Gunilla Palmstierna-Weiss: "Eine europäische Frau"
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Der unbedingte Wille zur Kunst
06:27 Minuten
Gunilla Palmstierna-Weiss
Aus dem Schwedischen von Jana Hallberg
Eine europäische FrauVerbrecher, Berlin 2022600 Seiten
39,00 Euro
Geraspelte Möhren mit Samuel Beckett und Welterfolge mit Ehemann Peter Weiss: In ihrer Biografie entwirft Gunilla Palmstierna-Weiss ein dichtes Zeitpanorama. Auch ihren Kampf um Anerkennung dokumentiert die Bühnenbildnerin.
Gunilla Palmstierna-Weiss stand immer ein wenig im Schatten ihres Mannes, des Schriftstellers Peter Weiss. Von 1964 bis zu seinem Tod im Jahr 1982 war sie mit ihm verheiratet, kennenglernt hatten sie sich schon 1952. Da war sie 24 und er 36 Jahre alt. Gunilla Palmstierna-Weiss, Bildhauerin, Keramikerin, Bühnenbildnerin und Autorin, nennt ihre Autobiografie „Eine europäische Frau“. 94 ist sie inzwischen und kann auf ein ganzes Jahrhundert zurückblicken.
„Europäisch“ ist ihr Leben von Anfang an. Geboren in Lausanne, während einer Reise der Mutter, wuchs sie in Schweden, Deutschland und Holland auf, wo sie die Bombardierung von Rotterdam miterlebte. Zahlreiche Reisen führten sie in die ganze Welt, nach Marokko, Mexiko, Vietnam und in die USA. Dort hielt sie sich auf, als die Beziehung zu Weiss 1959 in einer Krise steckte. Doch sie kehrte zurück, weil sie sich zu sehr als Europäerin fühlte, und das hieß für sie vor allem: als selbstbewusste Frau, die nicht auf Ehe und Dienstbarkeit reduziert werden wollte.
Als Frau in der Männerdomäne
Immer wieder geht es in diesem Buch um diesen Kampf, als Künstlerin wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Der Beruf des Bühnenbildners war damals eine männliche Domäne. Der Verleger Siegfried Unseld taucht als einer der vielen Machos auf, der sie eine „Bettschönheit“ nennt und verlangt, sie solle zu Gunsten ihres Mannes als Künstlerin zurücktreten. Auf dem Buch, das sie mit Weiss zusammen über eine Reise durch Vietnam im Jahr 1968 publizierte, wurde nur sein Name genannt.
So war es immer wieder, und deshalb ist es nicht ganz ohne Tragik, wenn nun auch ihre Autobiografie belegt, dass die mit Abstand interessanteste Zeit ihres Lebens die drei Jahrzehnte mit Weiss und mit all den Projekten gewesen sind, die sie gemeinsam verwirklichten, allen voran Weiss‘ Theaterstücke über Jean Paul Marat und den Marquis des Sade sowie das Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“, die zu Welterfolgen wurden.
Die ersten 170 Seiten behandeln die Vor- und Familiengeschichte, angefangen mit dem Urgroßvater, einem jüdischen Buchdrucker und Migranten, einem Großvater, der zum Entsetzen seiner Familie zur Sozialdemokratie konvertierte und Botschafter in London wurde und der Geschichte der Eltern, die sich trennten. Gunilla war zusammen mit ihrem Bruder ein Scheidungskind, das vaterlos aufwuchs und viel herumgereicht wurde. Die Mutter war an Psychoanalyse interessiert – sie studierte unter anderem bei Freud in Wien –, war als Mutter aber denkbar ungeeignet. In den 1950er-Jahren nahm sie sich das Leben.
Gespräche als Bindemittel
Erst nach der Begegnung mit Peter Weiss wird aus dem Memoir eine Künstler- und Paar-Biografie, in der es immer auch um die Frage geht, was die beiden Protagonisten über alle Schwierigkeiten und vorübergehende Trennungen hinweg zusammengehalten hat. Peter Weiss galt als notorischer Verführer, der zahlreiche Affären pflegte und sich damit immer wieder ins Chaos stürzte. Doch die gemeinsamen Diskussionen, das Gespräch über die Arbeit und das gegenseitige Interesse daran waren stärker.
Vor allem mit der Schilderung der 60er- und 70er-Jahre gelingt Palmstierna-Weiss ein dichtes Zeitpanorama, in dem die Politisierung von Peter Weiss hin zum unorthodoxen Marxisten nachvollziehbar wird. Es kommt zu Begegnungen mit John Cage und Robert Rauschenberg, mit Anais Nïn und Samuel Beckett in Paris, der von seiner Frau geraspelte Möhren serviert bekam, weil er offenbar nichts Anderes aß.
Die Gruppe 47 und die Autoren des Suhrkamp-Verlages haben ihre Aufritte und schließlich der schwierige Freund Ingmar Bergman, mit dem Gunilla Palmstierna dann vor allem nach Weiss‘ Tod am Theater zusammengearbeitet hat. Auch die 68er-Zeit – Ulrike Meinhof gehörte zum Bekanntenkreis – wird intensiv miterlebt, mit Sympathie, aber auch mit der Distanz der in Schweden lebenden Außenstehenden.
Woher kommt künstlerische Kreativität?
Im letzten Gespräch mit Peter Weiss, nur wenige Stunden vor seinem plötzlichen Herztod, ging es um die Frage, die ihr ganzes Leben prägte: Was ist und woher kommt die künstlerische Kreativität?
Es gäbe, sagt Gunilla Palmstierna-Weiss dazu, einen schwarzen Abgrund in uns allen, das Nichts der Vergeblichkeit und des Todes womöglich, das sich immer nur für kurze Zeit im schöpferischen Prozess überwinden lässt. Das hält nie an, muss deshalb immer weitergetrieben werden. „Für Peter war es ein ständiger Nahkampf mit diesem Abgrund“, schreibt sie. Das Politische wird in diesem existentiellen Prozess zur Nebensache. Imponierend ist der unbedingte Wille zur Kunst, der beide verbunden hat und der in diesem Buch zu einer starken, schönen Kraft wird, genug für zwei Leben.