Dekolonisierung, werden seit Wochen schwere Vorwürfe gemacht: In seinen Schriften finde sich Antisemitismus, er relativiere den Holocaust, er bestreite das Existenzrecht Israels, so die Kritik des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein. Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte deshalb, dass die Intendantin der Ruhrtriennale Stefanie Carp abgesetzt wird. Mbembe sollte das Festival, das unterdessen wegen der Coronapandemie abgesagt wurde, mit einer Rede eröffnen.

Kein Angriff auf das Existenzrecht Israels

Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige unter Achille Mbembes Leserinnen und Lesern, die die genannten Vorwürfe falsch finden. Darunter der deutsche Historiker Andreas Eckert, er sieht Anzeichen einer "Hexenjagd". Mbembe selbst wies die Vorwürfe im Interview mit Deutschlandfunk Kultur zurück: Seine Kritik an "Völkerrechtsverletzungen oder Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten" und die daraus resultierende Weigerung, mit Institutionen zusammenzuarbeiten, die darin verstrickt seien, habe weder etwas mit Antisemitismus zu tun, noch damit, das Existenzrecht Israels zu bestreiten.
Wie blicken zwei namhafte Intellektuelle, die sich seit Jahrzehnten intensiv auch mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und den deutsch-israelischen Beziehungen beschäftigen, auf diese Debatte? Aleida Assmann verfolgt seit den 1980er-Jahren die Entwicklung der deutschen und internationalen Erinnerungskultur. Susan Neiman, geboren in den USA, auch israelische Staatsbürgerin, leitet seit 20 Jahren das Potsdamer Einstein Forum. In ihrem aktuellen Buch "Von den Deutschen lernen" empfiehlt sie die deutsche Gedenkkultur als Vorbild für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten.

Aufarbeitung des Bösen in der eigenen Geschichte

Auch für Neiman stellte sich die Frage, an der sich der Streit um Mbembe entzündet hat: Wie den Genozid an den europäischen Juden zu anderen Menschheitsverbrechen ins Verhältnis setzen, ohne seine Einzigartigkeit zu bestreiten? Ihr Interesse habe allerdings nicht darin gelegen, "zwei verschiedene Formen des Bösen zu vergleichen", sagt Susan Neiman, "sondern zwei verschiedene Formen der Vergangenheitsaufarbeitung – beziehungsweise das Fehlen daran." Vom Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus könne die amerikanische Gesellschaft lernen, so Neiman.
Achille Mbembes Lebensthema ist das Studium des Kolonialismus und seiner Nachwirkungen. Er wolle verstehen, "wie unsere moderne Welt wurde, was sie ist, und wie wir sie gemeinsam reparieren können", so Mbembe im Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Dabei zieht er auch historische Vergleiche. In seinem Buch "Politik der Feindschaft" findet sich folgende Stelle:
"Im kolonialen Kontext war die permanente Trennungs- und damit Differenzierungsarbeit zum Teil die Folge der von den Kolonisten empfundenen Angst vor Vernichtung. Man war zwar zahlenmäßig unterlegen, aber mit gewaltigen Zerstörungsmitteln ausgestattet und lebte dennoch ständig mit der beängstigenden Vorstellung, ringsum von bösen Objekten umzingelt zu sein, die das eigene Überleben und die eigene Existenz bedrohten – von der einheimischen Bevölkerung, von wilden Tieren, Reptilien, Mikroben, Mücken, der Natur, dem Klima, von Krankheiten oder sogar von Hexern. Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns."
Susan Neiman, amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums
Die amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums Susan Neiman© Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB
Relativiert Achille Mbembe damit den Holocaust? Es sei "zumindest missverständlich", so kritisierte der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein, wenn Mbembe das Apartheidsystem in Südafrika und den Genozid an Juden in Europa unmittelbar hintereinander erwähne und darauf hinweise, "dass beides ‚emblematische Manifestationen einer Trennungsfantasie‘ seien." Klein verstand das als einen Hinweis auf gemeinsame "ideologische Hintergründe" und kam zu dem Schluss: "Für mich sind diese Sätze auch als Relativierung des Holocaust zu deuten."
Susan Neiman ist anderer Ansicht: "Eine Relativierung? Nein, überhaupt nicht." Allerdings könne sie verstehen, dass man in Deutschland "heutzutage allergisch darauf reagiert, dass der Holocaust mit irgendetwas anderem verglichen wird." Schließlich hätten die Nationalsozialisten selbst versucht, "ihre Verbrechen zu entlasten, indem sie zum Beispiel auf den Genozid an den Native Americans hingewiesen haben." Entscheidend sei für sie deshalb immer die Frage: "Wozu wird verglichen?" Wenn der Vergleich auf Entlastung von eigener Verantwortung abziele, sei er "natürlich sehr fragwürdig", so Neiman. "Aber ein Vergleich ist immer möglich, ohne dass es gleich ein Relativieren ist."

