Nobelpreisträgerin Herta Müller

"Kunst muss wehtun"

Nobelpreisträgerin Herta Müller zu Gast bei Deutschlandradio Kultur
Nobelpreisträgerin Herta Müller zu Gast bei Deutschlandradio Kultur © Foto: Oranus Mahmoodi
Moderation: Jörg Magenau · 18.12.2014
In ihrem neuen Buch erzählt die Schriftstellerin Herta Müller, wie sie ihre Kindheit und Jugend in der rumänischen Diktatur erlebte und überlebte. Ohne diese Erfahrungen wäre sie "bestimmt was anderes geworden", sagte die Literaturnobelpreisträgerin bei uns im Interview.
"Mein Vaterland war ein Apfelkern" – so heißt das neue autobiografische Buch der Schriftstellerin Herta Müller. Sie erzählt darin von ihrer Kindheit in einem Dorf, ihrer Jugend in einer rumänischen Stadt und dem Überleben in der Diktatur. Ohne die Diktaturerfahrung wäre sie "bestimmt was anderes geworden", sagt Herta Müller. "Ich glaube, sehr viele Leute wurden in Diktaturen etwas, (...) was sie nicht geworden wären, wenn es die Diktaturen nicht gegeben hätte."
Ihre Kindheit auf dem Dorf beschreibt sie als eine finstere Zeit, in der der Stalinismus herrschte: "In einem überschaubaren Milieu, wo jeder jeden kannte, hat man ganz genau gewusst, wie viele Leute im Lager sind, wie viele Leute sind verschleppt. Der Krieg war noch nicht lange zu Ende, die ganzen Vermissten waren noch nicht zurückgekehrt, man hat immer noch gehofft."
Reime gegen die Angst
Als Kind sei sie oft gewarnt worden, Obstkerne seien giftig. "Besonders von grünen Äpfeln soll man die Kerne nicht essen. Dort ist der Tod drin, hieß es."
Sie habe aber gern Apfelkerne gegessen. Ein Apfelkern sei "dunkel und spitz und stechend, und er ist bitter". Insofern habe sich ihr dieses Bild aufgedrängt, wenn sie zu Verhören gegangen sei. Um sich zu beschäftigen oder um die Angst im Kopf zu beruhigen, habe sie auf dem Weg "so vor mich hingereimt: Kern und Stern und das sind alles diese dummen, eigentlich dummen Zufälle, die sich dann ergeben".
Lesen Sie hier das vollständige Gespräch mit Herta Müller:
Jörg Magenau: Ich freue mich sehr, nun die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in der "Lesart" zu begrüßen, herzlich willkommen, Frau Müller!
Herta Müller: Guten Tag!
Magenau: Sie haben gerade ein neues Buch vorgelegt mit dem wunderschönen Titel "Mein Vaterland war ein Apfelkern". Es ist ein langes Gespräch, das Sie mit der Lektorin Angelika Klammer über Ihr Leben und das Schreiben geführt haben. Wie ist es dazu gekommen und zur Idee, ein Gesprächsbuch zu machen? Das ist ja nicht ganz normal.
Müller: Der Vorschlag kam von außen natürlich, selbst kommt man ja nicht auf so eine Idee. Und ich glaube, es kam im Grunde vom Verlag. Die wollten zu meinem 60. Geburtstag was machen. Und dann war das aber schon vorbei, weil ich in der Zeit ziemlich krank war, und das ganze Jahr war dann so dahin, und dann hat man das nachgeholt. Und die Angelika Klammer kannte ich von einem langen Gespräch über die "Atemschaukel" und das war für mich damals das intensivste Gespräch, das ich zu dem Buch hatte. Insofern habe ich das sehr gerne angenommen, dass sie das macht.
Magenau: Sie haben das Gespräch praktisch fortgesetzt. Aber wie wird dann aus einem Gespräch wirklich so ein Text? Ich habe ihn als einen sehr poetischen, dichten Text empfunden, das ist ja ein Schritt vom gesprochenen Wort zum geschriebenen zurück.
