Natan Sznaider: „Fluchtpunkte der Erinnerung“

Lust auf Komplikationen

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Das Buchcover zeigt Autorennamen und Buchtitel auf zwei Farbflächen.
© Hanser Verlag

Nathan Sznaider

Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und KolonialismusCarl Hanser Verlag, München 2022

256 Seiten

24,00 Euro

Von Arno Orzessek  · 14.02.2022
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War die Vernichtung der Juden Europas ein einmaliges Verbrechen? Oder gehört der Holocaust in eine lange Reihe von Verbrechen? Die Debatte ist ultrahocherhitzt. Natan Sznaider durchleuchtet mit kühlem Kopf die Hintergründe.
Ist der Holocaust einzigartig? Oder ist er letztlich ein kolonialistisches Verbrechen unter anderen? Niemand weiß, wie viel den Ermordeten die Antwort auf solche Fragen bedeuten würde. Doch unter den Lebenden, vor allem den Nachfahren der Überlebenden, herrscht ein oft unversöhnlicher Streit, der in Deutschland 2020 in der „Mbembe-Affäre“ kulminierte.
Natan Sznaider erinnert kurz daran: Der kamerunische Historiker Achille Mbembe sollte die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten, wurde aber nach Protesten und Antisemitismus-Vorwürfen ausgeladen. Was folgte, adelten einige zum „zweiten Historikerstreit“. Denn es ging und geht um Eminentes.

Unversöhnlicher Streit

Eingedenk des Holocausts gilt das Existenzrecht Israels in Deutschland als „Staatsräson“. Für Postkolonialisten und viele Menschen im Nahen Osten ist Israel jedoch selbst ein kolonialistischer Staat. Sind sie deshalb Antisemiten?
Ist man umgekehrt ein Rassist, wenn man trotz der gigantischen Opferzahlen des Kolonialismus an der Singularität des Holocaust festhält? Und wie viel Partikularismus von Juden wie von Schwarzen lässt sich rechtfertigen, ohne den Universalismus zu verraten – falls denn der Universalismus eine gute Idee ist?

Imposanter Durchblick

Sicher ist: Die Globalisierung verändert die nationalen Erinnerungskulturen, und schon allein aufgrund der Zuwanderung kann die postkolonialistische Debatte in Deutschland nicht nicht geführt werden.
Klugerweise gießt Sznaider mit seinem „Essay“ kein weiteres Benzin ins Feuer. Kühl im Kopf, packend im Stil und voller Lust auf theoretische Komplikationen, durchleuchtet er die Wurzeln und Hintergründe der heutigen Debatte, angefangen mit der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Namensdichte ist imposant, Sznaiders Durchblick noch imposanter. Am Beispiel etwa von Karl Mannheim, Claude Lanzmann und Albert Memmi stellt er jüdische Stand- und Streitpunkte zu Emanzipation, Assimilation und Zionismus vor.
Genauso präzise liest er die Schriften von Frantz Fannon, dem schwarzen Vordenker der Entkolonialisierung, der wie Lanzmann Gewalt als Mittel der Befreiung gerechtfertigt hat. Edward Saids einflussreiche Behauptung in dem Werk "Orientalismus", wissenschaftliches Wissen um den Orient sei per se imperalistisch und kolonialistisch, lehnt Sznaider ab.
Er lässt sich ständig von Hannah Arendt begleiten und bestreitet, dass es bei ihr, wie Postkolonialisten unterstellen, eine „kolonialistische Wende“ gegeben hat. Im Übrigen misstraut er der „multidirektionalen Erinnerung“ (M. Rothberg), nach der sich Opfer-Erfahrungen gegenseitig stabilisieren.

Dichotomien aufbrechen

Und die Pointe in dem fesselnden Gewimmel von Gedanken und Theorien, Thesen und Urteilen? Sznaiders Kritik am Postkolonialismus ist profund, aber verständnisvoll. Er akzeptiert, dass der Holocaust in kolonialistischen Strukturen verstanden werden kann, aber er missbilligt die Tendenz, in Dichotomien zu denken, „in Kolonisierende und Kolonisierte, in Weiße und Nichtweiße, (…) in Täter und Opfer“.
Für ihn steht fest, dass „jüdische Erfahrungen eine andere Geschichte (erzählen), nämlich die Geschichte des 'Sowohl-als-auch', eine Geschichte, die diese Dichotomien aufbricht.“ Oder kurz: „Nicht Kolonialismus oder Holocaust, sondern beides.“

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