Holocaust als Teil der deutschen Identität

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte hält Aleida Assmann das "Instrument des Vergleichens" für unverzichtbar. "Wir müssen vergleichen können", sagt Assmann, "wir dürfen nicht gleichsetzen." Felix Klein machte in seiner Kritik an Mbembe geltend, "die Einzigartigkeit des Holocaust" sei "auch ein wichtiges Narrativ für die Erinnerungskultur in Deutschland". Klein berief sich auf den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck: "Der Holocaust und die Auseinandersetzung damit gehören zur deutschen Identität."
Inzwischen sei die deutsche Erinnerungskultur, die in den letzten Jahrzehnten aus dieser Auseinandersetzung erwuchs, zum Teil einer transnationalen Erinnerungsgemeinschaft geworden, sagt Aleida Assmann. Mit der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) hat sie auch einen institutionellen Rahmen gefunden. Die Einzigartigkeit des Holocaust sei dort eine allgemein geteilte Grundüberzeugung, so Assmann. Fragen der historischen Vergleichbarkeit stellten sich heute jedoch schon vor dem Horizont postkolonialer Perspektiven neu.
Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, aufgenommen am 25.01.2015 in Köln.
Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Der von dem US-amerikanischen Historiker und Holocaustforscher Michael Rothberg ins Spiel gebrachte Begriff des "Multidirectional Memory" stehe für "eine ganz wichtige, befreiende Entwicklung", sagt Aleida Assmann. Indem weitere historische Menschheitsverbrechen, etwa aus der Kolonialzeit oder der Geschichte der Sklaverei mit in den Blick rückten, biete sich eine Chance für ein erweitertes Verständnis:
"Nicht jeder ist für seine eigenen Traumata zuständig, allein und ausschließlich – dann kommt man nämlich sehr schnell in ein Konkurrenzverhältnis oder einen Wettbewerb um den Opferstatus –, sondern das alles entlastet sich in dem Moment, wo ein Ereignis auch ein Schlüsselereignis für die anderen wird, (...) wo sich die eine Erfahrung durch eine andere bestätigen lässt. Das ist ein ganz wichtiger Schritt gewesen, der weggeführt hat von der Idee, dass man ein Ereignis historisch besetzt und besitzt."

Stimmen aus der ehemals kolonisierten Welt

Darauf hebt auch Achille Mbembe ab, wenn er betont, "eine angemessene Kritik von Kolonialismus und Rassismus" habe "nichts mit der Relativierung des Holocaust zu tun." Vielmehr sei diese Kritik selbst "ein Schlüsselelement im Kampf gegen Antisemitismus." Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur bezeichnet Mbembe den globalen Kampf gegen Antisemitismus als "eine gemeinsame Aufgabe":
"Ich anerkenne die Rolle, die Deutschland in diesem Kampf einnimmt, ausdrücklich auch die Aufgabe von Herrn Felix Klein. Aber man sollte diesen Kampf nicht verwechseln mit einem Angriff gegen bestimmte Traditionen kritischen Denkens und fortschrittlicher Politik. Vielleicht sollten wir uns fragen, was es bedeutet, wenn Stimmen aus den ehemals kolonisierten Welten in zumindest leichtsinniger Weise verdächtigt werden? Wäre es im Interesse Deutschlands, wenn diese Stimmen und auch meine nicht mehr in Deutschland zur Sprache kommen könnten?"