Müller: Die Angelika Klammer hat das Gespräch natürlich aufgezeichnet und dann hat sie es aufgeschrieben. Und als ich es gelesen habe, hatte ich wieder mal diese erschreckende Erfahrung, dass mündlich und schriftlich überhaupt nicht geht. Wenn man etwas druckt, dann taugt das Mündliche nicht. Dann habe ich das Ganze vom ersten bis zum letzten Satz noch einmal geschrieben. Das heißt, ich habe inhaltlich nichts verändert, aber ich habe die Art der Sätze verändert oder Dinge vertieft. Wenn ich dachte, es ist etwas redundant, habe ich es herausgenommen. Und so hat sich das ergeben, weil ich gesagt habe, wenn man ein Buch liest, muss man ein Buch lesen. Und ein Buch ist kein mündliches Gespräch, sondern im Mündlichen geht das, was im Schriftlichen nicht gut daherkommt. Und dadurch kommt es zu diesen poetischeren Sachen. Denn im Mündlichen, aus dem Stegreif hätte ich das wahrscheinlich nicht so gesagt.
Magenau: Kommt Ihnen das Gesprochene auch fremd vor, wenn Sie es dann wieder so vor sich sehen, wenn es von außen dann zurückfällt auf Sie?
Müller: Sehr. Und ich habe immer ein Problem damit, meine eigene Stimme zu ertragen und die ganzen Drucksereien, wenn man nicht fließend spricht, sondern im Nachdenken die Dinge verzögert oder die Sätze nicht zu Ende sagt oder wiederholt. Und das alles ist für mich ziemlich unangenehm, wenn ich es anhören muss.
Magenau: Der Titel "Mein Vaterland war ein Apfelkern", das könnte fast auch ein Titel eines Ihrer Gedichtbände sein. Was ist damit gemeint, ist das Vaterland die Poesie?
Müller: Na, es ist eigentlich ein Apfelkern. Ich habe immer auch schon als Kind gerne Apfelkerne gegessen, und außerdem gab es immer diese Warnung: Apfelkerne, Kerne insgesamt, auch von Aprikosen oder von anderem Obst, sind giftig. Man soll keine Kerne essen. Besonders von grünen Äpfeln soll man die Kerne nicht essen, dort ist der Tod drin, hieß es. Wenn der Apfel normal gereift ist, ist der Apfelkern dunkel und spitz und stechend und er ist bitter. Insofern hat sich dieses Bild mir manchmal aufgedrängt, wenn ich gerade zu Verhören ging. Weil ich mal diesen Reim angefangen habe, um mich zu beschäftigen oder um die Angst im Kopf zu beruhigen auf dem Weg zum Verhör, da habe ich so vor mich hingereimt. Und Kern und Stern, das sind alles diese eigentlich dummen Zufälle, die sich dann ergeben.
Magenau: Das ist ja auch ein sehr schönes Bild, also außen der saftige Apfel und in der Mitte das bittere Tödliche.
Müller: Und das Gehäuse ist ja auch schon sehr hart und fast knorpelig, ein Apfelgehäuse und in dem Gehäuse die Kerne. Mir hat man als Kind immer Angst vorm Kern, vor den Kernen gemacht, Apfelkerne sind giftig.
Magenau: Was Sie erzählen in dem Buch, ist ja zunächst einmal eine Biografie, die von der Kindheit in einem Dorf im Banat über die Erfahrungen mit der Ceausescu-Diktatur bis zur Ankunft im Westen führt. Viele einzelne Bilder und Motive waren mir auch schon bekannt aus Ihren Erzählungen, aus Ihren Romanen. Hatten Sie da keine Angst beim Sprechen, beim Reden über Ihr Leben, dass Sie jetzt sozusagen das Poetische zurückziehen ins banale Biografische und dadurch auch was verloren gehen könnte?
