Herta Müller: "Der Beamte sagte"

Die Ausweitung der Metapher

06:17 Minuten
Cover von Herta Müllers Erzählband "Der Beamte sagte" auf orangem Hintergrund.
In "Der Beamte sagte" zeigt Herta Müller Szenen aus einem deutschen Auffanglager. © Hanser Literaturverlage / Deutschlandradio
Von Hans von Trotha · 23.08.2021
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Seit den 80ern collagiert Herta Müller aus dem Zusammenhang geschnittene Bilder und Worte auf Karten zu neuem Sinn. Diese Technik hat sie jetzt auch bei ihrer Erzählung "Der Beamte sagte" angewendet. Die thematisiert Lagerbürokratie und Heimweh.
Herta Müllers Bücher fügen sich in die Architektur eines Gesamtwerks: Thematisch wie sprachlich sind es Mosaiksteine eines größeren Zusammenhangs, zu dessen Merkmalen eine ausgeprägte Metaphorik gehört. Keine Metapher beansprucht bei Müller inzwischen so viel Raum wie die Collage. Ja, bisweilen bemächtigt sich die Collage weit über die Verwendung als Metapher hinaus der Bücher der Nobelpreisträgerin bis hin zum Erscheinungsbild.

Bilder von Worten, Bilder von Bildern

Am Anfang, so die Legende der Autorin, war die Unzufriedenheit mit der Qualität von Postkarten. Sie nahm Blankokarten, die bis heute das Format vorgeben, und begann, sie mit Bildern, mit Worten und mit Bildern von Worten zu bekleben. Müller collagiert aus Druck-Erzeugnissen aller Art ausgeschnittene Worte und Bilder zu neuen Zusammenhängen.
So entstehen Texte, die auch Bilder sind, Bilder von Texten, die gleichzeitig betrachtet werden wollen wie Bilder und gelesen wie Texte. Diese Überschreitung passt zu Müllers Ausdehnung des Gebrauchs von Metaphern. Wo endet das Bild? Wo beginnt die Bedeutung? Was ist ein Text?

Fest verfugtes Werk

Seit den Achtzigerjahren collagiert Herta Müller aus dem Zusammenhang geschnittene Bilder und Worte auf Karten zu neuem Sinn. Daraus wurden Bücher. Konnte man diese zunächst noch mit Kunstkatalogen verwechseln, folgten bald extra für ein Buch hergestellte Collagen.
Zuletzt erschien der Band "Im Heimweh ist ein blauer Saal" mit geklebten Gedichten. In einem von ihnen heißt es:
"Der Beamte sagte
Heimweh lädt Schuld auf sich".
In der großen Collage des Müllerschen Gesamtwerks ist das neue Buch fest mit dem letzten verfugt: Der eine Vers avanciert zum Titel und markiert eines von Müllers Sujets, eine bedrohliche absurde Lagerbürokratie; der andere ruft das Müllersche Thema der an Heimweh leidenden Emigrantin auf.
Es ist ein Beamter in einem Auffanglager, der hier spricht. Erzählung ist als Genrebezeichnung auf das Buch gedruckt, das auf den ersten Blick wieder wie ein Katalog von Collagen daherkommen mag. Aber Herta Müllers Leserinnen und Leser wissen längst, dass sie auch als Gedichte zu lesen sind. Auch die Collagen dieses Buchs könnten jeweils für sich stehen, sie lassen sich voraussetzungslos auch einzeln lesen.

Collage mit Sogwirkung

Doch in der Abfolge erzählen sie zudem eine Geschichte, eine typische Herta-Müller-Geschichte vom Heimweh, von der Absurdität eines Lagers, von der Fremdheit. Herta Müller illustriert ihre Obsessionen. Sie setzt ihren illustrierten Text aus Bildern und Bildern von Worten zusammen, die zuvor in andere Zusammenhänge gehörten.
Das entwickelt einen eigenen Sog, insbesondere, wenn die zu neuem Sinn collagierten Bilder von Worten ganz zu dem Text werden, zu denen die Autorin sie zusammensetzt, und dieser seine literarischen Bilder von Einsamkeit, Verlorenheit, Ohnmacht, Sehnsucht entfalten kann.
Nicht nur die Abgeschlossenheit der einzelnen Buchseiten (die sich so auch heimlich aus der Geschichte stehlen und als Gedicht für sich selbst bestehen könnten) steht dem allerdings bisweilen entgegen, sondern auch die Tatsache, dass Müller den ausgeschnittenen Bildern von Worten auf jeder Seite auch ein ausgeschnittenes Bild hinzufügt, das einen Gegenstand zeigt oder andeutet, etwa eine leere Tasche, wenn da gerade von einer leeren Tasche die Rede ist.
So erweitert Müller einerseits den Raum der Erzählung, entzieht die Collagen aber andererseits auch wieder dem narrativen Zusammenhang, der Verbindung also zu jener Kunstform, zu der die Collagen in diesem Buch erstmals verwoben werden: der Erzählung.

Herta Müller: "Der Beamte sagte"
Erzählung
Carl Hanser Verlag, München 2021
162 Seiten, 24 Euro

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