"Der größte moralische Skandal unserer Zeit"

Als Kritiker kolonialer Verhältnisse in Geschichte und Gegenwart hat Achille Mbembe sich mit deutlichen Worten nie zurückgehalten. In einem Text namens "On Palestine", dem Vorwort zu einem 2015 erschienenen Band mit dem Titel "Apartheid Israel", wurde er allerdings scharf. "Israel hat das Recht, in Frieden zu leben", heißt es dort, und dann: "Die Besetzung Palästinas ist der größte moralische Skandal unserer Zeit", heißt es dort, "eine der entmenschlichendsten Torturen des Jahrhunderts, in das wir gerade eingetreten sind, und der größte Akt der Feigheit des letzten halben Jahrhunderts. Und da alles, was sie zu bieten bereit sind, ein Kampf bis zum Schluss ist, da sie bereit sind, den ganzen Weg zu gehen – Gemetzel, Zerstörung, schrittweise Ausrottung –, ist die Zeit für eine globale Isolation gekommen."
Der 2005 von der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit publizierte 3-D-Test für Antisemitismus nennt drei Kriterien, anhand derer sich legitime Kritik an der Politik Israels von antisemitischen Attacken unterscheiden lassen soll: Wenn Aussagen Israel dämonisieren, delegitimieren oder doppelte Standards anlegen, seien sie antisemitisch. Zeugt Mbembes Wort vom "größten moralischen Skandal unserer Zeit" von fehlendem Augenmaß? Dämonisiert er Israel damit? Legt er doppelte Standards an?
"Ich finde es übertrieben, aber ich finde es nicht unerhört", sagt Susan Neiman. Bei der Besatzungspolitik handle es sich sicherlich um einen Skandal, "und das sagen auch meine israelischen Freunde". Andererseits würde Neiman nicht so weit gehen, die "globale Isolation" von Israel zu fordern. Es sei "sehr problematisch", hier nach Boykott zu rufen, während Menschenrechtsverletzungen etwa in China und Saudi-Arabien kaum kritisiert würden, da es sich um gewichtige Wirtschaftspartner handle. Gleichzeitig sei es an der Zeit, "Israel schärfer zu kritisieren, gerade in Deutschland", sagt Neiman.

Ein Milieu von Misstrauen und Verdacht

Gegenwärtig sei es sehr schwierig geworden, einen konstruktiven kritischen Diskurs zu führen, beklagt Aleida Assmann, zumal seitdem die Internationale Allianz IHRA ihre Definition von Antisemitismus im Jahr 2016 erweitert habe: Sie gelte nun ausdrücklich auch für verbale Angriffe auf den Staat Israel als jüdisches Kollektiv. Unsicherheit und ein allgemeines Misstrauen seien die Folge:
"Jetzt müssen wir jede Formulierung auf die Waagschale legen und uns jetzt auch zu Achille Mbembe ein Urteil machen: Ist er gerecht oder ist er gerichtet? Das ist ein Milieu, in dem Intellektuelle eigentlich überhaupt nicht arbeiten können."
Den Schuldspruch gegen Mbembe könne sie nicht mittragen, sagt Aleida Assmann. Aber vor allem drängt sie darauf, noch einmal zu überdenken, woran genau wir unser Verständnis von Antisemitismus knüpfen und wie eng oder weit wir es fassen. Diejenigen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen, hätten natürlich eine rote Linie überschritten und äußerten sich eindeutig antisemitisch, so Assmann. "Aber Kritiker, die eine Verantwortung für das Land empfinden und an neuen Perspektiven arbeiten, sollten nicht dauernd unter Verdacht gestellt werden."
(fka)
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