Müller: Na ja, ich weiß es nicht, ein mündliches Gespräch ist ja etwas ganz Natürliches. Und ich habe dann mit der Angelika Klammer zu tun gehabt. Mir war gar nicht dieser Anspruch ständig präsent im Kopf, dass ich jetzt was ganz Großartiges mache, sondern es waren einfach die Fragen da und ich habe auf sie geantwortet. Es war gar nicht so ständig mir bewusst, dass das jetzt ein Buch wird, sondern es war einfach eine sehr angenehme und auch aufregende Gesprächssituation.
Und was heißt banal, banalisiert? Ich meine, natürlich, das war auch ein Grund, weshalb ich so vieles umgeschrieben habe, weil ich gesagt habe, viele Dinge sind schon bekannt. Und wenn ich das aus dem Leben erzähle, ich will das inhaltlich nicht verändern, aber ich kann es belegen mit anderen Beispielen, mit anderen Situationen, die ich noch nicht erzählt habe. Und dazu brauchte ich schon auch die Zeit, das aufzuschreiben. Ich bin halt gewöhnt, es mit mir selber auszumachen. Ich meine, als Autorin ist man ja mit sich selbst und nicht als öffentliche Person oder als Gesprächspartnerin da, sondern es ist eine Sache des Alleinseins, das Schreiben. Als ich mit mir allein wieder am Schreibtisch war, sind mir wieder diese anderen Beispiele eingefallen, die ich jetzt anführen könnte, um diese Situation, von der ich gerade gesprochen habe, zu belegen.
Magenau: Sie fangen an mit der Kindheitswelt auf dem Dorf, das hat mich sehr, sehr beeindruckt, wie Sie das beschreiben, diese Dorfwelt mit der Gewalt auch der Mutter, die Härte der Natur, die Sommerhitze, der Durst, wenn Sie da auf den Wiesen standen und die Kühe gehütet haben. Und die Erfahrung, wie Sie dann schreiben, einen Körper zu haben, der dafür nicht gemacht ist, der ja auch ein Stück Natur ist, und da vielleicht dann schon wieder der Apfelkern, den man in sich selber spürt. Dass Sie Natur so unsentimental beschreiben als etwas Bedrohliches, Fremdes, das Ihnen gegenüberstand, woher kommt das?
Müller: Das kommt vielleicht, ich glaube, einerseits aus dem Bauernblick. Bauern sehen die Natur natürlich nicht als schön. Landschaft ist für Bauern einfach vorhanden und sie ist ihr Arbeitsplatz. In der Landschaft müssen sie das Feld bearbeiten, das Brot, das sie brauchen um zu essen, sie müssen die Sachen säen und ernten. Und insofern sind sie dieser Landschaft auch ausgeliefert. Denn durch Boykott – Stürme oder Dürre oder Regen, Überschwemmungen – kann sie alles kaputt machen. Insofern hat ein Bauer, glaube ich, per se keinen romantischen Blick auf die Natur, das ist das eine.
Und das andere ist: Ich habe mich vor ihr nicht buchstäblich gefürchtet, aber es war ein Gefühl der Verlorenheit. Und das Gefühl der Verlorenheit, es macht ja Angst. Und die Angst macht große Augen. Und dadurch habe ich das Ganze dann auch wahrscheinlich poetisiert, unwissend oder ahnungslos. Und ich hatte keine Bücher, keine Märchenbücher. Ich glaube, alle Kinder denken surreal, das ist einfach so, das ist dieser noch nicht auf die Realität geprüfte Verstand des Kindes, der die Dinge noch in seiner Art sieht und wo die Sachen noch nicht bemessen sind von der Norm.
Es ist ein Stück Unschuld. Ob die gut oder schlecht ist, bleibt dahingestellt, aber in dieser Unschuld habe ich natürlich diese Landschaft dann auch, habe ich ihr alle möglichen Dinge zugesprochen. Und mich selber fühlte ich in dieser Landschaft richtig gefährdet. Ich habe auch nicht verstanden, dass die Leute sich diese Landschaft so bedingungslos zur Verfügung stellen.
Magenau: Dieses Gefühl, dass da einem etwas entgegensteht, war das etwas, was Sie so geprägt hat, dass es dann auch später Ihr politisches, gesellschaftliches Leben ja im Grunde auch strukturiert hat, dass Ihnen die Gesellschaft auf selbe Weise entgegenkam wie als Kind die Natur?
Müller: Ja, das wahrscheinlich schon. Und ich glaube sogar auch, dass schon damals im Dorf, das waren die 50er-Jahre, '53 bin ich geboren, das war Stalinismus, da war Stalin gerade gestorben, '53 ist Stalin gestorben. Aber der Stalinismus hat ja damit nicht aufgehört. Und es war eine sehr finstere Zeit. Überhaupt in einem überschaubaren Milieu, wo jeder jeden kannte, hat man ganz genau gewusst, wie viele Leute im Lager sind, Leute sind verschleppt, der Krieg war noch nicht lange zu Ende. Die ganzen Vermissten waren noch nicht zurückgekehrt, man hat immer noch gehofft, andere Leute waren im Lager, im Gefängnis.
Im Gemütszustand des Dorfes hat sich auch die politische Situation gespiegelt. Und ich habe das als Kind wahrscheinlich gespürt, es hat jeder gespürt und ich habe es von den Erwachsenen gespürt und es hat sich vielleicht dadurch auch noch mal der Blick verändert auch auf Landschaft oder auf Verlorenheit. Und was man dann so erzählte. Und gerade das Erzählen, das man nicht versteht inhaltlich, das hat ja eine besondere Wirkung. Man versteht die Angst, die darin sitzt. Man versteht den Inhalt nicht, aber die darin sitzende Angst, die versteht man.
Magenau: Sie hören die "Lesart" im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Herta Müller über ihren neuen Band "Mein Vaterland ist ein Apfelkern". Das ist nicht einfach nur ein Erinnerungsbuch, sondern Sie entfalten darin auch – wir haben es gerade schon gehört – eine Poetik und erzählen von Ihrem Verhältnis zur Sprache immer mit, zu den Worten, zu den Dingen. Und da spielt auch sehr stark die Zweisprachigkeit eine Rolle. Sie haben zuerst Deutsch gesprochen in Ihrer Familie, in Ihrem Dorf, dann Rumänisch gelernt, als Sie in die Stadt kamen. Und diese Doppeltheit, die hat Sie ja auch als Autorin wohl sehr, sehr stark geprägt, oder?
Müller: Ja. Es waren eigentlich drei Sprachen, denn die erste Sprache war ja der Dialekt. Und der Dialekt aus dem Dorf, der ist sehr anders als das Hochdeutsche. Insofern war das Hochdeutsche schon das erste Problem. Schon im Kindergarten und dann in der Schule. Und dann gab es natürlich nachher, mit 15, in der Stadt das Rumänische, das rundherum überall war. Und ich habe also in der Schule ganz lange Probleme gehabt. Wenn ich Hochdeutsch reden oder schreiben musste, schlug mir immer der Dialekt rein und dafür wurde ich bestraft, also wurden Punkte abgezogen, schlechte Noten, Vorwürfe. Dann kam das Rumänische.
Und insofern habe ich oft den Eindruck gehabt, die Sprache gehört einem gar nicht. Und darum haben diese Sprachen vielleicht auch so stark gewirkt auf mich. Weil ich immer dachte, man hat sie im Grunde immer nur geliehen. Es ist nicht etwas Gegebenes, etwas Sicheres da, auf das man sich verlassen könnte. Und alles, was dazukam, hat das andere, das ich wusste, natürlich auch erweitert, aber es hat es auch infrage gestellt. Insofern, ich war dann schon mit 15 in der Stadt, dann hatte ich schon angefangen zu lesen, als ich dann so allmählich Rumänisch lernte, habe ich dann auch immer natürlich überprüft – oder es hat sich von selbst überprüft –, Redewendungen, der ganze Aberglaube, Dinge, die man sich so merkt, die man mit sich trägt aus dem Alltag.
Das Rumänische ist unglaublich schön. Die rumänischen Sprachbilder, diese Poesie, wie die ganzen Redewendungen ins Poetische abdrehen, und die Lieder, dann die Musik, die authentische Folklore, großartig. Das war für mich großartige Lyrik, als ich die entdeckt habe. Und insofern habe ich dann oft gedacht, wie kommt das eigentlich? Dann habe ich auch gesehen, jede dieser beiden Sprachen hat total andere Augen. Die eine sieht etwas, es ist nicht ein anderes Wort, es ist ein ganz anderer Blick auf die Welt!
Die einen sagen, der Fasan ist ein Verlierer. Das sagen die Rumänen, weil der Fasan beim Jagen keine Chance hat, weil er nicht gut fliegen kann. Und bei Leuten, die jagen lernen, geht man zuerst Fasane schießen. Und die Deutschen sagen, er ist ein Prahler. Oder das Maiglöckchen, sagen die Deutschen, ist ein Glöckchen, die Rumänen sagen, es ist eine kleine Träne. Dann habe ich immer gedacht: Die kleine Träne ist viel schöner. Oder der Fasan, dieser rumänische Fasan leuchtet mir ein, der ist ein Verlierer. Wir sind doch alle Verlierer, um uns herum, was ist denn los?
Und diese Redewendung des Rumänischen, der Mensch ist ein großer Fasan, habe ich auch mal als Buchtitel benutzt. Insofern hat das eine immer das andere infrage gestellt und es entstanden zwei Blicke. Jenseits des Vokabulars entstanden zwei Stationen für alles, was ich neu kennenlernte. Und das hat natürlich das alles verändert.
Magenau: Die Schönheit der rumänischen Sprache, sagen Sie, und Schönheit ist ja auch ein großes Thema in diesem Buch. Sie schreiben zum Beispiel, dass es beim Schreiben um die erfundene Wahrheit der Sprache ging, in der das Schöne wehtut. Schönheit zu verkoppeln mit Schmerz, ist, glaube ich, fast schon der Apfelkern Ihrer Poetik, kann man das so sagen?
Müller: Ja. Aber ich glaube, das ist etwas ganz Banales. Wenn wir von Kunst reden, egal, was das bedeutet, ich weiß immer nicht, was das bedeutet, das Wort kommt auf so hohen Stelzen daher, dass ich mich immer gar nicht traue, das Wort zu gebrauchen, weil ich nicht weiß, ab wann und bis wann und wie wird und ist es und ... Ich meine, in der Absicht vorher wird es sowieso nichts, glaube ich. Entweder es ergibt sich Kunst, oder es misslingt. Und dadurch scheint mir diese Absicht, das zu machen, schon arrogant. Und ich meine, es muss ja wehtun. Ich glaube, alles, was wir sagen – es gefällt uns, es beeindruckt uns, ob das ein Film ist oder Musik oder bildende Kunst oder ein literarischer Text –, irgendwie tut es doch weh, wenn es uns gefällt. Und wenn es ästhetisch gelungen ist, wenn es dieses Unaussprechliche bekommt, das mehr ist als der Inhalt, den man wiederholen könnte, dann tut es auch weh. Schönheit und Wehtun, für mich gehört das zusammen, ja.
Magenau: Schönheit war aber etwas, was gerade in der Diktatur für Sie sehr wichtig war, es den Machthabern entgegenzustellen, als auch eigenen Freiraum. Warum ist Schönheit in der sozialistischen Welt etwas gewesen, was als gefährlich galt, was eigentlich geradezu systematisch zerstört und verhindert wurde?
Müller: Vielleicht wirklich dadurch, was ich vorher auch dachte, dass es zufällig entsteht. Insofern hat die Schönheit, diese, die wir jetzt meinen, in der Kunst etwas Unberechenbares. Und sie trägt weiter, als man inhaltlich folgen kann. Und das sind natürlich Unsicherheiten für Leute, für Diktaturen, die alles kontrollieren wollen und auch müssen, um sich ihrer sicher zu sein, müssen sie alles unter Kontrolle haben.
Magenau: Schönheit ist Raum, den man nicht kontrollieren kann, das Schöne?
Müller: Ich glaube, ein Stück schon auch. Oder man kann ihn nicht willentlich reproduzieren. Ideologie reproduziert ja auch willentlich, und zwar wortwörtlich. Und sinnentleert und schablonenhaft. Und das alles ist Schönheit nicht. In so vielen Dimensionen, wenn wir von Schönheit reden, ist es genau das Gegenteil von Ideologie, in allen ihren Dimensionen. Und dadurch hat Diktatur davor Angst gehabt, und hat sie auch nicht ertragen. Und es war Feindseligkeit der Schönheit gegenüber. Und dann, das habe ich auch immer gedacht, dass Schönheit vertilgt wird von der Armut. Und Armut war auch ein Plan in der Diktatur, denn mit Armut kann man Leute auch kleinhalten. Man kann sie reduzieren, buchstäblich reduzieren, den Alltag reduzieren. Man kann sie auf Beschäftigungen zurückzwingen, die das Überleben notwendig machen und sonst nichts mehr erlauben. Und all das war in der Diktatur, dadurch war Armut auch eine Seite der Ideologie, die man richtig planmäßig eingesetzt hat.
Magenau: Die Diktatur, der äußere Druck war für Sie immer, glaube ich, auch ein wichtiger Schreibantrieb, sich zu wehren. Andererseits haben Sie ja ein ganz starkes Verhältnis zu den Worten, zur Sprache. Ich frage mich immer: Wenn es diesen Druck von außen nicht gegeben hätte, wären Sie zum Schreiben gekommen? Wie wären Sie zum Schreiben gekommen?
Müller: Das ist alles Spekulation, wenn ich jetzt etwas rekonstruiere, was nicht gewesen ist. Aber ich glaube schon, die Beschäftigung im Tal als Kind mit den Pflanzen, dieses Sich-verloren-Fühlen oder sich hingestellt fühlen zum Fraß, oder die Vorstellung, dass die Erde dich frisst oder dass die Pflanzen alle herumlaufen und sich bewegen und sich besuchen und dass der Körper der ganzen Umgebung nicht gewachsen ist. Ich weiß es nicht, aber ich hätte natürlich ganz andere Themen gehabt. Vielleicht hätte ich auch nicht geschrieben, man muss ja auch nicht schreiben. Ich glaube, sehr viele Leute wurden in Diktaturen etwas, was sie ohne Diktaturen nicht geworden wären. Wenn es die Diktaturen nicht gegeben hätte, hätten sie andere Berufe ergreifen können. Viele Berufe gab es gar nicht. Also, Journalist werden hatte zum Beispiel keinen Sinn in der Diktatur, es gab nur die genormte Öffentlichkeit und die war gleichgeschaltet. Und das war kein Journalismus. Das ging von Literaturkritik über Rundfunk und Fernsehen und Zeitung. Filmemacher, alle möglichen Berufe, die mit freiem Denken zu tun haben, hatten in der Diktatur überhaupt keinen Sinn.
Wenn ich hier sehe, wie viele Leute in diese Berufe eintreten, viele Menschen haben das in der Diktatur dann versucht, indem sie selber schreiben oder selber malen. Und es wurde dann natürlich Kompensation für etwas anderes. Und viele, die dann auch in den Westen kamen, sind sofort Journalisten geworden, weil es plötzlich einen Sinn hatte und weil es plötzlich ein eigenes Denken voraussetzte, wenn man Journalismus betrieb. Insofern, ich wäre bestimmt was anderes geworden.
Magenau: Sie sind zum Glück bei der Literatur geblieben und nicht Journalistin geworden. Frau Müller, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und für den Besuch in der "Lesart".
Müller: Ja, bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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